850 Jahre Cottbus - Predigt im Ökumenischen Festgottesdienst, Oberkirche St. Nikolai zu Cottbus (Josua 1,5a)

Wolfgang Huber

I.

Ich freue mich, am Beginn dieses Jubiläumsjahres in Cottbus zu sein, in der Stadt, die seit Menschengedenken den Krebs als Wappentier hat. Süßwasserkrebse sind eher anspruchslos, so heißt es in einschlägigen Fachbüchern. Sie schätzen sauberes und sauerstoffreiches Wasser. In Biotopen, die für eine artgerechte Haltung zu klein sind und zu wenig Reviere und Versteckmöglichkeiten bieten, kann es schon zu Revierstreitigkeiten untereinander kommen. Die großen Scheren haben etwas Respekteinflößendes; die harte Schale schützt gegen so manche Ecken und Kanten des Lebens. Und die erstaunlich schnelle Rückwärtsbewegung für den Notfall ist geradezu beeindruckend.

Weniger bekannt ist, dass Krebse als hervorragende Kletterer gelten. Sollten sie einmal gefangen werden, so genügt Ihnen ein Schlauch oder auch nur der berühmte Strohhalm Hoffnung, um daran hinaufzuklettern und aus dem Plastikeimer oder aus jeder anderen Art von Gefängnis auszubrechen. Krebse haben zwar einen Panzer aus Chitin, aber sie sind allergisch gegen jede Form von Plastination. Krebse lieben die Freiheit. Das macht sie sympathisch. Viele Krebse sind starke „Gräber“. Sie stehen in dem Ruf, sich ihre Lebenswelt nach ihren Vorstellungen umzugestalten.

Auch den Cottbussern wird diese Eigenschaft nachgesagt. Bereits vor 176 Jahren - am 3. August des Jahres 1830 - ließ sie sich erkennen. Damals feierten die Cottbusser ihr 900-Jahr-Fest, verbunden mit dem Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Obwohl diesem 900-Jahr-Jubiläum ein ausreichender historischer Nachweis fehlte, entschloss man sich zum Feiern, ließ sich nicht beirren und läutete mit allen Glocken am Vorabend die Jubelfeier ein. Mit der Stadtkapelle und der Schützengilde erfolgte ein Zapfenstreich. Frohsinn und gute Stimmung herrschten bei allen. War doch jeder stolz, in einer 900-jährigen Stadt zu leben. Hundert Jahre später hätte man demgemäß tausend Jahre Cottbus feiern können; darauf verzichtete man lieber; denn eine historische Urkunde gab es dafür nicht. Und jetzt erst einmal 850 Jahre – aber das auf einer gesicherten geschichtlichen Grundlage. Es dauert noch ein bisschen, dann werden die 900 Jahre zum zweiten Mal gefeiert werden.

II.

Wir schreiben das Jahr des Herrn 2006. Die Stadt Cottbus begeht das 850. Stadtjubiläum. In der Evangelischen Oberkirche St. Nikolai zu Cottbus loben wir Gott, danken ihm für alle Bewahrung und bringen vor ihn auch alle Anfechtungen, die mit einer so langen Geschichte verbunden sind. Viel Fantasie wird in die Gestaltung dieses Jahres gesteckt; und sie verbindet sich mit der nachdenklichen Frage, wie es weitergeht. Was gibt Bestand über die Schwelle eines solchen Jubiläums hinaus? Wer verbürgt Zukunft?

Wir sind alle nachdenklicher geworden. Wir spüren deutlich: Das Datum der ersten urkundlichen Erwähnung öffnet noch keine Zukunft. Vertrauen in die Zukunft einer Stadt entsteht nicht schon dadurch, dass sie eine lange Geschichte hat. Es geht einer Stadt nicht anders als jeder und jedem von uns. Wirklichen Halt für unser Leben gewinnen wir nicht aus der Statistik der durchschnittlichen Lebenserwartung oder des üblichen Monatseinkommens, nicht aus der Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes oder dem Prickeln des jährlichen Erlebnisurlaubs. Halt für unser Leben haben wir nur, wenn wir uns all dem nicht ausliefern, sondern uns Gott in die Hände geben. Denn er spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Unter diesem Wort steht das Jahr 2006. Und es taugt als Leitwort für ein ganzes Jubiläumsjahr. Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

Dieses Wort kommt stammt aus der Gründungsgeschichte des Volkes Israel. Es hat seinen Ort in der biblischen Erzählung, die davon berichtet, wie Israel aus der Sklaverei in Ägypten in das Land seiner Väter zurückkehrt. Mose hat es auf dem langen Weg durch die Wüste geführt. Er sieht das verheißene Land noch; doch seinen Fuß kann er nicht mehr in dieses Land setzen. Die Leitung geht an die nächste Generation über. Josua wird der Führer Israels auf dem Weg in das gelobte Land, auf dem Weg über den Jordan. Jenseits des Jordans hatte Mose schon das Land seiner Mütter und Väter gesehen; aber betreten konnte er es nicht mehr. Denn erst nach seinem Tod gibt Gott das Signal zum Aufbruch: Zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk.

Damit endet eine Epoche. Der Jordan ist Symbol für das Ende wie für den Neuanfang. Wenn etwas über den Jordan gegangen ist, dann gibt es keinen Weg zurück. Wer von seinem Computer sagt, der sei über den Jordan, sagt damit: Der kommt bestimmt nicht zurück. Wer gar von einem Menschen sagt, der sei über den Jordan gegangen, wählt eine befremdliche Sprache; doch jeder weiß: Es gibt keinen Weg zurück.

Der Jordan bezeichnet einen point of no return. Ist er überschritten, hat etwas grundsätzlich Neues begonnen. Es gibt kein Zurück mehr in den Alltag altvertrauter Lebensgewohnheiten, weil eine neue Epoche beginnt. Doch es ist nicht der Schritt vom Intakten zum Kaputten, vom Heil zum Unheil, vom Leben zum Tod. Es ist genau umgekehrt: Es ist der Schritt vom Warten zur Erfüllung, von der Wüste ins gelobte Land, vom Zweifel zur Gewissheit. Diese Schwelle markiert der Jordan.

Heutzutage stimmen viele schon aus Selbstschutz ihre Hoffnungen und Erwartungen herab: Nur keine falschen Versprechungen. Niemand soll zu laut behaupten, irgendetwas würde besser. Man kann dabei so leicht enttäuscht werden. Dabei kann es sein, dass wir auf diese Weise die Schwelle gar nicht bemerken, die Chancen des Neuen ungenutzt verstreichen lassen. Wir versuchen, uns über den Jordan hinüberzumogeln und bleiben innerlich vor ihm stehen. Wir verweigern uns dem Neuen. Wir überhören Gottes Verheißung. Wir übersehen seine Treue.

Christen vertrauen darauf, dass sie durch Jesus Christus an Gottes Treue und seiner Verheißung Anteil haben. Im Jordan wurde Jesus getauft; so hat Gottes Verheißung in ihm auch einen Jordan überschritten. Deshalb erschallt die Botschaft von Gottes Treue und Verheißung nun bis an die Enden der Erde. Deshalb zählen wir die Jahre nach Christi Geburt, auch das Jahr 1156, in dem Cottbus zum ersten Mal urkundlich erwähnt wird, und ebenso auch das Jahr 2006, in dem wir dieses Jubiläum feiern. Es ist wahr: Keiner weiß, was uns die verbleibenden 350 Tage dieses Jahres bringen werden; niemand kann voraussagen, was in den nächsten fünfzig Jahren geschieht, bis Cottbus zum zweiten Mal sein neunhundertjähriges Stadtjubiläum feiert. Und was die nächsten 850 Jahre bringen mögen – also der gewaltige Zeitraum, den die Stadtgeschichte von Cottbus bereits umfasst – , das übersteigt all unsere Vorstellungskraft. Auf die Zukunft dieses Jahres, auf den Weg in die nächsten fünfzig Jahre, auf den Blick in eine offene und unbekannte Zukunft können wir uns überhaupt nur einlassen, weil uns eine andere Kraft hält, weil sich unser Vertrauen nicht auf unser eigenes Vermögen stützt, weil wir uns nicht zu Herren der Zukunft aufzuschwingen brauchen.

III.

Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Diese Gewissheit trägt uns über die Schwellen unseres Lebens, auch über die Schwelle dieses Jubiläums. Die Gewissheit, dass Gott uns nicht fallen lässt, gehört zur eisernen Ration unseres Lebens.

Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Man muss über den Weitblick derer staunen, die vor langer Zeit dieses biblische Wort über das Jahr 2006 gestellt haben. Denn es stimmt: Viele begreifen wieder neu, dass das Vertrauen auf Gott die entscheidende Zukunftskraft ist. Sie merken, dass die Zukunft nur meistert, wer einen andern als Meister über sein Leben anerkennt. Deshalb ist es für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft wichtig, dass der Glaube wieder als Zukunftskraft wahrgenommen wird.

Sei nur getrost und unverzagt. So wird diese Haltung in der Josua-Geschichte erläutert. Es ist die Haltung, die den Schritt über den Jordan nicht nur still erleidet, sondern diesen Schritt bewusst geht. Es ist die Haltung, die sich nicht durch Schwierigkeiten um das eigene Engagement betrügen lässt, sondern aus dem Vertrauen auf Gottes Verheißung weitergeht – eben getrost und unverzagt.

Nur wer sich in das Land von Morgen offenen Herzens, in liebevoller Absicht und unter dem Leitstern von Gottes Gebot hineinbegibt, wird dieses Land von Morgen auch mit gestalten können. Ob im persönlichen Leben oder im gesellschaftlichen Miteinander: immer geht es darum, den Schritt über den Jordan im Vertrauen auf Gottes Treue und Verheißung zu wagen. In diesem Vertrauen kann Zuversicht dieses Jubiläumsjahr prägen. Zuversicht wünsche ich der Stadt Cottbus im Blick auf ihre prägende Bedeutung für die Lausitz. Zuversicht wünsche ich ihr als ein Standort von Wissenschaft und Innovation. Zuversicht wünsche ich ihr im Blick auf die Menschen, die hier ihre Heimat sehen und Arbeit finden wollen, Zuversicht im Blick auf die Familien, die hier zu Hause sind und ihren Kindern ein Zuhause geben wollen. Denn es sind unsere Kinder, die ein nächstes Jubiläum von Cottbus zu gestalten haben. An uns liegt es, ihnen das Leben zu schenken und Lebensraum zu gewähren. In all dem wird Vertrauen konkret, das Vertrauen zu dem Gott, der zu uns sagt: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

Zur 850-Jahr-Feier von Cottbus tauchen auf den Straßen und Plätzen der Stadt Krebsskulpturen auf, die das ungewöhnliche Cottbuser Wappentier ganz unterschiedlich und fantasievoll interpretieren. Die 1,80 m hohen Holzskulpturen künden auf sympathische Weise vom Stolz der Bürgerinnen und Bürger. Und sie erinnern wie nebenbei an einen Fluss, den Jordan, an dessen Ufer alles begann, als Jesus sich taufen ließ, als er aufbrach in Treue zu Gott. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Amen.