Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zur konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestags in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin

Wolfgang Huber

Vorauszusehen war es nicht, dass sich im Oktober 2005 ein neuer Bundestag konstituiert. Nun stellen wir das Unerwartete unter die apostolische Mahnung, die wir gerade gehört haben: Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Deutlicher lässt es sich ja nicht sagen, dass die Zeit des Wahlkampfs zu Ende ist und die Zeit der gemeinsamen Arbeit um der Menschen willen beginnt. An der Verantwortung für das Wohl der Menschen und die Überwindung des Bösen, an der Verantwortung für den Frieden und die Überwindung des Hasses haben ja alle teil, unabhängig davon, wer künftig die Regierung und wer die Opposition stellt. Das Wohl der Menschen und der Frieden über Grenzen hinweg – das ist eine denkbar klare Auskunft darüber, worum es in politischer Verantwortung geht.

Vorauszusehen war es nicht, dass sich in den Reigen der Festveranstaltungen zum dreihundertjährigen Jubiläum dieser Kirche ein Gottesdienst zum Beginn der neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestags einfügen würde. Denn davon ist das Jahr 2005 hier am Gendarmenmarkt geprägt: Vor dreihundert Jahren wurde die Französische Friedrichstadtkirche ihrer Bestimmung übergeben. Man sieht es ihr an: Sie ist reformiert. Karger geht es nicht. Keine Bilder, kein Kruzifix und keine Kerzen – so wünschten sich die Reformierten das Gotteshaus. So wollten sie dem Gebot genügen: Du sollst dir kein Bildnis machen. Bilder sehen wir auch heute nicht; Kruzifix und Kerzen gibt es nur auf besonderen Wunsch.

In einem Gotteshaus sind wir versammelt, das sich dem Willen zur Reform verdankt. Darin mag man ein Vorzeichen für die Legislaturperiode sehen, die heute beginnt. Denn alle wissen: Es geht darum, dass das Vertrauen in den Sinn und die Kraft von Reformen gestärkt wird, es geht nicht darum, in der Bereitschaft zur Reform nachzulassen.

Als Christen aus verschiedenen Konfessionen sind wir in der Kirche der Berliner Hugenotten versammelt. Deren Geschichte wäre nicht vorstellbar ohne die kirchlichen Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts in Europa; sie wäre nicht denkbar ohne das traurige Kapitel der Religionskriege zwischen Protestanten und Katholiken. Viele Versuche gab es, dieses traurige Kapitel zu beenden: der Augsburger Religionsfriede von 1555 gehört in Deutschland dazu, dessen 450-jähriges Jubiläum wir vor kurzem gefeiert habe, und ebenso der Westfälische Friede von 1648. Auch das Edikt von Potsdam aus dem Jahr 1685 gehört dazu, das den in Frankreich verfolgten reformierten Christen in Brandenburg großzügige Aufnahme zusicherte. Sie mussten die Heimat verlassen um des Glaubensmuts und der Gewissensfreiheit willen.

Ich nehme es als ein gutes Zeichen, dass Mitglieder des neuen Deutschen Bundestags sich an einem Ort solcher Glaubenscourage auf ihr neues Amt vorbereiten. Ich bin überzeugt: Die nötige Zivilcourage wird folgen. Der Verfassungssatz, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags nur ihrem Gewissen unterworfen sind, ist im Angesicht einer solchen Tradition nichts anderes als eine Aufforderung zum aufrechten Gang.

Vorauszusehen war es nicht, dass wir uns heute hier versammeln. Viele hatten sich auf die Wahl ein Jahr später eingerichtet. Abgeordnete des Deutschen Bundestags habe ich getroffen, die aus dem aktiven Parlamentarierdasein ausscheiden wollten – aber eigentlich erst ein Jahr später. Andere habe ich getroffen, die gern auf eine Laufbahn im Deutschen Bundestag zugehen wollten – aber eigentlich nicht schon jetzt. Denjenigen bin ich begegnet, die von den Wahlen die nötige Klarheit erhofften und nun sagen: Klarheit der Fronten hat es gerade nicht gegeben. Und andere habe ich gehört, die sagten: Nun haben wir einen Auftrag; es ist an uns, ihn in die Tat umzusetzen.

Wie auch immer: Es ist gewählt. Nun heißt es für die einen: eine Verantwortung aus der Hand zu legen, der sie viel Kraft gewidmet haben. Und für andere heißt es, die Verantwortung wahrzunehmen, die sich aus dieser Wahl ergibt. Eine handlungsfähige Regierung ist dafür so wichtig wie eine artikulationsfähige Opposition.

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem: diese Aufforderung steht als biblische Weisung über dieser Woche – Jahr für Jahr – unabhängig davon, ob sich der Bundestag neu konstituiert oder nicht. Aber jetzt gilt es ihm, der Vertretung des deutschen Volkes, von Anfang an, für eine ganze Legislaturperiode. Es gibt keine Zufälle vermutet der Glaubende dazu.

Die Fähigkeit zum Frieden über Grenzen hinweg wird uns zugetraut. Ich weiß, das ist ein hoher Anspruch. Manchmal muss man auch Grenzen ziehen, damit Frieden möglich wird. Aber zumindest ihre tödliche Gewalt müssen Grenzen verlieren. Deshalb ist bedrückend, was in Spaniens marokkanischen Exklaven Ceuta und Melilla geschah. Menschen wurden dort nicht nur zurückgewiesen, sie wurden getötet. Wo immer das geschieht, geht ein Stück der eigenen Seele mit. Wir wollen Europa eine Seele geben; aber in Ceuta und Melilla hat Europa ein Stück seiner Seele verloren. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Ein Zeichen der Hoffnung inmitten großen Grauens erleben wir in diesen Tagen in Kaschmir. In der Region, die zwei Atommächten, Indien und Pakistan, mehrmals Anlass zum Krieg war, finden diese nun in gemeinsamer Erschütterung zusammen, um den Opfern des Erdbebens zu helfen. Mit Bewunderung denke ich an die Freiwilligen des Technischen Hilfswerks, die Ärzte ohne Grenzen, die Soldaten der Bundeswehr und andere Helfer, die jetzt in der Erdbebenregion den Opfern beistehen. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Immer werde es Menschen geben, die beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten, so hat im Gefängnis Adolf Hitlers Dietrich Bonhoeffer betont, der vor einhundert Jahren geboren wurde und vor sechzig Jahren auf Hitlers Geheiß starb. Das Tun des Gerechten hat er damit eingespannt in einen Bogen, der durch die Haltung des Gebets und durch das Warten auf die Zeit Gottes, also durch Hoffnung, bestimmt ist.

Mit dem Frieden Gottes beginnt alles; aus Gottes Güte sind wir, was wir sind. Dafür steht das Kreuz Jesu in der Zerrissenheit unserer Welt. Es sagt und zeigt: Niemand bleibt von Gottes Frieden ausgeschlossen. Vom Kreuz her, dem entscheidenden Friedenszeichen, hoffen wir auf Frieden und mühen uns um gelebte Toleranz. Soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

Amen.