PREDIGT IM GOTTESDIENST ZUR ERÖFFNUNG DER INTERNATIONALEN DOMBAUMEISTERTAGUNG IM DOM ZU BRANDENBURG (Lukas 13,6-9)

Wolfgang Huber

Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.

I.

Von der Geduld handelt dieses Gleichnis Jesu, von einer Dombaumeistern wohl bekannten Tugend, aber auch von der Ungeduld, von der ich glaube, dass Sie Menschen in diesem Beruf auch vertraut ist. Beides kennen Sie: Man muss warten können, und man muss wissen, wann das Warten zu Ende ist.

Aber wie unterscheidet man diese beiden Zeiten voneinander, die Zeit der Geduld und die Zeit der Ungeduld, die Zeit des Wartens und die Zeit, in der das Warten zu Ende ist? Das Gleichnis gibt eine einfache Antwort: wenn keine Aussicht mehr auf eine fruchtbare Wende besteht, dann hat das Warten ein Ende. Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.

Dieses Gleichnis findet sich im Evangelium des Lukas, eines Autors, der nach der Überlieferung Arzt gewesen ist. Mit seinem Evangelium und seiner Apostelgeschichte hat er uns ein Doppelwerk hinterlassen, das durch eine auffällige Wertschätzung des Jerusalemer Tempels gekennzeichnet ist.

Das Evangelium des Lukas beginnt im Tempel. Zacharias, der Vater von Johannes dem Täufer, bereitet sich auf seinen Dienst im Tempel vor, als ihm ein Engel Gottes die Geburt seines Sohnes ankündigt. Und das Evangelium endet mit folgendem Satz: Die Jünger waren allezeit im Tempel und priesen Gott. Lukas berichtet auch in der Apostelgeschichte davon, dass Petrus und  Johannes selbstverständlich zu den Gebetszeiten im Jerusalemer Tempel ihr Gebet verrichteten. Vom Tempel aus beginnt dann in großen Bögen die Ausbreitung des Evangeliums in Jerusalem, in Samaria und in der ganzen bewohnten Welt, der Ökumene. Und diese Ausbreitung hat es immer wieder mit Zeiten des Wartens, der Geduld zu tun.

Der Feigenbaum ist im Lukasevangelium ein zur Umkehr mahnendes Zeichen. Der Besitzer des Weinbergs wartet drei Jahre vergeblich auf die Früchte des Baums. Es bedarf der Fürbitte des Weingärtners darum, dass der Herr noch ein weiteres Jahr hinzu gibt.

II.

Dass wir Kirchengebäude und Feigenbäume nicht allzu schnell gleichsetzen können, versteht sich von selbst. Die in dem Gleichnis aufleuchtende Mahnung mag uns jedoch dazu ermutigen, die Frage nach den Früchten der eigenen Arbeit immer wieder zu stellen und ihr nicht auszuweichen. Zugleich sehe ich in der einjährigen Schonfrist ein Plädoyer für das Denken in größeren Bögen.

Wahrscheinlich gibt es kaum einen Berufsstand, dem das Denken in solchen Bögen so vertraut ist wie Dombaumeister. Denn die meisten Bauwerke, mit denen Sie es zu tun haben, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Über Jahrhunderte sind sie gewachsen, sind sie weitergebaut und erneuert worden. Zeiten gab es, in denen sie bis zur Unfruchtbarkeit vernachlässigt wurden; und andere, in denen ihnen viel Kraft und Initiative zugewandt wurde. Jeder Dombaumeister steht auf den Schultern seiner Vorgänger; und jeder weiß, dass er am Ende ein Werk zurücklässt, an dem andere weiterbauen müssen. Denn an Domen wird immer gebaut.

Doch Dome haben den unschätzbaren Vorteil, dass auch in schwierigen Zeiten niemand ihren Bestand anzutasten und ihr Existenzrecht in Zweifel zu ziehen wagt. Keiner wird so tollkühn sein, von einem Dom zu sagen, dass man, wenn er auch übers Jahr noch unfruchtbar sein wird, Hand an ihn legen und ihn dem Erdboden gleich machen wird. Das Schicksal des Feigenbaums wird einem Dom nicht blühen.

Von anderen Kirchengebäuden dagegen wird dergleichen dann und wann schon behauptet – freilich zu oft und oft ohne Grund. Aber dass der Gebäudebestand der Kirchen heute nicht vollständig sakrosankt sein kann – wer würde das leugnen? Und auch wenn man darauf beharrt, dass nötigenfalls andere Gebäude eher aus der kirchlichen Nutzung entlassen werden sollen und dass dergleichen bei Kirchengebäuden erst zu allerletzt in Frage kommt, so lässt sich auch das nicht völlig ausschließen.

Es mag also Kirchen geben, bei denen die Frage gestellt wird und im Einzelfall sogar gestellt werden muss, ob wir sie freigeben und aus der kirchlichen Nutzung entlassen müssen. Dabei darf man jedoch nie vergessen: Auf die eine oder andere Weise gehören sie zum historischen Schatz unserer Kirche. In aller Regel sind sie auch eindeutig als Kirchen erkennbar. Sie bleiben Zeichen in der Zeit, Symbole des kulturellen Erbes. Auch wenn sie auf Zeit verstummen, bleiben sie ein Beitrag zur Sinnvermittlung im 21. Jahrhundert.

Selbst ein Gebäude, das als Ruine gesichert, aber doch erhalten bleibt, trägt zur Orientierung bei. Ich denke beispielhaft an die Kirchenruinen im Oderbruch, jener am Ende des Zweiten Weltkriegs besonders umkämpften Region östlich von Berlin. Über ein halbes Jahrhundert hin blieben die Kirchenruinen stehen; niemand hatte die Kraft und die Möglichkeit, sich ihrer anzunehmen. Aber sie standen da: Mahnmale gegen den Krieg, Erinnerungen an die vergessene Wirklichkeit Gottes, Hinweise auf die geschändete Würde des Menschen. Hätte man sie beiseite geräumt, wäre die Bewegung zur Wiedergewinnung dieser Räume nicht möglich gewesen, die sich jetzt ereignet. Ruinen werden wenigstens überdacht; oder die Gebäude werden wieder hergestellt. Die über die Jahrzehnte erhaltenen Gebäudereste mobilisieren auch nach einer langen Zeit des Wartens eine Solidarität, die beschämen kann. Die vielen freien Initiativen, oft von der kirchlichen Stiftung KiBa oder der Deutschen Stiftung Denkmalschutz unterstützt, gehören zu den hoffnungsvollen Zeichen unserer Zeit.

Verfallende Kirchen erinnern mich an einen Feigenbaum ohne Früchte. Sie sprechen eine deutliche Sprache; sie konfrontieren uns und unsere Zeitgenossen mit der Tatsache, dass es sich für unsere Generation als schwierig und in manchen Fällen als unmöglich erweist, eine Tradition fortzuführen, die das Leben vieler Generationen an diesen Orten nachhaltig geprägt hat. So sind baufällige, verfallene und bereits abgetragene Kirchen in aller Regel kein Beweis für Nachlässigkeit, sondern ein Zeichen für eine geschichtliche Entwicklung, die sie auf ihre Weise dokumentieren.

Wir können uns an das Bild einer dem Verfall preisgegebenen Kirche nicht gewöhnen, aber wir wollen es ertragen, ohne gleich die Abgabe oder einen Verkauf ins Auge zu fassen. Denn es gehört zum Selbstverständnis unseres Glaubens, dass wir ungelöste Fragen, auch ungelöste Kirchbaufragen, als Chance für Neuanfänge verstehen. Wir haben kein Recht dazu, dass eine Frage, die wir nicht lösen können, einer nächsten Generation gar nicht mehr gestellt werden kann. Es gibt Kirchengebäude, für die wir nicht in angemessener Weise sorgen können, die aber dennoch alles Recht auf ihrer Seite behalten, von einer nächsten Generation mit neuer geistlicher Kraft und mit neuem Leben erweckt zu werden. Wir sollten denen, die nach uns kommen, die Anknüpfungspunkte für ihr Engagement nicht voreilig rauben. Wir sollten in der Kirche das Vertrauen in Gottes wunderbare Wege nicht verschütten.

III.

Aber neben die Geduld tritt die Ungeduld, neben das Warten die Ansage einer Zeit, in der das Warten ein Ende hat. Der Erfahrung des Versagens dürfen wir also nicht ausweichen. Wir haben kein Recht dazu, die Provokationen des Evangeliums zu glätten oder sie nur auf alle anderen zu beziehen, aber bloß nicht auf uns selbst. Das Gleichnis vom Feigenbaum versperrt uns einen solchen Weg.

Es nötigt uns stattdessen zu der Frage, warum zahlreiche Bemühungen nichts fruchten und warum die Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation  nicht in einem ausreichenden Maße Früchte trägt.  Wir alle haben  – wie wir hier versammelt sind – Beispiele dafür im Sinn, wie sehr wir uns die fehlenden Früchte am Feigenbaum wünschen.

Die Internationale Dombaumeistertagung findet in diesem Jahr in einer Region statt, in der durch die Abwanderung der Jungen und durch die Überalterung der Gesellschaft besonders deutlich wird, dass unser Land in der Tat einem Feigenbaum gleicht,  dem die Früchte fehlen. Das hat Folgen, von denen auch die Arbeit der Baumeister unmittelbar betroffen ist, ob sie nun an Domen arbeiten oder an anderen Gebäuden.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich Ihnen Vertrautes sage, möchte ich Ihnen die Dimensionen, um die es geht, aus der Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland vor Augen stellen. In unserem Land gibt es 21.088 evangelische Kirchen, 2.536 evangelische Friedhofskapellen und 3.148 evangelische Gemeindezentren mit Gottesdiensträumen. In Fachkreisen wird der Instandsetzungsbedarf an diesen evangelischen Kirchen mit einer Größenordnung von ca. 6 Milliarden Euro beziffert. Darin sind nicht nur die Kosten für den Erhalt der alten, vorreformatorischen Kirchen gerade im Osten Deutschlands enthalten; eingeschlossen ist beispielsweise auch der enorme Renovierungsbedarf, der bei der sogenannten „ungeliebten Betonmoderne“ aus den fünfziger und sechziger Jahren aufgelaufen ist. Die immense Bautätigkeit der Nachkriegszeit, die das Gemeindekonzept von der „fußläufigen Kirche“ spiegelt, hat zu einer Kirchendichte gerade in den Städten geführt, die allein auf Grund ihrer Dimensionen nicht mehr komplett zu erhalten und inhaltlich auszufüllen ist. Hier ist der Klärungsbedarf besonders groß. Denn wenn man sich auf die demographische Entwicklung und die Entwicklung der kirchlichen Finanzkraft bis etwa 2030 einlässt, muss man auch eine Abschmelzung des Immobilienbestandes der Kirchen in den Blick nehmen.

IV.

Aber das Gleichnis vom Feigenbaum ist kein Text der Resignation, es ist ein Hoffnungstext. Davon, dass der Feigenbaum tatsächlich abgehauen wird, ist nicht die Rede. Noch ist es nicht zu spät. Das Gleichnis fordert uns nicht dazu auf, zu resignieren, sondern zu prosignieren. Resignieren – das heißt wörtlich: die eigenen Zeichen zurückzusetzen. Wer dagegen prosigniert, der setzt seine Zeichen nach vorn.

Ich könnte auch sagen: Er baut auf Hoffnung. Darin klingt beides an: Die Hoffnung ist der Grund, auf den er baut. Und: Weil er auf Hoffnung hin lebt, baut er. Er lässt nicht verfallen, was uns über Jahrhunderte hin zugewachsen ist. Und er bereitet Räume vor, die auch von kommenden Generationen genutzt und mit Leben erfüllt werden können. Aber auf dieses Leben kommt es an: auf ein Leben aus der Kraft des Geistes. Dieses Leben zeigt sich auch an vielen Orten. Der Brandenburger Dom ist dafür ein Beispiel wie viele andere Kirchen auch. Der Lebendigkeit des Glaubens muss all unser Mühen gelten. Dann können auch wir sagen: Wir bauen auf Hoffnung.

Amen.