Predigt im Ökumenischen Festgottesdienst aus Anlass des 750. Stadtjubiläums in der Klosterkirche St. Trinitatis zu Neuruppin

Wolfgang Huber

1. Korinther 2,12-16

I.

Wer sich heute auf den Weg nach Neuruppin macht, bemerkt es sofort: Neuruppin ist, wie man so schön sagt, „aus dem Häuschen“. Ihre Stadt feiert an Pfingsten 2006 die Verleihung der Stadtrechte vor 750 Jahren und lädt zu einer riesigen Geburtstagsfeier ein. Vom Seeufer bis zum Schulplatz erwartet uns eine Zeitreise durch die Stadtgeschichte: Ritter, Oldtimer, Kletterwände, alte Feuerwehren, Handwerksmaschinen, Feuerschlucker, Clowns, Bastelstraßen, Gastronomie für jeden Geschmack und Programme auf unterschiedlichen Bühnen laden zum Verweilen ein.

Das Geburtstagskind, der Luftkurort Neuruppin, gelegen in malerischer Seenlandschaft, führt natürlich ein eigenes Stadtwappen. Das Neuruppiner Wappen zeigt auf blauem Hintergrund eine silberne Burg mit zwei Türmen. Die leuchtende Silhouette wird von einem roten Dreieckschild überdeckt, das mit einem silbernen Adler belegt ist. Neuruppin soll bereits im 13. Jahrhundert ein Stadtsiegel besessen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob die Marketing- und Öffentlichkeitsabteilungen des Grafen Günther von Arnstein bereits im Jahre 1256 diese Form des Wappens entwickelt und eingeführt haben. Das ist wohl auch in Fachkreisen umstritten. Belegt ist dagegen, dass Graf Günther von Arnstein am 9. März 1256, also vor 750 Jahren, wie es heißt, aus „Zuneigung zu unserer Stadt Ruppin“ die Stadtrechte verlieh.

Neben dem traditionellen Wappen verwendet die Stadt Neuruppin heute zusätzlich ein modernes Logo, das die Silhouette der Klosterkirche und den Ruppiner See zeigt. Mich freut es, dass die Stadt auf diese Weise der Prägekraft des christlichen Glaubens vertraut und zu erkennen gibt: Die beiden Türme der Klosterkirche gehören zum Antlitz Neuruppins.

Die Klosterkirche wirbt mit ihren beiden Türmen, die sich im Weichbild der Stadt zeigen, für ein Leben in Neuruppin; sie lädt Touristen und Reisende ein, die Stadt zu besuchen. Die beiden Türme erinnern uns zugleich an den doppelten Kern des christlichen Glaubens. Jesus hat diesen doppelten Kern so formuliert: Das höchste Gebot ist das: «Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften». Das andre ist dies: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst». Es ist kein anderes Gebot größer als diese.

Das Lob Gottes und die Zuwendung zum Nächsten ragen aus Jesu Lehre heraus wie die zwei Türme der Klosterkirche über die  Dächer Neuruppins. Wer sich an diesem doppelten Leuchtfeuer orientiert, kann nicht in die Irre gehen.

II.

Was waren wohl seinerzeit die Bedingungen dafür, dass Neuruppin die Stadtrechte zuerkannt bekam? Schon in der nachbiblischen Tradition des Judentums wird die Frage diskutiert, wann man eine Stadt als Stadt bezeichnen dürfe. Die Antwort mag verblüffen: Es müssen mindestens zehn Personen ihr Haupt über die biblischen Schriften beugen, um sie zu studieren, so heißt es im Babylonischen Talmud. Nur wenn diese Bedingung erfüllt sei, dürfe man von einer Stadt sprechen.

Liebe Festgemeinde, die Frage, wann sich eine Stadt als Stadt bezeichnen darf, führt uns über den 750. Geburtstag Neuruppins hinaus zur Bedeutung des Pfingstfestes. Zugleich führt sie uns mitten hinein in die Diskussion, die uns derzeit in Neuruppin, Guben, Potsdam oder anderen Städten Brandenburgs beschäftigt. Hören wir deshalb auf den Predigttext für das Pfingstfest aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther:

Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir auch nicht mit Worten, wie sie menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen...Wir aber haben Christi Sinn.

Pfingsten gehört zu den großen Festen im Kirchenjahr. Hinter Weihnachten und Ostern steht es nicht zurück. Gott ist Mensch geworden, so heißt die Weihnachtsbotschaft. Der Gekreuzigte ist auferstanden. Das ist der Kern des Osterfestes. Und Pfingsten? Ich gebe zu: Das Kommen des Geistes ist nicht so leicht anschaulich zu machen wie das Wunder der Geburt in der Krippe. Das Drama des Heiligen Geistes ist unscheinbarer als das Drama von Kreuz und Auferstehung. Aber das Kommen des Geistes ist deshalb nicht weniger wichtig. Es bewirkt eine Schubumkehr. Und diese Schubumkehr kann Leben retten.

III.

Bei jedem Flug gibt es einen Augenblick, bei dem ich die Luft anhalte. Er ist so ungewohnt wie beim ersten Mal. Es ist der Augenblick der Landung. Ich warte nicht so sehr, ob die Räder richtig auf der Landebahn aufsetzen. Ich warte auf die Schubumkehr. Wenn die Räder aufgesetzt haben, spüre ich plötzlich sehr deutlich, welcher gewaltigen Kraft ich mich anvertraut habe. Die Geschwindigkeit, die mir in der Luft gar nicht so auffiel, nun wird sie beängstigend. Wird der Pilot sie unter Kontrolle bringen? Er muss das Tempo verlangsamen. Es gäbe eine Katastrophe, wenn die Triebwerke das Flugzeug nicht mit derselben Kraft abbremsten, mit der sie es auf Geschwindigkeit gebracht haben. Erst wenn diese Umkehr der Kraft, die in dem Flugzeug steckt, gelingt, verlangsamt es seine Fahrt. Mich zieht diese Kraft unwiderstehlich nach vorn, in den Sicherheitsgurt. Aber ich atme erleichtert auf, wenn ich das Gefühl habe, das Tempo ist unter Kontrolle, das Flugzeug kann an seinen Zielpunkt gesteuert werden. Schubumkehr nennen die Techniker es, wenn die Beschleunigungskraft in eine Bremskraft verwandelt wird. Auch das Umgekehrte ist denkbar. Gut, wenn diese Verwandlung immer wieder gelingt.

Pfingsten ist ein Fest der Schubumkehr. Natürlich kommt dieses Wort in der Bibel nicht vor. Von Fliegen ist dort noch nicht die Rede. Doch die Bibel beschreibt mehrfach die Umkehr vom rasenden Weg ins Verderben zu einem neuen Anfang. Die Umkehr des ängstlichen Sich-Verkriechens der Jünger Jesu ist der mutige Auftritt  des Petrus vor der Menge in Jerusalem. Die Umkehr der babylonischen Sprachverwirrung ist das Pfingstwunder: Fremde können sich verstehen. Das Ende, das Jesu Weg auf Erden findet, kehrt sich um in den Beginn des Weges der christlichen Kirche durch die Zeiten.

IV.

Menschen, die sich mit der Geschichte Neuruppins verbunden wissen, kennen solche Ereignisse. Als im August des Jahres 1787 eine verheerende Feuersbrunst über Neuruppin hinwegraste und mehr als zwei Drittel der Stadt verzehrte, konnte niemand ahnen, dass es der verzweifelten Bevölkerung gelingen könnte, ihre Stadt wieder aufzubauen. Doch innerhalb von 19 Jahren war Neuruppin wiedererstanden. Die Weihe der Pfarrkirche St. Marien 1806 schloss das große Aufbauwerk ab. Die damals entwickelte Stadtstruktur bildet bis auf den heutigen Tag ein einzigartiges geschlossenes Ensemble.

Karl-Friedrich Schinkel war zur Zeit der verheerenden Feuersbrunst ein kleiner Junge im Alter von sechs Jahren. Er verlor nicht nur seine Heimatstadt, sondern auch seinen geliebten Vater, der damals Pfarrer in Neuruppin war. Wie eine Schubumkehr des katastrophalen Stadtbrandes erscheint Karl-Friedrich Schinkels weiterer Lebensweg. Derjenige, der das Antlitz seiner Heimat in Flammen aufgehen sah, schuf als Oberbauassessor und später als Geheimer Oberbaurat ungezählte Bauwerke in den preußischen Landen zwischen Köln und Königsberg. Nicht nur die spektakulären Gebäude waren ihm dabei wichtig, die großen Kirchen, Schauspielhäuser oder Museen. Er achtete auch auf das, was jede Stadt oder jedes Dorf braucht: Vorstadtkirchen und sogar Dorfkirchen als Fachwerkbauten entwarf er. Und auch die Bewahrung der überlieferten Gebäude lag ihm am Herzen, wie nicht nur das Beispiel des Doms in Brandenburg belegt. Er kannte die Kraft der Zerstörung und setzte sich für das Bewahren ein, wo er konnte. Der Architekt Schinkel liebte seine vier Kinder. Er war Zeit seines Lebens ein Vater, der seinen Kindern liebevolle Zuwendung schenken wollte. Denn wie sehr ein Vater seinen Kindern fehlen kann, wusste er aus eigenem Erleben nur allzu gut.

V.

Wann immer Menschen die Würde ihrer Mitmenschen missachten, sie diffamieren oder gar gewalttätig werden, sehe ich vor meinem inneren Auge das Bild eines Düsenjets, der ungebremst über die Landebahn hinausrast. Man fragt sich verzweifelt und empört, warum die lebensnotwendige Schubumkehr versagt.

Wann immer ein Mensch andere zum Hass aufhetzt und ihnen einen Stolz einzureden versucht, der darauf angewiesen ist, andere schlecht zu machen, habe ich das Gefühl, dass die Schubumkehr versagt. Die Kraft, die in jedem Menschen steckt, wird zu einer Kraft des Verderbens. Dann, ja gerade dann bitte ich um die Kraft des Geistes, des Heiligen Geistes.

Um einen solchen Geist bitten wir für Stadt und Land, so wie Karl-Friedrich Schinkel Stadt und Land im Blick hatte, wenn er Bauwerke plante, errichtete und bewahrte. Um einen solchen Geist bitten wir für die Stadt Neuruppin, die auf ein dreiviertel Jahrtausend zurückblickt – welch gewaltige Zeit. Klarheit auf dem Weg, die Fähigkeit zu Frieden und Gerechtigkeit, eine Kultur der Achtung für jedermann, den Blick für Gottes offenen Himmel über dieser Stadt: das ist mein Wunsch für diese Stadt, die in das vierte Viertel eines Jahrtausends eintritt.

Der Heilige Geist, den wir an Pfingsten feiern, scheidet die Geister. Das schafft Klarheit. Nötigenfalls löst es Streit aus. Was ist wahr, was ist falsch? Was ist gut, was ist böse? Auch uns selbst gilt diese Frage – im Kleinen wie im Großen. An Pfingsten feiern wir die Zusage Gottes, dass er uns seinen Geist sendet, der uns mit Leben erfüllen und uns in unserem Handeln bestimmen will. Um diesen Geist bitten wir, wenn das pfingstliche Lied heute zum Geburtstagslied wird für diese beeindruckende Stadt Neuruppin: „O komm du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein!“

Amen.