Predigt zu Matthäus 20,1-16 im Festgottesdienst anlässlich des 130. Jahresfestes der Karlshöhe unter dem Motto „Arbeit neu begreifen“

Wolfgang Huber

Der heutige Sonntag ist, folgt man den Medien, der „Weltlachtag“. Hier in Ludwigsburg und in Württemberg insgesamt ist man auf einen solchen Tag nicht angewiesen. Fröhlichkeit ist hier verbreitet, ohne dass ausdrücklich erklärt wird, wie die Lachmuskeln funktionieren und warum Lachen gesund ist. Zu dieser Fröhlichkeit besteht auch viel Grund. Wenn man an diesem herrlichen Sonntag im Mai Ludwigsburg mit seinem blühenden Barock sieht, wenn man über die Wilhelmsstraße, die Königsstraße und dann die Königinstraße zur Karlshöhe kommt, dann hat man keinen Zweifel daran, dass man sich in einem besonders gesegneten Winkel auf Gottes weiter Erde befindet. Hier feiert die Karlshöhe ihr 130. Jahresfest, an dem ich von Herzen gern teilnehme. Dieses Jubiläum begehen Sie am richtigen Tag, nämlich am Sonntag Jubilate. „Jauchzet dem Herrn, alle Welt“, so haben wir vorhin mit dem Psalmisten gebetet. Diese Psalmbitte hat dem Sonntag seinen Namen gegeben. Jubilate, nicht Weltlachtag: so heißt dieser Sonntag. „Jauchzet dem Herrn, alle Welt!“

Freude und Dankbarkeit bestimmen diesen Jubiläumstag. Aber die Fröhlichkeit, die uns deshalb erfüllt, hindert uns nicht daran, uns den ernsten Fragen zu stellen, die uns durch das Thema dieses Jubiläums aufgegeben sind: „Arbeit neu begreifen“. Im Gegenteil: Es ist gerade der Dank für das, was uns an guten Gaben anvertraut ist, der uns dazu befähigt, den Herausforderungen unserer Zeit standzuhalten. Es ist gerade die Zuversicht des Glaubens, die uns Kraft dazu gibt, mit den Schwierigkeiten der Gegenwart umzugehen. Arbeit und Arbeitslosigkeit: das ist eines der Themen, in denen uns diese Schwierigkeiten entgegentreten.

I.

Warum soll ich arbeiten, wenn ich fast nichts verdiene“ – Hans, 26 Jahre alt, stellt diese Frage auf einem der Motive der Plakatkampagne, die zum Jahresfest der Karlshöhe entworfen worden ist. Er fragt danach, ob sich sein Einsatz, seine Mühe lohnen. – Eine spannende Frage. Eine biblische Frage! Sie klingt fast so wie die von Petrus, als er eines Tages von Jesus wissen will: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns dafür gegeben? (Mt 19,27). Petrus fragt nach dem Lohn des Nachfolgens. Viel hatten die Jünger, aufgegeben, um mit Jesus mit zu ziehen. Sie haben ihm die Treue gehalten auf seinem Weg durch Galiläa. Sie haben versucht, Ärger von ihm abzuhalten, haben sich treu eingesetzt, wenn es darum ging, etwas zu organisieren, sei es Räumlichkeiten zu finden oder Brot und Fische zu verteilen. Stets waren sie an seiner Seite. Ergab sich daraus für die Jünger ein Anspruch auf einen besonderen Lohn?

II.

So wie Hans haben auch zwölf weitere Bewohner der Karlshöhe ihre ganz persönlichen Fragen gestellt. Die Hände, die zum Arbeiten bereit sind, formen sich auf der Einladung zu diesem Jahresfest zu einem einzigen großen Fragezeichen. Ist es gerecht, wenn ich 1 Euro pro Stunde verdiene und andere scheffeln Millionen? fragt Mirjam. Die Fragen nagen an dem Empfinden von Gerechtigkeit. Sie provozieren Engagement. Und sie führen direkt in die Mitte des Gleichnisses, mit dem Jesus auf die Frage des Petrus antwortet. Allerdings spricht er nicht von einem Euro, sondern von einem Silbergroschen – oder in der Sprache der damaligen Zeit: von einem Dinar. Jesus antwortet auf die Frage des Petrus mit folgendem Gleichnis:

Das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?   So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

III.

Jesus antwortet auf die Frage des Petrus mit einem sperrigen Gleichnis. Von welcher Seite aus man es auch anpacken, begreifen und durch die Tür des eigenen Herzens hineinbekommen möchte, es sperrt sich zunächst; bis es dann doch nicht fremd bleibt, sondern genau den richtigen Ton anschlägt und eine stärkende und heilsame, eine im besten Sinn tröstliche Ausstrahlung gewinnt. Beidem müssen wir nachgehen: warum das Gleichnis uns so fremd ist – und warum es uns überzeugt.

IV.

Der Weinbergsbesitzer zieht los, um Arbeiter zu finden – denn bei ihm steht Arbeit an. Um 6.00 Uhr geht er das erste Mal in die Stadt. Um 9.00 Uhr das zweite Mal, dann wiederum mittags um 12.00 Uhr und um 15.00 Uhr noch einmal. Schließlich – viele Ämter haben da schon wieder geschlossen – macht er sich sogar um 17.00 Uhr noch einmal auf den Weg, um für die allerletzte Arbeitsstunde des Tages Tagelöhner einzustellen.

Soweit liegt noch nichts Anstößiges vor; eher Bewunderung für diesen Arbeitgeber, der wirklich nichts unversucht lässt, seine Arbeit an den Mann zu bringen. Glück hat er – denn auf dem Marktplatz stehen die Arbeitssuchenden und warten, dass sie beschäftigt werden. Jeder wartet darauf, so viel zu verdienen, wie er für einen Tag braucht. Denn deshalb heißen sie „Tagelöhner“. Und je länger er wartet, desto dringlicher kann ihm das Gebet auf die Lippen kommen: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – eine Tagelöhnerbitte.

Dann aber kommt es zur Lohnzahlung. Jeder bekommt den gleichen Lohn ausgezahlt: Jeder einen Dinar für das tägliche Brot. Gleicher Lohn wird da gezahlt für ungleiche Arbeitsbelastung. Wer das beispielsweise vergleicht mit der ungleichen Entlohnung zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern oder mit dem Entlohnungsgefälle zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern, wird sich an ein anderes Muster erinnert fühlen: Ungleicher Lohn für gleiche Arbeitsbelastung. Doch vom Prinzip ist es das Gleiche: Geleistete Arbeit und erhaltener Lohn stehen zueinander nicht in einem gleichen Verhältnis. Ich erinnere noch einmal an die Frage von Mirjam: Ist es gerecht, wenn ich 1 Euro pro Stunde verdiene und andere scheffeln Millionen? Mirjam bringt die Ungleichheit auf besonders krasse Weise zum Ausdruck – oder ist es vielleicht gar nicht ihre Ausdrucksweise, sondern sind es die Verhältnisse selbst, die in ihrer Ungerechtigkeit krass sind? Aber wer Gerechtigkeit an dem Maß misst, dass für gleiches Engagement die gleiche Anzahl von Münzen im Beutel klingt, der kann dieses Gleichnis zunächst nur als einen Ausdruck von Ungerechtigkeit verstehen.

V.

Hatte indessen nicht jeder der Arbeiter mit dem Weinbergbesitzer einen Vertrag geschlossen und per Handschlag den Lohn besiegelt? Darauf verweist denn auch der Hausherr, als er von denen angegangen wird, die sich ungerecht behandelt fühlen: Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? (V. 13) Er beruft sich auf die Vertragstreue und damit auf einen Wert, den man auch nicht gering schätzen kann. Manche werden sagen: Das wäre schon gut, wenn man sich wenigstens auf Vertragstreue verlassen kann. Aber andere werden einwenden, dass die Ungleichbehandlung beim Abschluss des Vertrags gar nicht zu durchschauen war. In ihnen wird das Gefühl zurückbleiben, dass sie wohl irgend etwas vom „Kleingedruckten“ übersehen haben müssen, wenn der Arbeitsvertrag, den sie abgeschlossen haben, solche Folgen hat.

VI.

Um es ganz klar zu sagen: Dieses Gleichnis eignet sich nicht als Ratgeber für Tarifverhandlungen, weil keine der beiden Seiten die Lösung als Erfolg verkaufen könnte. Wer das Gleichnis verwenden will, um daraus praktische Lösungen für Tarifkonflikte abzuleiten, wird in einer Sackgasse landen. Denn in solchen Konflikten wird die Frage, wie viel und wie lange jemand arbeitet, immer eine Rolle spielen. Immer wird gefragt werden, ob jemand dafür, dass er sich besonders einsetzt oder ein besonders hohes Maß an Verantwortung übernimmt, auch Anerkennung findet. Sogar in der Diakonie ist das so. Aber auf andere, tiefere Weise könnte es trotzdem gut sein, wenn vor Gesprächen in Mitarbeitervertretungen oder zwischen Tarifpartnern dieses Gleichnis noch einmal gelesen und bedacht würde. Aber in welchem Sinn könnte das fruchtbar sein?

Auf diesen Kern führt die Antwort, die der Besitzer des Weinbergs demjenigen gibt, der sich ungerecht behandelt fühlt: Siehst du so scheel drein, weil ich so gütig bin? (V. 15) Jesus stellt mit dem Gleichnis Petrus gegenüber das Handlungsprinzip Gottes dar: Er vergilt nicht Gleiches mit Gleichem – so wie wir vermutlich einen Dinar für eine Arbeitsstunde, und zwölf Dinare für zwölf Arbeitsstunden gerechnet hätten. Oder vielleicht auch – zur Senkung der Lohnkosten: einen Dinar für zwölf Arbeitsstunden und einen zwölftel Dinar für eine Arbeitsstunde. Gottes Perspektive ist nicht die des Rechtens und Rechnens, er zahlt nicht in gleicher Münze heim. Sondern Gott erweist seine Güte. Er will nicht Kosten minimieren, so wie der Hausherr ja bei den Tagelöhnern, die nur kurz bei ihm arbeiteten, etwas hätte einsparen können. Gott rechnet nicht nach größeren oder kleineren Verdiensten. Er ruft jeden in seine Nähe. Nachfolgen heißt, auf diese Nähe Gottes zu antworten, sich als Christenmensch zu Gott zu bekennen und in seinem Weinberg zu arbeiten.

VII.

Damit aber sind wir bei der Frage von Peter: Bin ich als Arbeitsloser etwa weniger wert? Um Gottes Güte und Barmherzigkeit willen gilt es, entschieden zu widersprechen, wo über den Wert eines Menschen bloß im Zusammenhang mit seiner Arbeitsleistung gesprochen wird. Aber es gilt entschieden zu unterstreichen, wo Arbeit und Zufriedenheit miteinander verknüpft werden. Wert und Würde eines Menschen hängen nicht an seiner Arbeitsleistung, sondern an Gottes Barmherzigkeit. Die kennt kein größeren Verdient beim einen und einen geringeren beim anderen. Vor Gott stehen alle auf einer Stufe, es gibt vor ihm nicht erste und letzte, so dass die Letzten sind wie die Ersten und die Ersten wie die Letzten. Grund und Lohn der Nachfolge ist es, von Gottes Güte getragen zu werden.

Aber zugleich gilt: Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen. So heißt eine Aussage, die sich sowohl bei Martin Luther als auch bei Papst Johannes Paul II. findet. Ich sage damit nicht, Johannes Paul II. habe den Satz von Luther abgeschrieben; sondern bei beiden beschreibt dieser Satz von poetischer Schönheit, dass das Ja des Menschen zu seinem Leben sich elementar auch in seiner Arbeit Ausdruck verschafft. Mit unserer Arbeit bejahen wir unser Dasein als Geschöpfe Gottes. In ihr machen wir Gebrauch von den Gaben, die Gott uns anvertraut hat und die wir mit dem biblischen Wort des „Talents“ bedenken. Mit dem neuen Blick, den Gottes Güte uns eröffnet, erkennen wir: Kein Mensch ist ohne solche Gaben; jedem Menschen ist ein besonderes Talent gegeben. Dass alle diese Talente und Begabungen zumindest teilweise auch in der Form von Erwerbsarbeit einsetzen können, das ist eine Erwartung, die sich gerade aus einem solchen Blick ergibt. Ihn zu fördern, bedeutet, ihm dabei zu helfen, dass diese Gaben ans Licht kommen. Aber gerade wenn der Beruf eine so hohe Wertschätzung erfährt, muss Arbeit auch so organisiert werden, dass alle an ihr Anteil haben, auch die Leistungsschwächeren. Wirtschaft soll mit allen betrieben werden. Die Ungleichheit, die mit der Gestaltung der Wirtschaft einhergeht und die den Leistungsfähigeren mehr zukommen lässt als den Leistungsschwächeren, darf nur so groß sein, dass die dadurch gesteigerte Produktivität auch den Schwächeren ein würdiges Leben und vollen Anteil an der Gesellschaft möglich macht. Dass niemand von der Teilhabe an der Erwerbsarbeit ausgeschlossen wird, ja dass auch Menschen mit Behinderungen in sie einbezogen werden, das ist eine Verpflichtung, die sich gerade dann nahe legt, wenn wir die Welt aus der Perspektive der Güte Gottes betrachten. So hat das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg eine höchst konkrete Bedeutung auch für die Welt der Arbeit.

VIII.

Die Fragen der Bewohner der Karlshöhe, von Hans, Mirjam, Peter und vielen anderen provozieren gemeinsam mit der Frage des Petrus eine Besinnung auf die Grundlage unseres Glaubens: Gott lässt sich in seiner Zuwendung zu uns Menschen nicht verrechnen. Vor ihm gibt es keine Ersten und Letzten. Seine Güte stärkt zum Leben in der Nachfolge, zur Tagelohnarbeit in Gottes Weinberg auf Erden. Denn die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. (Klgl 3,22f)