Gottesdienst am Reformationstag 2005 im Dom zu Fürstenwalde (Matthäus 5,3-10)

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Welch ein Festtag! Die bewegte Geschichte dieses Gotteshauses tritt uns vor Augen und wir staunen. Wir staunen über Gottes Führung in den Wirrnissen der Geschichte. Dieser Dom, mehr als ein halbes Jahrtausend alt – was hat er alles erlebt!

Nach der Zerstörung durch den Krieg haben manche ihm keine Zukunft mehr gegeben. Sein Wiederaufbau war in vergleichbarer Weise umstritten wie derjenige der Dresdner Frauenkirche, die wir gestern eingeweiht haben. Aber in Fürstenwalde entstand der Mut zum Wiederaufbau noch vor der Wende; dieser Mut verdient es deshalb, doppelt in Erinnerung zu bleiben. Heute können wir nun die große Orgel einweihen, die uns mit der Thomaskirche in Leipzig, der Wirkungsstätte Johann Sebastian Bachs verbindet. Noch einmal ein mutiger, ein bewegender Schritt! Unsere ganze Landeskirche freut sich mit Ihnen!

Könnte es für dieses Fest einen besseren Tag geben als den Reformationstag, den Tag der Erneuerung der Kirche, der Rückkehr zu ihren Wurzeln? Im Licht der Geschichte lädt uns dieser Tag zum Neubeginn ein. Mit dem Glauben sollen wir neu beginnen, dankbar dafür, dass er uns anvertraut ist und wir in ihn eintauchen können. Mit dem Vertrauen auf Gott sollen wir neu beginnen, weil nur sie uns herausführt aus der Angststarre unserer Zeit.

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. So heißt die erste der acht Seligpreisungen, mit denen Jesus seine Bergpredigt beginnt. Lang haben wir diese Seligpreisung umgangen. Mit der Seligpreisung der Friedensstifter oder der Gewaltlosen, der Leidtragenden und derer, die sich nach Gerechtigkeit sehnen, konnten wir mehr anfangen. Und diese Seligpreisungen bleiben wichtig. Sie bleiben ein Stachel im Fleisch unserer Trägheit, ein Stachel auch im Fleisch unserer Gesellschaft, die sich immer wieder zu schnell abfindet mit dem Gesetz der Gewalt und der Logik des Eigennutzes. Aber darüber sollten wir den anderen Ton in der Bergpredigt Jesu nicht überhören: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Auch diesen Ton braucht unsere Gesellschaft, ja sie braucht ihn mehr denn je. Aus der Angststarre, in die sie verfallen ist, befreit sie nur ein neuer Geist. Aus dem Kleinmut, der sich in unser Leben schleicht, führt uns nur das Vertrauen auf Gott. Aus der Missgunst, unter der sich unser Herz verkrampft, hilft uns nur das reine Herz heraus, das allein Gott geben kann. Die Leidenschaft für den Mitmenschen, die das Leben erst lebenswert macht, gewinnen wir erst, wenn wir uns an Gott halten und an seine Leidenschaft für uns Menschen. Diese Leidenschaft Gottes hat einen Namen: Jesus Christus. Auf ihn lasst uns hören. Unsere schönen Kirchengebäude oder unsere prächtigen Orgeln – sie haben ja gar keinen anderen Sinn als uns dabei zu helfen: dass wir auf ihn hören, auf Jesus Christus.

Auf die Seligpreisungen hören wir. Wir hören auf die Stimme dessen, der uns glücklich preist, weil wir in der Nähe Gottes sind. Wir hören auf die Mitte der Verkündigung Jesu. Die Seligpreisungen werden im Matthäusevangelium folgendermaßen eingeleitet: Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

Über die Jahrhunderte hin haben die Bibelausleger darüber gestritten, zu wem Jesus eigentlich gesprochen hat – zu dem kleinen Kreis der Jünger oder zum versammelten Volk. Die Frage ist noch heute aktuell. Ist die Botschaft der Bibel für einen kleinen Kreis der Auserwählten reserviert – oder will Jesus uns alle anstecken mit dem Geist des Reiches Gottes, mit der Sehnsucht nach diesem Geist, in der wir überhaupt erst entdecken, was wir sind: geistlich arm, sehnsuchtsvoll wie ein Vogel im Käfig, im Aufbruch zur Freiheit der Kinder Gottes. Ich bin davon überzeugt: Die Botschaft der Bergpredigt gilt allen, die diese Armut in sich spüren, die von einer solchen Sehnsucht gepackt werden. Sie gilt allen, die den Täuschungen einer wirtschaftstaumeligen Welt entkommen und festen Halt unter den Füßen haben wollen. Geistlich arm – damit sind die Menschen gemeint, die eine neue Spiritualität suchen und finden. Die Menschen sind damit gemeint, die beten wollen und dafür eine neue Sprache suchen. Denjenigen gilt dieses Wort, die mit Gott im Einklang leben wollen, damit auch der Einklang mit den Menschen wieder besser gelingt. Wem gilt die Bergpredigt? Uns allen, woher wir auch kommen und wo wir heute auch stehen. Keinem ist verwehrt, sich von dem Prediger mitnehmen zu lassen. Jesus ist dieser Prediger. Auf ihn lasst uns hören.

Diesen Aufbruch wünsche ich auch unserer Kirche an allen Orten, auch hier in Fürstenwalde. Unsere Kirche heute steht heute vor der Aufgabe, den Menschen Türen zum Glauben zu öffnen. Gegenüber der Inflation der Ideen geht es um nichts Geringeres als darum, den Glauben wieder als Lebensaufgabe zu begreifen und ihm Gestalt zu geben. Um der Menschen willen geht es darum, die Verantwortung für das eigene Heil, das eigene Leben, den eigenen Glauben ernst zu nehmen. Reformatorisch ist unsere Kirche, wenn sie mit neuer Überzeugungskraft Gott rühmt. Reformatorisch ist unsere Kirche, wenn sie wieder die Wendung zum Glauben vollzieht.

Der Sinn der Reformation bestand nicht darin, die Kirche zu spalten. Der Sinn der Reformation bestand darin, zum Glauben Raum zu schaffen. Mit Furcht und Zittern die Seligkeit zu suchen, dahin war Martin Luther unterwegs. Am Anfang stand der Plan, Mönch zu werden – gegen die Erwartung des Vaters. In Todesangst hatte der junge Martin am 2. Juli 1505 der heiligen Anna das Versprechen gegeben, das sein Leben ändern sollte. Als Mönch rang er im Kloster um den gnädigen Gott. Im Kloster gedacht ich nicht an Weib, Geld oder Gut, sondern das Herz zitterte und zappelte, wie Gott mir gnädig würde. Die Befreiung nach langen Kämpfen verdankte sich der Einsicht, dass nicht die eigenen Kräfte die Seligkeit bewirken. Der Mensch kann sich nicht selbst erlösen – mehr noch: er braucht sich nicht selbst zu erlösen. Gottes Gerechtigkeit ist eine fremde Gerechtigkeit, die wir nicht selbst schaffen, sondern die in Christus auf uns zukommt. Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesu Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muss er behalten. Um dieser Strophe willen ist Martin Luthers Lied Ein feste Burg das Reformationslied. Denn der Sinn der Reformation war es nicht, die Kirche zu spalten, sondern zum Glauben Raum zu schaffen.

Dass der Glaube Raum findet, ist zunächst eine Frage des persönlichen Lebens. Die Vorstellung, der Sinn unseres Lebens zeige sich schon, wenn wir immer mehr schaffen, arbeiten, herstellen, planen, wenn wir unser Leben mehr und mehr mit Terminen zustellen und mit Erlebnissen ausfüllen, ist hohl. Das merken immer mehr Menschen. Viele treten eine Gegenbewegung an: hin zur Stille und zur Meditation, zur Andacht und zur Achtsamkeit. Sie spüren, dass das Zusammenleben darauf gründet, dass der Glaube in Ritualen Gestalt gewinnt und dass im Gottesdienst und zu Hause, gemeinsam und einzeln gefeiert, gebetet, gelesen und gesungen wird.

Eine neue Suche nach Frömmigkeit und Spiritualität gehört zu den wichtigen Zügen unserer Zeit. Wir sind gefragt, eine eigene Antwort zu finden. Gemeinsam können wir nach neuen Wegen suchen. Die Antwort kann nicht in der Übernahme von Meditationstechniken aus anderen Kulturen und Religionen bestehen. Es muss eine christliche, eine evangelische Antwort sein. Dem dient dieser Kirchenraum. Dem dient auch die neue Orgel.

Zum Glauben Raum zu schaffen, ist aber nicht nur eine Aufgabe der Einzelnen. Es ist auch eine gemeinsame Aufgabe. Es ist die wichtigste Aufgabe für unsere Gemeinden. Wenn wir uns so wie heute zu Gebet und Gotteslob versammeln, dann wird das ein Zeichen sein für den Raum, der dem Glauben auch in unserer Gesellschaft zukommt. Dieser Raum wird wachsen. Und er soll wachen, mit unser aller Hilfe.

Denn auch diese Gesellschaft, die auf das Herstellen vertraut und in der die selbstbewussten Macher heranwachsen, braucht mehr als das Herstellen und Machen. Sie braucht eine Hoffnung, die über die eigenen Möglichkeiten hinausweist; sie braucht einen Glauben, der nicht am Machbaren hängen bleibt; sie braucht eine Liebe, die auf das Leben des andern ebenso achtet wie auf das eigene Leben.

Zeichen für eine solche Hoffnung, einen solchen Glauben, eine solche Liebe wollen wir setzen, wenn wir uns als Kirche der Reformation erneut auf den Weg machen. Zu diesem Weg soll uns der Reformationstag ermuntern, damit wir wieder Leidenschaft entwickeln, um den Glanz des Evangeliums zu rühmen.

Selig sind, die in der Schule das Fragen nicht verlernt haben, denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig sind die Arbeitslosen, denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Altgewordenen, deren Kräfte schwinden, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren.

Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich

Amen.