Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zur Einweihung der Kapelle im Berliner Olympiastadion (Matthäus 16,26)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen.

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Dieses Wort Jesu hat uns begrüßt, als wir in diese Kapelle kamen. Unter diesem Wort soll alles stehen, was in dieser Kapelle geschehen wird. An dieses Wort halten wir uns deshalb auch in diesem Gottesdienst, in dem wir diese Kapelle mit Gottes Wort und Gebet einweihen. An dieses Wort halten wir uns an einem großen Tag. Wir danken Gott für diesen besonderen Ort; und wir danken den Menschen, die ihre Phantasie und ihre Kraft, ihre Kompetenz und ihr Geld, ihre Leidenschaft und ihr Gebet eingesetzt haben, damit wirklich wird, was wir heute feiern: die Kapelle im Olympiastadion.

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?  Im Blick auf den Fußball fallen pfiffigen Menschen auch andere biblische Zitate. Die kühnen Sportvergleiche des Apostels Paulus beispielsweise, der die des Sports Unkundigen aufklärt: Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Oder seine Erinnerung an die Pflicht, Regeln einzuhalten: Wenn einer auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht. Die heiter Gestimmten suchen nach fußballerischen Fachausdrücken in der Bibel und stoßen dabei auf die erstaunlichsten Fragen. Zum Beispiel: Kain geht mit Abel aufs Feld. Was passiert dann? Oder: Laut Altem Testament sitzen die Ältesten oft im Tor. Was machen sie da? Und schließlich: Hosea behauptet, dass Israel abseits gehe. Wer ist Hosea?

Solchen Spuren gehen wir heute nicht weiter nach. Wir halten uns an das Wort Jesu: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Mit diesem Wort ruft Jesus Menschen in seine Nähe und lädt sie zur Nachfolge ein. Dieser Ruf ist verblüffend lebensnah. Dort, wo sportliche Höchstleistungen mit diesem Wort zusammen treffen, kann man das spüren. Denn dort liegen der siebte Himmel des Sieges und der Abgrund der Niederlage, der Jubel über ein Tor und die Verzweiflung über eine Verletzung eine bloße Handbreit nebeneinander. Christoph Metzelder hat heute, pünktlich zu unserer Einweihung, diesen Zusammenhang in einem beeindruckenden Interview deutlich gemacht. Wir Leistungssportler, sagt er, gehen ja einen sehr extremen Weg. Wir beanspruchen unseren Körper und auch unsere Seele oft übermäßig. Metzelder denkt dabei an seine lange Verletzungszeit; er weiß, wovon er redet. Auch wer zu Höchstleistungen erbringt, ist nur begrenzt belastbar; das erschließt sich am ehesten dem, der von Gott weiß, der größer ist als er selbst.

Deshalb gehören Arena und Kapelle zusammen. Ein Ort der Stille, in dem, wie Metzelder sagt, die Zeit einfach langsamer läuft. Ein Ort, an dem man den Unterschied zwischen Sport und Religion versteht. Der Fußball lenkt dich zwar ab von deinen Problemen. Aber er gibt keine Antwort auf die Probleme. Das ist der große Unterschied zur Religion. Ein Ort, an dem man versteht, warum es keinen Fußballgott auf dem Rasen gibt, sondern nur einen Gott über dem Rasen, über uns allen. Ein Ort, an dem man beten kann, und sei es sogar ungezügelt, jedenfalls ohne Zensur.

Ein solcher Ort tut wohl, gerade in den Wochen einer Fußball-Weltmeisterschaft. Gewiss will keine der beteiligten Mannschaften die Welt gewinnen, aber immerhin eine Weltmeisterschaft. Doch auf dem Weg dahin werden Triumph und Enttäuschung sich abwechseln; am Ende bekommt nur eine Mannschaft die Trophäe. Sepp Herbergers Fußballphilosophie wird sich bestätigen: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Mancher Jubel wird plötzlich ersterben: Wie gewonnen so zerronnen. Da hilft ein Ort, an dem man sich auf das sammeln kann, was bleibt: die Güte Gottes, dem der Unterlegene so wichtig ist wie der Sieger, die unantastbare Würde der Person, die auch in Pfiffen und sogar in Schmähungen Bestand behält.

Ob ein Stadion der richtige Ort für das Evangelium sei, bin ich gefragt worden. Ob die Nähe zu einer Sportart und einem Sportbetrieb, die inzwischen so stark von kommerziellen Interessen bestimmt sind, nicht dem Evangelium und dem Auftrag der Kirchen schaden, wird zu bedenken gegeben. Das hängt von der Eindeutigkeit ab, in der hier Gottes Güte bezeugt und seine Vergebung gewährt wird. Es hängt an der Klarheit des Widerspruchs, wenn Menschen in ihrer Seele beschädigt werden. Es hängt daran, ob dies das Eingangswort bleibt: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele. Gewiss braucht das Evangelium keine Stadionkapelle. Aber dieses Stadion braucht das Evangelium. Dass das Wort Gottes hier einen Ort hat, ist gut für die Menschen.

Am 9. Juli 2006 wird das Finale der Fußballweltmeisterschaft hier im Berliner Olympiastadion ausgetragen werden. Die ganze Welt schaut an diesem Tag auf die Spieler der beiden Mannschaften. Sie werden zäh und verbissen um den Sieg kämpfen. Wenn es nach mir geht, können es gern wieder die beiden Mannschaften sein, die schon vor vier Jahren in Tokyo im Finale standen. Ich werde dann dafür zittern, dass es anders ausgeht als vor vier Jahren. Doch wie auch immer das kommen wird: Bevor die Sportler mit einer erheblichen Last auf den Schultern den Rasen betreten und sich dem Blitzlichtgewitter stellen, kommen sie auf dem Weg zum Spielfeld an dieser Kapelle vorbei. Sie können als entlastende Zusage mitnehmen, was sie da lesen. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele. Sie können mit der Gewissheit weitergehen, dass einer für ihre Seele sorgt.

Aber auch die Frage nehmen sie mit: Würdest du für einen Sieg wirklich alles tun? Würdest du unfair spielen, betrügen oder sogar einen anderen vorsätzlich verletzen? Diese Fragen stellen sich nicht nur Sportlerinnen und Sportlern, sie gelten in allen Lebensbereichen. Durch das Prinzip der Fairness haben christliche Werte in den Sport Eingang gefunden. Aber die Achtung des andern, die Rücksichtnahme auch im Wettkampf oder die Unparteilichkeit jedes Richters, nicht nur des Schiedsrichters: das alles gilt auch über den Sport hinaus Für Sportlerinnen und Sportler ist es wichtig, einen Raum zu haben, in dem sie sich mit ihrer Hoffnung auf Sieg wie mit ihrer Angst vor einer Niederlage Gott anvertrauen können. Wer die Kapelle betritt, findet in ihr Bibelworte in achtzehn verschiedenen Sprachen. Das macht deutlich: Gott redet zu allen. Ausgespart von der Schrift bleibt das Zeichen des Kreuzes.

Einer sorgt für deine Seele. Diese Gewissheit geht von unserer Kapelle aus. Das ist einer, der selbst die Erfahrung gemacht hat, wie es sein kann, wenn einem die ganze Welt angeboten wird um den Preis der eigenen Seele. Als Jesus vierzig Tage und Nächte in der Wüste gefastet hatte, trat der Versucher an ihn heran. Er bot ihm alles an, was das unruhige Herz des Menschen sich erträumt: ein Wirtschaftswunder, die größte Show aller Zeiten in Jerusalem und schließlich die Macht über alle Reiche der Welt. Er versprach Jesus, dass er aus Steinen Brot machen könne und bot ihm ein inszeniertes Wunder an: ein freier Fall von den höchsten Zinnen des Tempels mit anschließender sanfter Landung. Der Versucher tat dies nicht mit einem Pferdefuß im Dunstkreis von Pech und Schwefel. Er kam eher daher mit dem guten Image eines netten Onkels, weltläufig und gewandt. Er zitierte sogar die Bibel: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.

Der Versucher führte Jesus auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.

Dietrich Bonhoeffer hat im Berlin der dreißiger Jahre seinen Konfirmanden das mahnende Wort mitgegeben: Seht zu, dass ihr euch nicht unheilig auf den Weg macht. Er wusste, dass dies schneller geht, als man denkt. Damals waren Deutsche dabei, die ganze Welt zu erobern und ungezählten Menschen unendliches Leid zuzufügen. Die Erinnerung daran ist mit den Mauern dieses Stadions unlöslich verbunden, Dass Sport missbraucht werden kann, bleibt in Erinnerung, so lange diese Arena Olympiastadion heißt. Auch deshalb ist es gut, dass es hier eine Kapelle gibt, einen Ort der Einkehr und des Neubeginns.

Auch aus dieser Erfahrung können wir lernen: In der Treue zu Gott und im Festhalten an seinem Wort liegt der Weg zur Bewahrung von Würde und Freiheit. Gott verdanken wir unser Dasein von allem Anfang an. Auf ihn gehen wir zu am Ende unseres Lebens. Gebe Gott, dass wir das niemals vergessen. Wir würden sonst Schaden nehmen an unserer Seele, auch wenn wir das mit unseren Erfolgen zu überdecken suchten.

Dieser Kapelle wünsche ich, dass sie angenommen wird als ein Ort, wo Gottes Ehre wohnt, und vielen Menschen, Sportlern wie Liebhabern des Sports, zu einer Stätte der Andacht und des Gebets wird. In diesem durch sein Wort geheiligten  Raum bitten wir Gott: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.

Amen.