Predigt am Ostermontag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin

Wolfgang Huber

1.
Der Tod ist verschlungen vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus. So hören wir die österliche Freudenbotschaft an diesem zweiten Ostertag 2006. In den Worten des Apostels Paulus ist sie uns als Epistellesung entgegentreten. Aber sie will nicht nur gehört werden. Sie will einziehen in unsere Herzen und Sinne. Die Ostertage geben uns Zeit und Raum dafür, uns dem Kern unseres Glaubens zuzuwenden. Sie unterbrechen unsere alltäglichen Wege und führen uns zu der Frage nach dem Sinn unseres Lebens.

In Liedern, Gebeten und Bildern ist die biblische Antwort auf diese Frage aufbewahrt und aufgehoben. In ihnen geben wir unseren  Glauben weiter von Generation zu Generation. Unsere Vorfahren lassen uns mit unseren Fragen nicht allein. Schlimm wäre das Verstummen, schlimm wäre, wenn man nur noch sagte, was man selbst meint, sagen zu können. Schlimm wäre es, wenn wir denen nach uns nicht weitergäben, was wir selbst empfangen haben.

Es kommt vor, dass man eher für die Menschen glauben kann, die man liebt, als für sich selbst. Bisweilen lassen wir die Geschichten von der Entmachtung des Todes für andere eher gelten als für uns selbst. Die Anderen brauchen es, dass wir für sie glauben. Aber wir brauchen es auch, dass andere für uns glauben. Deshalb wurde der Apostel Paulus nicht müde, die Gemeinden, die er gegründet hatte, an seinem Glauben Anteil nehmen zu lassen. Auch aus der Ferne. So entstanden seine Briefe, auch der Brief an die Korinther, der uns heute in unserem Nachdenken leitet.

Wie gut, dass wir mit unserem Glauben nicht allein sind. Wie gut, dass niemand von uns allein für den Glauben an die Bergung des Lebens in Christi Auferstehung einstehen muss. In der versammelten Gemeinschaft der Glaubenden lässt sich erleben, dass wir unser Licht an der Osterkerze entzünden können. Wir geben den warmen und hellen Schein weiter an die Menschen neben uns. Auf diese Weise entsteht ein Glanz, der die Finsternis vertreibt – ein Glanz, der alles verändert. Wie gut, dass uns dafür zwei österliche Tage gegeben sind. Sonst ginge Ostern zu schnell vorbei.

Gerade haben meine Frau und ich das in den USA erlebt, dem vielgepriesenen, frommen Land. Kein Karfreitag, kein Ostermontag – Ostern geht schnell vorbei. Ob wir hierzulande überhaupt wissen, wie gut wir es haben, dass wir uns Zeit dafür nehmen können, unsere Hoffnung in der Auferstehung Christi zu bergen?

2.
Im Alltag haben wir viel zu tun. Wir leben mit Berliner Tempo. Viele Fragen treiben uns um. Die Entscheidung über persönliche Lebenspläne gehört genauso dazu wie die Sorge um zu erwartende Reformen.  Dringend erhoffte Antworten auf die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit beschäftigen uns ebenso wie die Maßnahmen, durch die Alterssicherung und Gesundheitsvorsorge gewährleistet werden sollen. Nicht nur die Zukunft unseres Landes, sondern ebenso die Zukunft des persönlichen Lebens hängen davon ab. Hier in Berlin wird der Pulsschlag solcher Veränderungen besonders intensiv wahrgenommen.

Innerhalb der letzten fünfzehn Jahre fanden sich weltweit rund drei Milliarden Menschen neu in die globalisierte Marktwirtschaft einbezogen. Das ist etwa die Hälfte der Weltbevölkerung – Menschen, die vorher abgeschottet lebten und handelten. Die Zeiten, in denen die USA, Japan und Westeuropa den Welthandel weitgehend allein unter sich aufteilen konnten, sind längst vorüber. Russland und Osteuropa, Indien, China und zahlreiche andere Länder wollen im globalen Gefüge mitwirken und Einfluss auf die Spielregeln nehmen. Eine derart tiefgreifende Veränderung kann nicht ohne Einfluss auf unser Leben bleiben.

Parallel dazu nehmen wir eine sich schon länger anbahnende Veränderung wahr, die bis 1989 vom Ost-West-Konflikt überlagert wurde und danach Jahre lang von den Herausforderungen durch die Wiedervereinigung unseres Landes verdeckt war. Jetzt aber kann niemand mehr das große Thema übersehen, das in unserem Verhältnis zum Islam liegt, einer anderen großen Weltreligion, die nicht nur in anderen Ländern, sondern auch in unserem eigenen Land Raum greift. Immer deutlicher spüren wir das zähe Ringen darum, was diese Veränderung für das Verständnis unserer Kultur und unserer kulturellen Beheimatung bedeutet. Am Beispiel der Rütli-Schule in Neukölln ist uns deutlich geworden, welche Folgen es hat, wenn die Integrationsbemühungen dort scheitern, wo sie am schwierigsten sind, nämlich an den Hauptschulen dieser Stadt. Daran, wie in Berlins weiterführenden Schulen der Religionsunterricht an den Rand gedrängt werden soll, kann man sehen, wie zwiespältig sich politische Entscheidungen auf die Fragen kultureller und religiöser Beheimatung auswirken. Dabei kann ein staatlicher Ethik-Unterricht den Einfluss des Islam auf junge Menschen nicht bannen; er führt allenfalls dazu, dass die Kenntnis der Überlieferung, in der die Mehrheit der Menschen zu Hause ist, des Christentums nämlich, weiter schwindet. Welche Konflikte uns in diesem Bereich noch bevorstehen, war in diesen Tagen auch beispielhaft an dem Gerichtsurteil im so genannten „Ehrenmordprozess“ an der Deutsch-Türkin Hatun Sürücü abzulesen.

Vorgänge sind das, die uns irritieren und Fremdheitsgefühle auslösen. Wer versucht, sich im Islam kundig zu machen, stößt beispielsweise darauf, dass ein Moslem sein Leben lang gute Werke tun muss, um ein Anrecht auf ein Leben nach dem Tod zu erwerben. Eine Garantie gebe es freilich nicht, so heißt es; denn alles hänge an der souveränen Entscheidung Allahs. Und diese Entscheidung falle erst am Jüngsten Tag. Manche lehren jedoch einen anderen Weg, sich eine Garantie für das Paradies zu verschaffen. Er besteht darin, im Kampf gegen die Feinde der Muslime zu sterben. Wer auf diese Weise stirbt, müsse nicht erst auf den jüngsten Tag warten; er komme sofort und direkt ins Paradies. Die jeweiligen Bestattungsrituale bezeugen diesen Unterschied. Im Normalfall wird ein Toter gewaschen und in ein besonderes Leinen gehüllt. Ein Djihad-Kämpfer wird dagegen so begraben, wie er im Kampf gestorben ist.

Solche Verfügungsansprüche über Gottes letztes Urteil sind uns fremd. Zur reformatorischen Botschaft wie zu den Einsichten der Aufklärung gehört die befreiende Einsicht, dass kein Mensch über Gottes letztes Urteil verfügt. Kein Mensch erreicht von sich aus Unsterblichkeit.

3.
In dem Predigtabschnitt aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther, den wir vorhin als Epistellesung gehört haben, setzt sich der Apostel mit Menschen auseinander, die die Auferstehungsbotschaft als Heilsgarantie für sich in Anspruch nehmen wollen. Ewiges Leben, so sagen sie, sei nur denen verbürgt, die bei der Wiederkunft des auferstandenen Christus noch am Leben sind und so deren Zeugen werden können. Wer dagegen schon vor der Wiederkunft Christi gestorben ist, hat nach dieser Denkweise auch an der Auferstehung keinen Anteil. Eine grausame Logik ist das. Die damalige Gemeinde musste diese Logik spalten – in vermeintliche Heilsbesitzer und sichere Heilsverlierer. Alle Generationen seitdem würden sich, folgte man dieser Logik, auf der Seite der Heilsverlierer finden. Und wir?

Paulus erinnert die Gemeinde an das Evangelium, dessen Glanz ihn einst vor Damaskus vom Pferd stürzen ließ und dessen Wahrheit sein ganzes Leben veränderte. Er gibt weiter, was er empfangen hat. Mehr tut er nicht – nur das Empfangene weitergeben: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden und ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift.

Nun stehen wir in der Kette derer, die von Vorfahren oder Vorbildern im Glauben das Evangelium empfangen haben. An uns liegt es, ob wir im Alltag unseres Lebens Gott die Treue halten und den Glanz des Evangeliums rühmen, mit ganzem Herzen, mit aller Kraft und mit unserer ganzen Seele. Das tun wir aber nur, wenn wir dieses Evangelium auch für die andern gelten lassen. Wer immer das Evangelium als Waffe gegen andere wendet, verstößt gegen seine Wahrheit. Wer seines Heils dadurch sicher werden will, dass er andere von diesem Heil ausschließt, baut auf Sand.

Die Botschaft vom Sieg des Lebens über den Tod gilt allen. Der gekreuzigte und auferstandene Christus bürgt für den Willen Gottes, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Nicht dass wir aus dem Leben gerettet werden, sondern dass unser Leben gerettet werden, ist der Sinn der Auferstehungsbotschaft. Erst dadurch gewinnt unser Leben in seiner Endlichkeit einen unverbrüchlichen Sinn. Einen Sinn, von dem niemand ausgenommen ist.

4.
In Hamburg fand unlängst auf Initiative der Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunz“ eine geheimnisvolle Verwandlung statt. Starfotografen, Profis aus der Modebranche und Hersteller teurer Markenartikel ließen gemeinsam eine Hochglanzbroschüre herstellen. Hübsche Männer und Frauen warben für Kleidung, Uhren, Schuhe und Schmuck. Erst auf den zweiten Blick nahm man wahr, dass die Mode in dieser Broschüre von Menschen präsentiert wurde, die ansonsten als Obdachlose auf Hamburgs Straßen leben und von denen, die sich für Mode interessieren, eher geschnitten werden. Ein frischer Haarschnitt, Köperpflege, Kosmetik und die Kleider vor dem entsprechenden Hintergrund sorgten für eine überraschende Verwandlung. Eine österliche Verwandlung in einer durch und durch diesseitigen Form.

Die österliche Freude ist der Welt zugewandt. Sie lebt aus der Gewissheit, dass Jesus Christus dem Tod die Macht genommen hat. Deshalb herrscht der Tod nicht mehr über unser Leben. Keinen Menschen brauchen wir deshalb zu schneiden. Keinem sprechen wir den Zugang zu Gottes Güte ab.

Dietrich Bonhoeffer hat es auf seine Weise formuliert: Der auferstandene Christus trägt die neue Menschheit in sich, das letzte herrliche Ja Gottes zum neuen Menschen. Zwar lebt die Menschheit noch im Alten, aber sie ist schon über das Alte hinaus, zwar lebt sie noch in einer Welt des Todes, aber sie ist schon über den Tod hinaus, zwar lebt sie noch in einer Welt der Sünde, aber sie ist schon über die Sünde hinaus. Die Nacht ist noch nicht vorüber, aber es tagt schon.

Österlich zu leben heißt, das letzte herrliche Ja Gottes vernommen zu haben und die Freude darüber nicht für sich zu behalten. Deshalb stimmen wir ein in die Zuversicht des Apostels: Gott aber sein Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus. Darum, meine lieben Schwestern und Brüder, seid fest, unerschütterlich und nehmt immer zu in dem Werk des Herrn, weil ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn. Amen.