Predigt im Festgottesdienst zum 100. Jubiläum der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf (2.Timotheus 1,7)

Wolfgang Huber

I.

Durch ein Bibelwort, das mich an das schwungvolle Läuten der drei Kirchenglocken im Turm der Pauluskirche erinnert, verknüpfen wir heute, am Erntedankfest des Jahres 2005, drei Ereignisse miteinander. Eingebettet in eine Vielfalt eindrücklicher Veranstaltungen begehen wir mit diesem Festgottesdienst den 100. Geburtstag der Pauluskirche. Eine mir besonders nahe stehende Zehlendorferin feiert heute, obwohl Jahrzehnte jünger, ebenfalls einen runden Geburtstag. Und die im Altarraum aufgestellten Erntedankgaben erinnern uns daran, dass wir unser Leben in unvorstellbarer Tiefe der Güte Gottes verdanken. Ein Dreiklang, wie er nur selten zu feiern ist. Hören wir also auf den Bibelvers aus dem ersten Kapitel des  2.Timotheusbriefes, der sich in besonderer Weise mit dem Läuten der drei Glocken der Pauluskirche verbindet:

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Ein Abschied wird mit diesen Worten vollzogen und ein Neubeginn. Einfach ist der Abschied, dreifach der Neubeginn. Der Abschied gilt dem Geist der Furcht, der zurückblickenden Verzagtheit, der ängstlichen Abwehr der Zukunft. Der dreifache Neubeginn aber hat schlichte und klare Namen: Kraft, Liebe, Besonnenheit.

Uns steht vor Augen, von wessen Geist da die Rede ist. Der Geist Jesu wird aufgerufen, der auch der Geist Gottes ist; denn es ist der eine Geist, der von dem Vater und dem Sohn ausgeht. Kraft, Liebe, Besonnenheit: man kann sie dem Weg Jesu abspüren. Eine Kraft, die bis in Schwachheit und Leiden reicht, eine Liebe, die niemanden ausschließt, auch die Verachteten nicht, eine Besonnenheit, die für jeden einen Weg sucht: das ist der Geist Jesu, der auch der Geist seiner Kirche sein soll. In diesem Geist blicken wir zurück und schauen wir nach vorn.

II.

Wir blicken zurück: Am 1.Oktober des Jahres 1905 feierte die Evangelische Gemeinde in Zehlendorf bei Berlin das Erntedankfest auf besondere Weise. Man beging die Kirchweihe der „Neuen Evangelischen Kirche“, der heutigen Pauluskirche. Nachdem die hohen geistlichen und weltlichen Herrschaften mit ihren Automobilen und Droschken wieder abgereist waren, konnten die Zehlendorfer ihre neue Kirche besichtigen. Sie wurde gleich an diesem Tag für die erste Taufe und die erste Trauung genutzt.

So konnten die Glocken dieser Kirche, die schon ein Jahr zuvor gegossen worden waren, gleich mehrfach läuten. Und bei diesem Läuten schwang immer die Mahnung mit: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Aber mehrfach verstummten die Glocken der Pauluskirche. Mehrfach, 1917 und dann wieder 1942, wurden sie zu „kriegswichtigen Zwecken“, wie man zu sagen pflegte, konfisziert. Als man nach dem Ersten Weltkrieg 1924 neue Glocken gießen lassen konnte, gab man einer der drei neuen Glocken die Inschrift mit: „Deutsch bis in den Tod hinein“.

Ein Nachklang war das, ein sehr problematischer dazu, auf die Welt der Urgroßeltern, die frohen Mutes die Pauluskirche in Zehlendorf erbaut hatten. Diese Welt gilt vielen als versunken. Damals ordnete sich der Neubau der Zehlendorfer Kirche ein in die insgesamt rasante und dynamische Entwicklung des Deutschen Reiches. Zehlendorf entwickelte sich zu einer Villenkolonie des prosperierenden Berlin. Optimismus und Zuversicht prägten die Gesellschaft. Die deutsche Wirtschaft war weltweit führend und für ihre innovativen Leistungen berühmt. Sie kooperierte eng mit den Hochschulen, die damals international als vorbildlich galten. Deutschland meldete weltweit die meisten Patente an und stellte zahlreiche Nobelpreisträger. In der internationalen Wissenschaftsgemeinde galt die deutsche Sprache als Zugangsbedingung für eine erfolgreiche Laufbahn.

Stolz und Schmach dieser hundert Jahre sind mit der Pauluskirche verbunden wie mit anderen Kirchengebäuden auch. Als im November 1938 die Synagogen brannten, reagierte Pfarrer Heyden im Sonntagsgottesdienst unserer Kirche. Was für ein furchtbares Fanal sei es doch, dass die Gotteshäuser unserer Mitmenschen in Brand gesteckt würden! Augenzeugen berichten, dass daraufhin Mitglieder der Gemeinde empört aufstanden und den Gottesdienst unter Protest verließen. Der Pfarrer wurde am nächsten Morgen verhaftet. Nur dem Einsatz von Admiral Canaris hatte er es zu verdanken, dass er schnell wieder entlassen wurde. Canaris, mit dem Dietrich Bonhoeffer eng zusammenarbeitete, und Pfarrer Heyden gelang es gemeinsam, dreizehn Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens zu retten und ihnen die Ausreise zu ermöglichen. Die unvergessene Marga Meusel gehört ebenso zu denen, die in furchtsamer Zeit Zeichen setzten für den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Der Blick zurück erinnert uns an manche Aufbrüche. Unvergessen ist, wie im Zehlendorfer Pfarrhaus Kirchengeschichte geschrieben wurde. Zum 7. Mai 1945, noch vor dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs, lud Otto Dibelius ins Zehlendorfer Pfarrhaus ein, um mit Vertretern der Kirchenleitung den Neubeginn des kirchlichen Lebens zu beraten. Bei Pfarrer Otto Dilschneider war man zu Gast. An diesem Tag wurde die Berlin-Brandenburgische Landeskirche nach der Zeit der Zerstörung neu ins Leben gerufen. Offiziell ließ sich Dibelius bestätigen, dass er den Titel des Bischofs führen durfte. Sofort nach dieser Versammlung brach er in Lutherrock, Gelehrtenhut und silbernem Kreuz vor der Brust auf, um sich dem sowjetischen Stadtkommandanten als  „Metropolit von Berlin“ vorzustellen. Generaloberst Bessarin erkannte ihn wenige Stunden vor der deutschen Kapitulation als solchen an. Das beherzte Auftreten des „Bischofs“ und „Metropoliten“ linderte in den ersten Monaten nach Kriegsende manche Not. Otto Dibelius handelte entschlossen. Im Rückblick staunt man, mit Respekt. Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

III.

Auch Glocken sind Boten dieses Geistes. Wenn uns doch die Furcht überwältigt, wenn uns Kleinglaube und Resignation überkommen, dann sind die Glocken mit ihrer unbescheidenen Klarheit und ihrem eindeutigen Hinweis auf das Evangelium die beste Therapie. Sie können nicht leisetreten. Sie vermögen nur den in Schwingung versetzten Ruf des Evangeliums hinaus zu rufen.

Die Herkunft des deutschen Wortes Glocke ist umstritten. Die lateinische Bezeichnung für Glocke ist interessanter Weise das Wort signum. Mit „Zeichen“ geben wir dieses Wort wieder. Ernst Lange, der charismatische Berliner Theologe, der vor mehr als dreißig Jahren einige Zeit hier ganz in der Nähe an der Kirchlichen Hochschule unterrichtete, sagte einmal in einem Wortspiel: „Ein Christ resigniert nicht, er prosigniert.“ Er nimmt das eigene Zeichen, das signum, nicht zurück, er setzt es nach vorn. Er lässt sich nicht von der Furcht überwältigen. Er lässt sich auf den Geist ein, den Gott uns geben will. Er verankert sich in ihm: dem Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Prosignieren: das eigene Zeichen nach vorn setzen, dem Ruf der Glocke folgen – das bestimmt unseren Blick nach vorn. Es ist ein Blick, der nicht von Kleinmut bestimmt ist, sondern von einer Kraft, auf die wir vertrauen, weil sie nicht von uns selber stammt. Wir vertrauen darauf, dass das Evangelium seine Kraft auch im 21. Jahrhundert beweisen will. Es ist ein Blick, der nicht von Rivalität bestimmt ist, sondern von Liebe. Wir wissen, dass kein Mensch für sich allein lebt. Keiner ist sich selbst der Nächste. Wir alle sind darauf angewiesen, dass wir einander zu Nächsten werden. Es ist ein Blick, der nicht von Maßlosigkeit bestimmt ist, sondern der besonnen Maß hält. Das Erntedankfest erinnert uns an den Dank für die Gaben unseres Lebens. Es ist an uns, diese Gaben zu bewahren und sorgsam mit ihnen umzugehen. Kraft, Liebe und Besonnenheit sind gute Wegweiser für ein neues Jahrhundert der Pauluskirche wie für ein neues Lebensjahrzehnt.

Timotheus heißt der Adressat der Mahnung zum Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. „Gottesfurcht“, so kann man diesen Namen übersetzen. Die Freiheit von der Furcht wird ihm zugetraut, weil er Gott die Ehre gibt. Er wird uns als ein Mensch geschildert, der aus seinem Glauben heraus Verantwortung übernimmt. Man kann das die Timotheus-Tugend nennen. Sie ist für das Leben jedes Christen und jeder christlichen Gemeinde wichtig. In der Pauluskirchengemeinde tragen glücklicher Weise zahlreiche Gemeindeglieder dazu bei, dass die Tugend des Timotheus nicht ausstirbt. Menschen müssen Türen in der Gemeinde offen halten, damit andere kommen. Die Menschen am Rand wollen wir für das Evangelium gewinnen – mit Kraft, Liebe und Besonnenheit.

IV.

Eine kleine Szene zum Schluss. Eine Frau sitzt auf den Stufen der Empore. Sie gehört zu den Chorsängerinnen. Im Moment musizieren andere und sie sitzt zwischen ihnen. Bedrückung liegt wie ein zu enger Panzer auf ihrer Seele. Ihr selbst ist das kaum bewusst. Plötzlich horcht sie auf, so als ob sie jemand unvermittelt anspricht: „Denk nicht in deiner Drangsalshitze, dass Du von Gott verlassen seist...“ wird da gesungen. Es öffnet sich ein weiter lichter Raum. Die Trompete mit der Oberstimme aus Bachs Kantatensatz führt sie vollends in die Freiheit: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ Sie richtet sich auf und atmet tief durch. Die Asche ist weg. Christus ist hier. Was sie lähmte, hat er zunichte gemacht. Das ist kein flüchtiges Ergriffensein, sondern eine Begegnung mit dem lebendigen Gott.

Der Lobgesang schwingt in ihr nach, als sie bereits wieder auf ihrem Weg nach Hause ist. Tagtäglich erinnern die Glocken der Paulusgemeinde an ihr Erlebnis. In einer der Glocken soll es übrigens eine Inschrift geben. Ein kurzer Bibelvers: Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Amen.