Predigt zum Neujahrstag

Wolfgang Huber (St. Marien zu Berlin, Berliner Dom)

I.

Wir schreiben das Jahr des Herrn 2006. Geschichte ist, was bis gestern noch aktuell war: das Jahr 2005. Der Schritt in ein neues Jahr ist getan. 

Dieser Schritt gehört nicht zu denen, die wir selber wählen. Wir haben vielmehr keine andere Wahl. Der Ablauf der Zeit diktiert den Wechsel der Jahre. Kommt daher der eigentümliche Zwiespalt, mit dem manche den Jahreswechsel begehen: zwischen der überschäumenden Freude, die im Knallen von Leuchtkörpern und Sektkorken gar nicht genug tun kann, und der resignierenden Feststellung, es gebe doch nichts Neues unter der Sonne.

Es stimmt jedoch nicht, dass alles ohnehin so bleibt, wie es war. Ob wir ein neues Jahr erreichen, liegt bei weitem nicht in unserer Hand. Was uns in ihm gelingt, steht in den Sternen. In welcher Weise wir das Ende dieses Jahres erreichen, kann niemand voraussagen. Was gibt uns Bestand? Wer verbürgt Zukunft?

Wir sind alle nachdenklicher geworden in dem Jahr, das hinter uns liegt. Wir spüren deutlich: Wirklichen Halt für unser Leben gewinnen wir nicht aus der Statistik der durchschnittlichen Lebenserwartung oder des üblichen Monatseinkommens, nicht aus der Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes oder dem Prickeln des jährlichen Erlebnisurlaubs. Halt für unser Leben haben wir nur, wenn wir uns all dem nicht ausliefern, sondern uns Gott in die Hände geben. Denn er spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

Unter diesem Wort steht unser Übergang in das neue Jahr. Und es taugt als Leitwort für ein ganzes Jahr. Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

II.

Dieses Wort kommt allerdings von weit her. Es stammt aus der Gründungsgeschichte des Volkes Israel. Es hat seinen Ort in der biblischen Erzählung, die davon berichtet, wie Israel aus der Sklaverei in Ägypten in das Land seiner Väter zurückkehrt. Mose hat es auf dem langen Weg durch die Wüste geführt. Er sieht das verheißene Land noch; doch seinen Fuß kann er nicht mehr in dieses Land setzen. Er stirbt vorher. Und dann heißt es zu Beginn des Buches Josua:

Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe. Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hethiter, soll euer Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

III.

Erst nach dem Tod des Mose gibt Gott das Signal zum Aufbruch: Zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk.

Damit endet eine Epoche. Der Jordan ist Symbol für das Ende wie für den Neuanfang. Wenn etwas über den Jordan gegangen ist, dann gibt es keinen Weg zurück. Wer von seinem Computer sagt, der sei über den Jordan, sagt damit: Der kommt bestimmt nicht zurück. Wer gar von einem Menschen sagt, der sei über den Jordan gegangen, wählt eine befremdliche Sprache; doch jeder weiß: Es gibt keinen Weg zurück.

Der Jordan bezeichnet einen point of no return. Ist er überschritten, hat etwas grundsätzlich Neues begonnen. Es gibt kein Zurück mehr in den Alltag altvertrauter Lebensgewohnheiten, weil eine neue Epoche beginnt. Doch es ist nicht der Schritt vom Intakten zum Kaputten, vom Heil zum Unheil, vom Leben zum Tod. Es ist genau umgekehrt: Es ist der Schritt vom Warten zur Erfüllung, von der Wüste ins gelobte Land, vom Zweifel zur Gewissheit. Diese Schwelle markiert der Jordan.

Das Bild passt zum Beginn eines neuen Jahres. Der point of no return liegt hinter uns. Wer noch einmal die Jahreszahl 2005 über einen Brief oder auf eine Rechnung schreibt, macht einen Fehler. Wir schreiben ein neues Jahr. Doch stellt dies auch den Beginn einer neuen Epoche dar?
Sicherheitshalber sagen manche, es werde sich sowieso nichts ändern. Die nüchterne Einschätzung der persönlichen Lage wird sie darin bestärken. Und der Blick auf die Großwetterlage tut das Seine. In der wichtigsten Aufgabe des Landes – der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit – zeigt sich keine Veränderung. Im Gegenteil: Die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre scheinen ohne größere Wirkung zu verpuffen.

Schon aus Selbstschutz stimmen viele in einer solchen Lage ihre Hoffnungen und Erwartungen herab: Nur keine falschen Versprechungen. Aber es kann auch sein, dass wir auf diese Weise die Schwelle gar nicht bemerken, die Chancen des Neuen ungenutzt verstreichen lassen. Wir versuchen, uns über den Jordan hinüberzumogeln und bleiben innerlich vor ihm stehen. Wir verweigern uns dem Neuen. Wir überhören Gottes Verheißung. Wir übersehen seine Treue.

Die Josua-Geschichte spricht eine andere Sprache. Gott lässt sein auserwähltes Volk nicht allein. Er verbürgt sich selbst für die Zukunft. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Gott erinnert damit an die Zeit in der Wüste, als er Mose und den Israeliten in Gestalt einer Wolken- und Feuersäule voranging; als er es speiste, obwohl niemand mehr mit Essbarem rechnete; als er Wasser entstehen ließ, wo nur Wüstensand und Wüstensteine zu sehen waren; als er dem Volk zum Zeichen seines Bundes die zehn Gebote ans Herz legte.

Die Erinnerung an diese Vorgänge stellt Josua in die Kontinuität mit Mose hinein. Mose aber hatte eigentlich nur die Verheißung fortgeführt, mit der Gott den umherziehenden Abram in seine Nachfolge berufen hatte: Ich bin der HERR, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat, auf dass ich dir dies Land zu besitzen gebe. In der Verheißung über die Generationen hinweg erweist sich die Treue Gottes. So wie Gott Israel durch das Schilfmeer gebracht hat, so wird er sein Volk auch über den Jordan und darüber hinaus geleiten.

Christen vertrauen darauf, dass sie durch Jesus Christus an Gottes Treue und seiner Verheißung Anteil haben. Im Jordan wurde Jesus getauft; so hat Gottes Verheißung in ihm auch einen Jordan überschritten. Deshalb erschallt die Botschaft von Gottes Treue und Verheißung nun bis an die Enden der Erde.

Wenn wir uns als Christen in das große Versprechen hineinnehmen lassen, das ursprünglich an den Übergang Israels in das Land der Verheißung geknüpft ist, dann bindet uns das nur umso enger an das Existenzrecht des Staates Israel, der sich in unserer Zeit auf diesem historischen Boden wieder gebildet hat. Wir können es deshalb nicht zulassen, wenn dieses Existenzrecht bestritten und zu diesem Zweck sogar Ausmaß und Grauen des Mordes am europäischen Judentum geleugnet werden. Aber ebenso wichtig wie der Widerspruch gegen einen solchen neuen Antisemitismus ist die Pflicht, für Frieden und Gerechtigkeit, die großen biblischen Verheißungen schlechthin, auch in diesem Land der Verheißung selbst einzutreten. Subversive Kriegführung auf der einen und gewaltsame militärische Interventionen auf der anderen Seite belasten das Verhältnis zwischen Israel und Palästina nun schon seit Generationen. Nicht auf einer der beiden Seiten, sondern zwischen ihnen ist der Raum, in dem das Werk der Versöhnung gelingen muss. Es ist entscheidend, dass Menschen in diesem wie in anderen Konflikten die Schwelle ihrer Angst überwinden und aufstehen, um die nächsten Schritte zu tun.

IV.

Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Diese Gewissheit trägt uns über die Schwellen unseres Lebens, auch über die Schwelle zu einem neuen Jahr. Die Gewissheit, dass Gott uns nicht fallen lässt, gehört zur eisernen Ration unseres Lebens. Sie hilft uns dabei, zuversichtlich in ein neues Jahr zu gehen.

Ohne solche Zuversicht kann keine Gemeinschaft leben. Menschen brauchen Vertrauen in die Zukunft, wenn deren Gestaltung gelingen soll. Noch immer stellen allerdings viele hohe Anforderungen an die Gestaltung der Zukunft – vor allem durch die Politik – , lassen es aber selbst an Vertrauen in die Zukunft fehlen.

Anders wird es erst, wenn wir uns wieder in den Strom dieser Verheißung hineinstellen: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Man muss über den Weitblick derer staunen, die vor langer Zeit dieses biblische Wort über das Jahr 2006 gestellt haben. Denn es stimmt: Viele begreifen wieder neu, dass das Vertrauen auf Gott die entscheidende Zukunftskraft ist. Sie merken, dass die Zukunft nur meistert, wer einen andern als Meister über sein Leben anerkennt. Deshalb ist es für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft wichtig, dass der Glaube wieder als Zukunftskraft wahrgenommen wird. Auch darum werde ich nicht aufhören, für einen gleichberechtigten Religionsunterricht in unserer Stadt Berlin einzutreten.

Sei nur getrost und unverzagt. Gleich dreimal bekommt Josua diesen Satz zu hören. Es ist die Haltung, die den Schritt über den Jordan nicht nur still erleidet, sondern diesen Schritt bewusst geht. Es ist die Haltung, die sich nicht durch Schwierigkeiten um das eigene Engagement betrügen lässt, sondern aus dem Vertrauen auf Gottes Verheißung weitergeht – eben getrost und unverzagt.
Wie lange musste beispielsweise der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche gegen pessimistische Stimmen verfochten werden – und was für ein Zeichen des Glaubens ist daraus heute geworden!

Nur wer sich in das Land von Morgen offenen Herzens, in liebevoller Absicht und unter dem Leitstern von Gottes Gebot hineinbegibt, wird dieses Land von Morgen auch mit gestalten können. Ob im persönlichen Leben oder im gesellschaftlichen Miteinander: immer geht es darum, den Schritt über den Jordan im Vertrauen auf Gottes Treue und Verheißung zu wagen. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.
Amen.