Predigt über Judas 2 in der Frauenkirche zu Dresden

Wolfgang Huber

I.

Die Steinerne Glocke ist wieder hergestellt. Die Arbeiten zum Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden sind vollendet. Damit ist das 271 Jahre alte Herzstück Dresdens erneuert; viele Menschen erfüllt das mit großer Dankbarkeit. Vor fünfzehn Jahren, als wie ein Fanfarenstoß der Ruf aus Dresden erklang, waren die Zweifel am Gelingen des Plans, die Frauenkirche wieder zu erbauen, groß. Doch die Einweihung dieses Gotteshauses kommt zur rechten Zeit. Sie öffnet die Zukunft für dieses einmalige Gebäude, für die Stadt Dresden, für die Christenheit in Deutschland. Die Kirche lädt wieder ein zum Beten und Singen, sie eröffnet Raum für Klage und Trost. Sie ist ein Zeichen neuer Hoffnung. Sie verweist in ihrer ganzen Schönheit auf den, der ein Gedächtnis gestiftet hat seiner Wunder, den gnädigen und barmherzigen Herrn (Psalm 111,4). Vom Altar bis hinauf zum Kreuz auf der Kuppel strahlt ihr Bau eine Orientierung aus, die Menschen so sehnlich suchen. Der Judasbrief erbittet diese Orientierung mit den Worten: Gott gebe euch viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe! An diese ebenso knappe wie klare Orientierung wollen wir uns am heutigen Tag halten: Gott gebe euch viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe! Wie drei große Türen öffnen diese Worte den Zugang zu Gott. Wo Menschen lieben, wo Frieden herrscht, wo Barmherzigkeit geübt wird – dort ist Gott gegenwärtig. Barmherzigkeit – Frieden – Liebe: Dieser Dreiklang orientiert die Christenheit in ihrem Glaubensleben in der Welt. Deshalb will ich diesen Segenswunsch des Judasbriefes über den heutigen Gottesdienst in der neu erbauten Frauenkirche stellen: Gott gebe allen, die in dieser Kirche beten, singen oder zu Gast sind, viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe. Denn Gott ist barmherzig. Gott erfüllt mit Frieden. Gott ist die Liebe.

II.

Die Liebe möchte ich an den Beginn stellen. Denn Liebe zeigt sich nicht nur zwischen Menschen. Sie wird auch an einem Bau wie diesem sichtbar.

Mit Liebe, mit der Begeisterung des Herzens haben sich Menschen an die Aufgabe gemacht, den meterhohen Schutt hinter der Statue Martin Luthers in eine Kathedrale evangelischen Glaubens zu verwandeln. Sich einer Sache liebevoll annehmen, heißt nichts anderes, als mit dem Herzen dabei zu sein, mit der eigenen Person für das Gelingen dieser Sache einzustehen. Hier in der Frauenkirche sind viele mit dem Herzen dabei; und sie haben zugleich alle Kräfte des Verstandes genutzt, um dieses kühne Vorhaben zu verwirklichen. Ich denke an Menschen, die mit nie erlahmender Initiative dieses Vorhaben vorantrieben; ich denke an diejenigen, die schon anfingen, Spenden zu sammeln, als der Bau noch gar nicht beschlossen war; diejenigen stehen mir vor Augen, die mit kleineren wie mit sehr großen Beträgen den Bau ermöglicht haben. Planer und Bauleute kommen mir in den Sinn, für die dieses Vorhaben zum Bau ihres Lebens wurde. Medienschaffende habe ich vor Augen, die dem Werden zu öffentlicher Resonanz verholfen haben. Ich denke an die vielen aus Kirche und Wirtschaft, aus Politik und Kultur, aus dem In- und Ausland, die mit ihrem Einsatz und mit ihrem Gebet den Bau dieser Kirche begleitet haben.

Deshalb sage ich: Die Dresdner Frauenkirche ist ein Ort der Liebe. Die Kirche spiegelt die Liebe wieder, die Menschen in sie investiert haben. Zugleich verweist sie auf Jesus Christus als den Quell der Liebe. Durch Verkündigung und Gebet, durch die Feier der Sakramente und durch Lobgesang vergewissert sie uns der Liebe Gottes.

Doch: Ist diese Vergewisserung nur hier möglich? Nur in einer so prachtvoll gestalteten Kirche? Der evangelische Glaube kennt keine geweihten Räume, die aus der Welt hinausführen, die von ihr absondern. So wie die Frauenkirche mitten in Dresden steht, so hat der Glaube seinen Ort inmitten der Welt. Sehr wohl aber kennt evangelischer Glaube gewidmete und gewürdigte Räume, Räume also, die aus ihrer Umgebung herausgehoben sind. Gewidmet sind sie dem Gottesdienst der Gemeinde. Gewürdigt sind sie durch das Wort Gottes, das dort gepredigt wird, gewürdigt durch die Gebete, die dort gesprochen werden, gewürdigt durch die Tränen, die dort geweint werden, und durch den Trost, der auf sie antwortet, gewürdigt durch die Feiern des Lebens, die in diesen Räumen Heimat finden. Unsere Kirchen sind nach evangelischem Verständnis heilig durch ihren Gebrauch. Denn heilig ist nach reformatorischer Vorstellung, was den Glauben weckt und fördert. Aus diesem Grund kann reformatorischer Glaube auch bestimmte Menschen heilig nennen – und ebenso auch Räume. Geheiligt werden sie durch die Heiligkeit des Wortes Gottes und durch die Gemeinschaft um dieses Wort.

Die Vergewisserung in Gott kann überall geschehen. Doch die Dresdner Frauenkirche ist in diesem hervorgehobenen Sinne ein Ort göttlicher Liebe mit einer Strahlkraft weit über diese Stadt hinaus.

III.

In diese Mauern sind Steine der Erinnerung eingelassen. Vor sechzig Jahren stürzte in Dresden der Tod vom Himmel; Rache und Vernichtungswille waren nach Deutschland zurückgekehrt, von wo aus Krieg und Morden ihren Ausgang genommen hatten. Am 13. und 14. Februar 1945 ging das Florenz an der Elbe in Flammen auf. Zehntausende starben; tausende Gebäude wurden zerstört; unter ihnen die historische Frauenkirche. Der Ruinenhaufen der Kirche schrie nach Frieden.

Gott gebe euch viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe. Wer hätte 1945 auf eine Zeit des Friedens zu hoffen gewagt, wie sie uns im Anschluss über Jahrzehnte bis heute geschenkt und gewährt wurde? Wer hätte in der Nachkriegszeit von einem vereinigten Deutschland zu träumen gewagt, einem Deutschland, das sich auch angesichts aller Zukunftssorgen seiner Einheit, seines Friedens und seines Wohlstandes erfreuen kann? Und wer, vor allem, hätte damit gerechnet, dass nach sechzig Jahren die Frauenkirche in Dresden wieder ein Ort des Gottesdienstes, des Gebets und der Andacht sein würde?

Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende (Klagelieder 3, 22). Wie nahe war diese Stadt, war diese Kirche daran, gar aus zu sein, also den Garaus, den Exitus, die absolute Zerstörung zu erleben und in ihr zu verbleiben? Aber Gottes Barmherzigkeit war nicht an ihrem Ende, und noch immer wirkt sie fort.

Der Neubau der Kirche kann und will diese Zeit nicht überspringen und vergessen machen. So wie 3.539 Steine der alten Kirche unübersehbar wieder in die Fassade eingefügt wurden, so ist das Gedenken an die Jahre des Krieges und der Zerstörung in den Wiederaufbau der Frauenkirche eingelassen. Die Frauenkirche ist ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung. Viele der Hunderttausende von Spendern kamen aus der ganzen Welt. Dass sie gemeinsam ein Stück des alten Dresden haben wiedererstehen lassen, verstehe ich als einen Akt der Versöhnung. Das goldene Kreuz, das hoch oben auf der Kuppel über die ganze Stadt strahlt, in Großbritannien gearbeitet und von dort gespendet, ist ein weithin sichtbares Zeichen für diesen Geist der Versöhnung. Die Schrecken des Krieges sollen ein für allemal hinter uns liegen. Dem Frieden gilt unsere Verpflichtung wie unsere Leidenschaft. Dafür steht dieser wunderbare Bau.

Blickt man vom anderen Elbufer auf Dresdens Altstadt, so bleiben die Augen unwillkürlich an dem Gotteshaus hängen; und ebenso das Herz. Jedermann spürt sofort, dass da etwas Besonderes entstanden ist: aus dem riesigen Trümmerhaufen wurde eine der schönsten Kirchen weltweit. Es ist wie ein Trost, der dem Anblick dieser Stein gewordenen Geschichte innewohnt. Die Dresdner Frauenkirche ist ein Symbol des Friedens. Und sie erinnert daran, dass wir alle Botschafter der Versöhnung und des Friedens sind.

IV.

Gott gebe euch viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe. Die Dresdner Frauenkirche ist ein Ort der Liebe und ein Symbol des Friedens. Und sie ist unlöslich mit der Barmherzigkeit verbunden. In der wiederhergestellten Steinernen Glocke ist der Barmherzigkeit ein eigenes Bild gewidmet. Eines der acht von hier unten aus zu erkennenden Gemälde hat dieses Thema. Neben den vier Evangelisten sind Glaube, Liebe und Hoffnung als Frauengestalten dargestellt. Diesem vom Apostel Paulus gepriesenen Dreigestirn aber wird als viertes die Barmherzigkeit zur Seite gestellt.

Sie wird von einer Frau verkörpert, die einem bedürftigen Menschen Münzen in den Hut gleiten lässt. Direkt über dieser Frauengestalt findet man – nicht leicht zu erkennen – in einem Medaillon das Gleichnis vom barmherzigen Samariter dargestellt. Es erzählt, wie ein Mensch von Räubern brutal zusammengeschlagen, ja fast getötet – und von einem Fremden geborgen, versorgt und gepflegt wird.

Barmherzig ist, wer aus der Fülle des ihm Anvertrauten weitergibt. Wir haben uns angewöhnt, die materielle Seite des Gebens – die Münze im Hut, das helfende Handeln des Samariters – in besonderer Weise zu betonen. Es ist gut, dass so geholfen wird. Die Katastrophen dieses Jahres haben in überwältigender Weise eine solche Bereitschaft zum Geben geweckt. Doch zu dem, was uns anvertraut ist, gehören nicht nur materielle Güter; dazu gehört auch die Fülle unseres Glaubens. Barmherzig sind wir, wenn wir von ihm und von Gott als dem Grund und der Quelle aller Barmherzigkeit erzählen.

Viele Menschen suchen und fragen heute wieder neu nach der Wurzel, die sie trägt, nach der Gemeinschaft derer, die ihnen auch in Krisen beistehen, nach einer Hoffnung für ihr Leben. Es entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, wirtschaftstaumeliges und konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Religiöse Fragen kehren zurück in die Mitte der Gesellschaft.

Als Christen, als christliche Gemeinden, als Kirche Jesu Christi wollen wir auf dieses Suchen mit dem antworten, was allein wir vertreten können: der Orientierung an Gottes Wirklichkeit.  Um der Barmherzigkeit willen ist es unsere Aufgabe, einen Raum für das Heilige zu öffnen, die Fähigkeit zu Glauben und Gebet zu erneuern, Menschen in der Mitte wie an den Grenzen ihres Lebens beizustehen. Als evangelische Christen bezeugen wir den Glauben an Gottes Barmherzigkeit so, dass er Freiheit und Mündigkeit, den aufrechten Gang und die Zuwendung zu den Schwachen erschließt.

V.

Gott gebe euch viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe. Diese Bitte aus dem Judasbrief ist wie eine Anleitung, sich in der neu erbauten Kirche umzuschauen, sich ihrer Geschichte zu erinnern und von hier aus hinauszublicken in unsere Welt. Die Dresdner Frauenkirche ist Ort der Liebe, Symbol des Friedens und Raum der Barmherzigkeit. Gott gebe viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe, damit Neugierige in diese Kirche hinein kommen und Zeugen des Evangeliums aus ihr heraus gehen.

Amen.