Predigt im Festgottesdienst 500 Jahre ALMA MATER VIADRINA in St. Marien zu Frankfurt / Oder

Wolfgang Huber

Epheser 1, 3-14

I.

Mit Freude und Faszination, mit innerer Beteiligung und großem Interesse nehmen wir heute das Jubiläum der Alma Mater Viadrina ins Gebet. Wir feiern einen Gottesdienst, um daran zu erinnern, dass vor einem halben Jahrtausend der Lehrbetrieb an dieser Universität aufgenommen wurde. In ebenso grenzüberschreitender wie ökumenischer Gemeinsamkeit hat sich mit einer großen Gemeinde auch ein Kreis von Bischöfen versammelt, um der Viadrina Respekt zu zollen und diesem Ort des Forschens, des Lehrens und Lernens wie des gemeinsamen Lebens Gottes Segen zu wünschen.

Eine solche bischöfliche Präsenz ist der Alma Mater Viadrina nicht fremd. Denn zur Gründung dieser Universität tat sich damals, in den ausgehenden Jahren des 15. Jahrhunderts, der Rat der Stadt mit dem zuständigen Bischof von Lebus, Dietrich von Bülow, zusammen. Ohne dessen Einsatz wäre es zur Verwirklichung dieses Vorhabens wohl nicht gekommen. So erinnern wir uns gern an Dietrich von Bülow, der 1506 erster Kanzler der neu gegründeten Universität wurde, zumal wir uns auf diesen Bischof der noch ungeteilten abendländischen Kirche alle berufen können: Auf heute polnischer wie auf brandenburgischer Seite erstreckte sich sein Bistum; als evangelische wie als katholische Bischöfe stehen wir in seiner Nachfolge.

Die Viadrina war die letzte Universitätsgründung vor der Reformation im nordostdeutschen Bereich. Die Hansestadt Frankfurt an der Oder wurde als Ort für die Gründung der ersten Universität im Brandenburgischen ausgewählt. In Erwartung eines einsetzenden Entwicklungsschubs zog die Stadt viele Fremde an. Auch viele Studenten fanden bald den Weg nach Frankfurt. Gründungsrektor wurde der Theologe Professor Konrad Wimpina.

Der Geist des Humanismus sollte diese Universität prägen. Die Theologie erhielt das ihr gebührende Gewicht. Zuerst freilich noch nicht in ihrer reformatorischen Gestalt; vielmehr gab man dem Ablassprediger Johann Tetzel Raum dazu, seine Gegenthesen gegen Luther hier in Frankfurt einer großen Öffentlichkeit vorzutragen. Seit der Einführung der Reformation in Brandenburg im Jahr 1539 hat die Universität alle Spielarten reformatorischer Theologie erlebt; von der Streitlust der Theologen blieb sie nicht verschont. In ganz besonderer Weise aber prägte der Geist Philipp Melanchthons die frühe Zeit der Universität. Er wollte Theologie und Wissenschaft, Christentum und Humanismus miteinander versöhnen. Seit Melanchthons Schwiegersohn Georg Sabinus 1538 an die Universität berufen wurde, fand dieser Geist hier immer wieder einen Ort, am prominentesten vielleicht während der frühen Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts in Henning Arnisäus, den man als den protestantischen Aristoteles rühmte.

Der Streit der Theologen ist also keineswegs das Wichtigste, was man an einem solchen Tag  über die Geschichte der Viadrina zu berichten hat. Die Mahnung, die der große Kurfürst in seinem Testament an die Professoren der Viadrina richtete – sie sollten moderat und nicht zancksüchtig sein – , fiel durchaus auf fruchtbaren Boden. Zu rühmen ist deshalb vor allem, in welcher Weise sie sich im Zeitalter der Glaubenskämpfe und Konfessionskriege zu einem polykonfessionellen Geisteszentrum entwickelte, wie ein Historiker sagt. Wechselseitige Duldung und eine dadurch eröffnete persönliche Freiheit fanden hier ihren Ort. Der ökumenische Geist der Viadrina leistete einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Brandenburg-Preußen mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts eine Vorrangstellung unter den protestantischen Reichsständen erwarb, die lange andauern sollte, sogar über das Ende der ersten Viadrina hinaus. Kein Zufall, dass König Friedrich I. beim zweihundertjährigen Jubiläum der Universität erklärte: Nun habe ich mehrere Hoffnung zur Toleranz und näheren Vereinigung beider evangelischer Kirchen. Hier als fand der Gedanke Nahrung, der dann schließlich 1817 in die preußische Union mündete. Sie aber gehört zum geistlichen Charakter dieses Landstrichs bis zum heutigen Tag.

Grund zum Dank haben wir heute im Rückblick auf diese Geschichte. Grund zum Dank haben wir auch deshalb, weil die Vereinigung Deutschlands die historische Chance bot, die Fehlentscheidung von 1811, die zur Schließung der Viadrina führte, zu revidieren. Hoffen wir, dass sie Jahr für Jahr an Ausstrahlung gewinnt, durchaus auch als ein polykonfessionelles Geisteszentrum, als ein Ort der Hoffnung zur Toleranz, als eine Heimstätte der Suche nach der Wahrheit und dadurch des Dienstes am Frieden.

II.

Der Verpflichtung auf die Wahrheit ist auch der Sonntag gewidmet, an dem wir diesen Jubiläumsgottesdienst feiern. Die Wahrheit über Gott selbst ist das Thema dieses Sonntags Trinitatis. Er weist darauf hin, dass man sich der Wahrheit Gottes im christlichen Verständnis so annähert, dass man von seiner Dreifaltigkeit spricht: als Vater, als  Sohn und als Geist. Dreifach muss man von dem einen Gott sprechen, weil er eine Geschichte hat, weil er am Geschick der Menschen Anteil nimmt und sich ihnen in Jesus Christus zuwendet. Davon handelt der biblische Abschnitt, der dem heutigen Sonntag als Predigttext zugeordnet ist. Er steht am Beginn des Epheserbriefs.

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten; in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.

In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit. Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist.

In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden, die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Ratschluss seines Willens; damit wir etwas seien zum Lob seiner Herrlichkeit, die wir zuvor auf Christus gehofft haben.

In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt, nämlich das Evangelium von eurer Seligkeit - in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem heiligen Geist, der verheißen ist, welcher ist das Unterpfand unsres Erbes, zu unsrer Erlösung, dass wir sein Eigentum würden zum Lob seiner Herrlichkeit.

In einem gewaltigen Bogen wird uns die Wahrheit über unser Leben vor Augen gestellt. Es ist ein Leben, das in seiner Endlichkeit und Begrenztheit dazu bestimmt ist, an Gottes Fülle Anteil zu haben. Es ist ein Leben, das dazu bestimmt ist, die Herrlichkeit Gottes zu loben. Ein Auftrag ist das, an dem wir immer wieder zu zerbrechen drohen. Aber es ist ein Auftrag, von dem wir nicht lassen können. Denn in der Person Jesu Christi und in der Kraft seines erlösenden Todes ist uns eine Zuversicht mitgegeben, die uns über alles Scheitern unserer Pläne oder alles Zerbrechen unserer Träume hinausführt. So bleibt die Fülle der göttlichen Wahrheit unser Leitstern.

Diese Fülle zu buchstabieren, ihre Sprache zu entschlüsseln, ihre Formen zu erfassen, haben die Gelehrten dieser Universität schon im Sinn gehabt, als sie die biblischen Sprachen erforschten, die Bewegungsgesetze des Kosmos beschrieben oder die Gestaltung des politischen Gemeinwesens zum Thema machten. Das halbe Jahrtausend, das seitdem vergangen ist, hat die epochale Säkularisierung aller Wissenschaften erlebt. Die Welt soll erklärt werden ohne die Arbeitshypothese Gott. Das Gemeinwesen soll geordnet werden, als ob es Gott nicht gäbe. Menschliche Sprachen können zu vielerlei verwendet werden; sie sind nicht nur Sprachen des Glaubens und erklingen nicht nur zum Lob Gottes.

Dennoch verweist auch eine säkulare Wissenschaft auf einen umfassenden Horizont, den niemand von uns einholt. Wer den perspektivischen Charakter alles menschlichen Wissens vor Augen hat, wird sich auch dazu verstehen können, dass das Wissen den Glauben nicht zu verdrängen braucht, sondern für ihn Platz schaffen kann. So können sich das Forschen nach Wahrheit, wie es in der Universität seinen Ort hat, und ein Bekennen der Wahrheit, zu dem der Sonntag Trinitatis in besonderer Weise einlädt, durchaus miteinander verbinden. Auch das mag im Sinn sein, wenn wir in diesem Jubiläumsgottesdienst der neuen Viadrina mitgeben, was wir aus ihrer Geschichte lernen: dass sie als polykonfessionelles Geisteszentrum die Hoffnung auf Toleranz nährt und dem Frieden über Grenzen hinweg dient: dem Frieden der Nationen ebenso wie dem Frieden der Überzeugungen.

III.

In diesem Jubiläumsgottesdienst bergen wir uns im Kirchenschiff von St. Marien und schauen auf den gläsernen Schatz aus Glas, Farbe und Licht, der vor vier Jahren nach Frankfurt zurückgekehrt ist und nach und nach wieder am ursprünglichen Ort in den großen Fenstern dieser Kirche seinen Platz findet. Auch in dieser Hinsicht schließt sich eine Wunde in der Geschichte der Stadt.

Als die Universität 1506 in der unmittelbaren Nähe von St. Marien gegründet wurde, war das biblische Panorama, das sich in den Marienfenstern entfaltet, schon 140 Jahre alt. Im Jahre 1367 waren die Frankfurter Bürger anlässlich der Altarweihe von St. Marien dieser gläsernen Wunderpracht erstmals ansichtig geworden. Auch ihre eigene Lebenswelt sahen sie in einem neuen, durch diese Fenster verzauberten Lichte. Heute können wir wieder etwas ahnen von dem Glanz, der Frömmigkeit und der kulturellen Gestaltungskraft, die Frankfurt an der Oder in jener Zeit prägten und an die heute anzuknüpfen Auftrag und Chance ist.

Auch das Bildprogramm der Marienfenster stellt – ähnlich wie der Epheserbrief - das Leben Jesu Christi ins Zentrum, um von ihm aus den Bogen zwischen der Erschaffung der Erde und ihrer Vollendung in Gott zu spannen. Das mittlere Chorfenster stellt Tod und Auferstehung Jesu Christi vor Augen und erschließt dadurch das Geheimnis der Trinität, der Offenbarung Gottes als Vater, als Sohn und als Geist. Mitten im vermeintlich finsteren Mittelalter entstanden, bezeugen die leuchtenden Fenster von St. Marien die Fülle des Lichts, seine Schönheit wie seine wahrheitserschließende Kraft.

Dieses Bauwerk wie seine Fenster drücken damit etwas aus, was auch heute gültig. Menschliches Leben wird in das Licht der Wahrheit Gottes gerückt, damit es nicht bei sich selber bleibt. Es ist gewürdigt, Gottes Herrlichkeit zu loben und für anderes Leben zum Segen zu werden.

Diese Einsicht kann auch heute auf neue Weise wachsen. Dass sie Raum erhält, wünsche ich Ihnen, der versammelten Festgemeinde. Ich wünsche es allen Studierenden, allen Lehrenden und der ganzen Mitarbeiterschaft der Viadrina. Der christlichen Gemeinde wünsche ich, dass sie die Geisteskraft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleitet, die unter dem Dach der Viadrina forschen, damit der Dialog wieder lebendig wird, der diese Universität seit ihren Anfängen begleitet. Dann wird Frankfurt mit seiner Universität, in der alten und neuen Mitte Europas gelegen, wieder ein Ort sein, mit dem sich die Offenheit für die Wahrheit, die Hoffnung auf Toleranz und die Verantwortung für den Frieden verbindet.

Amen.