Predigt am Ostersonntag Im Berliner Dom und in St. Matthäus zu Berlin (1. Samuel 2,1-2.6-8a)

Wolfgang Huber

1.
Auf die Spur einer Frau führt dieser Ostertag. Von Hanna hören wir, von einer Frau, die sich nach einem Kind sehnt und deren Sehnen erfüllt wird. Da betet Hanna und spricht:

Mein Herz ist fröhlich in dem HERRN, mein Haupt ist erhöht in dem HERRN. Mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue mich deines Heils. Es ist niemand heilig wie der HERR, außer dir ist keiner, und ist kein Fels, wie unser Gott ist. Der HERR tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Der HERR macht arm und macht reich; er erniedrigt und erhöht. Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Ehre erben lasse.

Den Spuren einer Frau folgen wir heute. Das ist für einen Ostertag nicht ungewöhnlich. Denn Frauen weisen uns Christen auf den österlichen Weg. Frauen waren es, die als erste Jesu leeres Grab entdeckten. Maria von Magdala,  Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome kamen nach der Schilderung der Evangelien am dritten Tag nach dem Kreuzestod Jesu in der Frühe des Ostersonntags an seine Grabstätte. Sie wollten den Leichnam umsorgen. Ihre Frage, wer den Stein für sie vom Grab entfernen könne, kam zu spät. Denn der Stein war bereits beiseite geschoben; das Grab war leer. Schon bald erschallte es unter den Jüngerinnen und Jüngern: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden.

Frauen weisen den Weg zum Auferstehungsjubel. Sie sind die Botinnen einer Welt, in welcher sich das Leben stärker erweist als der Tod. Frauen verkünden als erste einen neuen Blick auf unsere Welt: Einen Blick, in dem die Hoffnung mehr Raum gewinnt als die Schwermut, der Dank größer wird als die Klage, die Verzagtheit dem Mut zu neuem Leben weicht.

Das Osterfest 2006 erinnert uns an eine weitere Frau: eben an Hanna, die nach dem Bericht des 1. Samuelbuchs Hunderte von Jahren vor der Auferstehung Christi eine ganz persönliche Auferstehung erlebte. Nach langen Jahren, in denen sie unter ihrer Kinderlosigkeit gelitten hatte, wurde ihr erster Sohn Samuel geboren. Durch diese Geburt veränderte sich für Hanna die Welt  Weil sie kinderlos war, hatte sie sich fast als tot empfunden; doch die Welt des Todes verlor ihre Kraft. Gott selbst führte sie durch die Geburt ihres Kindes aus der Welt des Todes heraus. In Jesus Christus und in seiner Auferstehung kommt diese Hoffnung der Hanna für uns alle an ihr Ziel.

2.
Hannas Jubel über ihr Kind und die Osterfreude über das Geschenk neuen Lebens lassen mich erschrecken über die Zahl der Mütter und Väter, die das Leben nicht annehmen können und ein Kind abtreiben lassen. Offenbar trauen sie es sich nicht zu, in unserer Welt ein Kind groß zu ziehen. Die Osterbotschaft ruft, ja rüttelt dazu auf, alles Menschenmögliche dafür zu tun, damit das Leben den Vorrang erhält vor dem Tod und ein neuer Blick auf das Aufwachsen von Kindern in unserer Welt Raum gewinnt.

In Hannas Leiden findet sich das Leiden vieler Frauen von heute wieder: das Leiden von Frauen, die kinderlos geblieben sind. Die Gründe dafür sind heute sehr vielfältig. Die einen finden nicht den richtigen Partner; deshalb werden in der neu entflammten Familiendiskussion wir Männer ganz besonders nach unserer Verantwortung für die niedrige Geburtenrate befragt. Die anderen haben den Kinderwunsch angesichts der Anforderungen in Ausbildung und Beruf zunächst zurückgestellt; und plötzlich merken sie schmerzlich, wie ihnen die Erfüllung dieses Wunsches versagt wird.
Von Hanna heißt es lapidar: Hanna hatte keine Kinder. Der Verlauf der Erzählung legt nahe, dass dies biologische Ursachen hatte. Doch ihr Kinderwunsch blieb ungebrochen und ihre Verzweiflung dementsprechend groß. Sie klagt, und sie betet zu Gott.

3.
Not lehrt beten, sagt ein Sprichwort. Das klingt abschätzig. Als ob wir nicht ohnehin wüssten, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in äußerer und äußerster Not. Bei manchen scheint schier Schadenfreude darüber aufzukommen, dass ein Mensch sich wenigstens in der Not so an Gott wendet, wie das eigentlich im ganzen Leben der Fall sein sollte. Doch Beten ist weder eine moralische Pflichtübung noch ein heimlicher Gottesbeweis. Wer betet, legt die Sorge, die ihn quält, aus den eigenen Händen. Er beruft sich auf Gott, den Herrn über Leben und Tod.  Beten heißt hoffen. Wer betet, gewinnt einen neuen Blick auf sein Leben, einen Blick, frei von Sorge und Angst.

Aber das Beten versteht sich nicht von selbst. Es muss gelernt werden. Es bedarf der religiösen Bildung. Nur wer einmal beten gelernt hat – zum Beispiel das Gebet, das Jesus lehrt – , dem wird es auch in der Not zur Verfügung stehen. Deshalb ist es so wichtig, dass in den Familien gebetet wird, dass wir unterrichtet werden in Kirche und Schule, dass Kinder beten lernen und Erwachsene es nicht verlernen. Und ebenso wichtig ist es, dass das gemeinsame Gebet der Gemeinde im Gottesdienst auch zum persönlichen Gebet wird, dass die Stille genutzt wird zum Gespräch mit Gott. Wer beten gelernt hat, hat eine Hilfe in der Not.

4.
An Hanna lässt sich studieren, wie gut Beten tut – gerade in der Not und aus der Not heraus. Offenbar vertieft sie sich in einer derart intensiven Weise ins Gebet, das sich der zuständige Priester zu der Mutmaßung provoziert fühlt, sie sei betrunken. Als er aber auf Nachfrage von ihr hört, dass sie nichts weiter tue, als ihr übervolles Herz vor Gott auszuschütten, tut er das einzig Richtige – er segnet sie. Geh hin mit Frieden; der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet hast (1 Samuel 1, 17).

Von diesem Moment an öffnet sich Hanna wieder für ihre Umwelt. Da ging die Frau ihres Weges und aß und sah nicht mehr so traurig drein (v. 18). Es hat ihr gut getan zu beten. Ihr Gebet hat sie  des eigenen Weges vergewissert. Es hat ihren Blick freier gemacht.

Und noch mehr geschieht. Hanna erlebt, womit sie wohl nicht mehr gerechnet hätte: Sie wird schwanger. Sie spürt am eigenen Leib, wie Leben neu beginnt. Für Hanna öffnet sich eine neue Welt. Sie kann danken und frohlocken. Ihr Jubellied misst die ihr bekannte Welt mit einem neuen Blick. Die Düsternis ist vergangen. Frohsinn und Erleichterung prägen ihr Lied, das die Melodie des Neuen Testamentes vorwegnimmt: Gott hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium (2. Timotheus 1,10).

5.
Die Hoffnung der Hanna ist in Jesus Christus an ihr Ziel gekommen. Armut und Reichtum verlieren ihre Bedeutung, offenbar wird der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit (Kolosser 1,27). Das Niedrige und Dürftige entkleidet er der gleich machenden Schicht aus Staub – so wie nach einer schrecklichen Flut Häuser und Straßen von Schlamm und Dreck befreit wieder in Glanz und je eigener Würde erstrahlen können. Gott ist der Bauherr der Erde, der Welt Grundfesten sind des Herrn (v. 8). Der Jubel der Hanna lädt ein, sich dieser Welt mit neuem Blick zuzuwenden.

Hannas Blick ist der Blick von Ostern. Sie schaut auf den Neubeginn des Lebens für sich, wie wir auf den Neubeginn des Lebens für uns alle schauen dürfen. Der Osterjubel schenkt uns einen neuen Blick auf die Welt. Wer das Osterfest bewusst begeht, der feiert an jedem Sonntag ein kleines Ostern, ja jeder Morgen wird für ihn zum Widerschein der Auferstehung. Das Wunder, dass wir immer wieder neu mit dem Leben beginnen dürfen, ist das große Geheimnis unserer Existenz. Was alles könnte uns niederdrücken: Sorgen über den Lauf der Welt, Kümmernisse des eigenen Lebens, Zwietracht im engsten Lebensumkreis. Aus all dem stehen wir immer wieder auf, weil Christus auferstanden ist. Weil er nicht bei den Toten geblieben ist, brauchen auch wir nicht im Tod zu bleiben.

Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist wie ein Signal zum Aufbruch in eine neue Weltordnung. Die Osterbotschaft gibt dem Gang dieser Welt die Richtung vor. Sie beugt sich nicht vor all dem, was in unserer Welt unerträglich ist und was jeden einzelnen in Not und Verzweiflung treibt. Seit der Auferstehung Jesu bewegt sich die Welt auf einen Sonnenaufgang zu. Ihm geht sie entgegen, bis die Morgendämmerung der Liebe Gottes voll und klar über ihr aufgegangen sein wird und Gott sein wird alles in allem.

6.
Hanna, diese Frau des Alten Testaments, die auf Samuel wartete, als das niemand mehr erwartete, diese Hanna weist voraus auf Christus, der unserer Welt einen neuen Blick auf sich selbst ermöglicht hat.

Etwas zu sehen, was andere nicht sehen können, gehört zu den größten Hoffnungen und Versuchungen jedes Menschenlebens. Der neue Roman von Cecilia Ahern, einer kaum 25jährigen Autorin, zieht genau dadurch so viele Menschen in seinen Bann. Ivan wird Kindern zum Freund. Doch für Erwachsene ist er unsichtbar. Sie können nicht ergründen, warum ihr Kind plötzlich voller Glücksüberschwang ist. Denn sie können den Spielkameraden nicht sehen; von den Gesprächen, die sie für Selbstgespräche halten, sind sie entsprechend irritiert. Ich sehe was, was du nicht siehst ... ? Der österliche Blick ist ein Kinderspiel, mit dem wir einander an der Weltordnung der Auferstehung teilhaben lassen.

Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Hoffnung. Ich sehe nicht nur das Niederschmetternde und die Not in der Welt. Sondern ich sehe, wie Menschen aus ihrer Einsamkeit ausbrechen und den Mut fassen, einander zu stärken.

Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Dank. Ich sehe nicht nur den Verlust und die Vergangenheit, sondern ich sehe, dass das Erlebte ein Geschenk ist, das Kraft dazu gibt, heute und morgen zu leben.

Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Gottes lebendiger Geist. Er ruft uns zu: Freut euch und blickt mit den Augen des Auferstandenen in eure Welt. Seht mitten unter euch die Spuren Gottes, der in Christus für euch auferstanden ist.

Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist ein Signal zum Aufbruch in eine neue Ordnung des Lebens. Wir alle sind aufgefordert, an ihr teilzunehmen und deshalb auch daran mitzuwirken, dass jeder Mensch willkommen ist: Kinder und Alte, Frauen und Männer, Einheimische und Fremde. Willkommen im Namen dessen, der von den Toten auferstand und Leben schenkt. Auch uns.

Ja, Christus ist auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Halleluja. Amen.