Predigt über Johannes 3,30 - im Gottesdienst anlässlich der Ritterschlagsfeier des Johanniterordens in Nieder-Weisel

Wolfgang Huber

I.

Ein Hausbesuch blieb dem lang gedienten Pfarrer auf besondere Weise unvergesslich. Er war eifrig in seinen Besuchen und konnte sie nicht zählen. Aber diesen einen vergaß er nie. Da trat er bei dem frommen Ehepaar ein: Der Mann war zierlich, ja dünn geraten, die Frau dagegen von beachtlicher Statur, fest, wie die Schweizer sagen. Sie baten den Pfarrer, Platz zu nehmen, und setzten sich ihm gegenüber auf das Sofa, zart der Mann, kräftig die Frau. Und als der Pfarrer im Gespräch aufschaute, sah er über den beiden, sorgfältig gestickt und gerahmt, das biblische Wort: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

Ein Schmunzeln konnte der besuchende Pfarrer so wenig unterdrücken wie Sie, liebe Gemeinde. Aber das fromme Ehepaar selbst war all die Jahre, in denen es sich regelmäßig unter diesem biblischen Wort niedergelassen hatte, nie darauf verfallen, es auf sich selbst zu beziehen. Von Christus war die Rede, nicht von ihnen. Und das Wachsen, um das es ging, handelte nicht von der Nahrung des Leibes; sondern es ging um ein geistliches Wachsen. Darum, dass Christus groß würde in ihnen und für sie, darum baten sie Tag für Tag. Johannes den Täufer stellte ihnen dieses Wort vor Augen – einen Menschen, dessen ganze Ehre darin bestand, dass er zeigen durfte, von sich weg auf Christus hin. Einen Menschen nahmen sie sich zum Vorbild, der ganz und gar zum Finger geworden war, wie Mathias Grünewald das im Isenheimer Altar unvergesslich gemalt hat. Johannes, der Zeiger, wurde so eins mit seiner Botschaft, dass er als Person ganz hinter ihr zurücktrat.

Das ist erstaunlich genug. Aber das Erstaunliche, auf das Johannes, der Zeiger, verweist, reicht viel weiter. Denn wir müssen fragen: Wie wird Jesus Christus groß für uns? Die Antwort heißt: Indem er sich klein macht, hinabsteigt in unsere Welt und sich erniedrigt bis zum Tod am Kreuz. Sein Wachsen zeigt sich im freiwilligen Verzicht auf alle Macht, seine Karriere liegt in der Entäußerung aller Hoheit. Sein Großwerden ist ein Weg nach unten, in die Welt des Todes, weil das Licht der Liebe Gottes bis in die äußerste Dunkelheit scheinen soll. Eben dort erweist sich der Sieg der Liebe, beginnt neues Leben aus der Kraft des Geistes.

Wer immer das Kreuz als sein Zeichen trägt, erinnert damit an diesen Weg in die Tiefe, durch die Gottes Liebe uns Menschen erreicht. Wer immer sein Leben unter das Zeichen des Kreuzes stellt, wie wir das gerade in einer feierlichen Handlung getan haben, der sieht seine Ehre darin, ein Zeigender zu sein, einer, der von sich weg auf Christus weist, der uns teilhaben lässt an der größten Kraftquelle unseres Lebens, nämlich an der Liebe Gottes. In keinem biblischen Text findet diese Liebe Gottes einen stärkeren und unmittelbareren Ausdruck als in den Seligpreisungen der Bergpredigt. Darum rührt es mich immer wieder sehr an, dass das Kreuz der Johanniter acht Spitzen zeigt und damit die acht Seligpreisungen mit dem Weg Jesu innig verknüpft. Und es bewegt mich tief, dass ich selbst von heute an das Kreuz der Johanniter tragen darf.

II.

Dass mit dem Weg Jesu in die Tiefe das Himmelreich kommt, ist die Botschaft des Johannes. Deshalb geht es ihm darum, Christus groß zu machen. Auf ihn zu weisen, ist sein Auftrag. Weil er der Vorläufer Jesu ist und schon im Leib seiner Mutter Elisabeth hüpfen konnte, als die schwangere Maria zu Besuch kam, feiern wir den Geburtstag des Johannes sechs Monate vor der Geburt Jesu. Damit wissen wir auch: Mit dem Johannistag geht das Jahr wieder auf Weihnachten zu, so fremd uns dieser Gedanke auch ankommen mag. Vom Johannistag schlägt sich der Bogen zum Christfest: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

Johannes der Täufer war ein sperriger Mensch. Sein Leben galt dem Ruf zu Buße und Umkehr. Schon mit seiner Kleidung, einem Gewand aus Kamelhaaren, eckte er an. Als Nahrung nahm er Heuschrecken und wilden Honig zu sich. Auch diese Kost wurde ein Teil seines öffentlichen Auftretens und seiner Predigt: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ (Mt 3,2). Er taufte die Menschen im Jordan; manche wünschen sich deshalb noch heute Jordanwasser für die Taufe. Das Bad der Wiedergeburt machte Umkehr und Neubeginn zur unmittelbaren Erfahrung.

Manche sahen in ihm den wiedergekommenen Propheten Elia und hielten ihn für den Messias. Er wies das ab. Er war ein Prophet, der die Kraft hatte, falsche Erwartungen von sich fernzuhalten. Denn nur der kann ein Prophet sein, der sich nicht von falschen Erwartungen blenden lässt, weil sie ihm schmeicheln und ihn selbst groß machen. Nein: der Prophet weist von sich weg – „ich aber muss abnehmen“.

Propheten sind Menschen, die Gottes Wort weiter tragen und dadurch zu Gottes Stimme werden. Das Wort der Propheten orientiert sich weder an der herrschenden Meinung noch an der Meinung der Herrschenden. Die Perspektive prophetischer Rede richtet sich allein auf Gottes Gerechtigkeit, Gottes Liebe und Gottes Frieden. Prophetische Rede zielt darauf, Gott selbst zu Wort kommen zu lassen.

Um Gottes Willen macht Johannes sich so klein, dass er nur ein Zeigender ist. Das bedeutet nicht, dass er sich selbst zum Verschwinden bringt. Von Johannes dem Täufer lässt sich vielmehr lernen, dass ein Abnehmen um Gottes willen gerade keine Abwertung oder gar Auflösung der eigenen Person meint. Es ist umgekehrt die richtige Antwort auf Gottes Angebot der Freiheit. Es ist die angemessene Antwort darauf, dass Gott uns dazu beruft, in Freiheit wir selbst zu sein. „Zur Freiheit seid ihr berufen; deshalb sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht die Bahn gibt, sondern dient einander in der Liebe“ (Gal 5,13).

Die Befreiung durch Christus führt in die Freiheit von selbstzerstörerischem Größenwahn und egozentrischer Selbstbezogenheit. Das bedeutet aber gerade nicht, sich von einer gesunden Ich-Stärke oder einem gesunden Selbstbewusstsein abzuwenden, das um die eigene Leistungskraft weiß und deshalb die eigenen Grenzen nicht verleugnen muss. Die Freiheit der Kinder Gottes kommt vielmehr aus der Befreiung von allem Wahn, selbst wie Gott zu sein.

In dieser Freiheit von der Selbstvergötzung ist auch die Freiheit von allen anderen Herren und Geistern eingeschlossen, die sich in dieser Welt zu Göttern aufschwingen und die Herrschaft über unsere Seele beanspruchen. Weder Krösus noch Konsum, weder große Erbschaften noch große Erfolge, weder ideologische Mächte noch finstere Machenschaften sollen über unser Gewissen herrschen.

Was im Wort des Johannes als Abnehmen bezeichnet wird, ist der große Gewinn geistlicher Freiheit. Es ist die Freiheit, Gott die Ehre zu geben, ihm allein. Es ist die Freiheit, die uns zum aufrechten Gang befähigt, weil wir zu Gott aufblicken, zu ihm allein, und deshalb jedem Menschen ins Angesicht blicken, ohne Scheu. Es ist aber auch die Freiheit, in der wir uns vor Gott beugen, der allein unser Herr ist. Und es ist die Freiheit, in der wir uns zu jedem Mitmenschen beugen, der unsere Hilfe braucht.

Die geistliche Qualität des Abnehmens besteht darin, die Freiheit zu nutzen, die Gott schenkt. Auch Paulus lässt keinen Zweifel daran, wem dieser Freiheitsgewinn zugute kommt: „... dient einander in der Liebe.“ Die von Gott geschenkte Freiheit wird in der wechselseitigen Zuwendung bewahrt. Freiheit sondert die Menschen nicht voneinander ab, macht nicht den einen klein und einen anderen groß, sondern ordnet sie einander zu. In der Ordensregel der Johanniter findet dies einen prägnanten Ausdruck: „Die Johanniter lassen sich rufen, wo die Not des Nächsten auf ihre tätige Liebe und der Unglaube der Angefochtenen auf das Zeugnis ihres Glaubens warten.“ Geistliches Abnehmen bedeutet, frei zu werden für das Zeugnis des Glaubens und den Dienst am Nächsten.

III.

Die Predigt Johannes des Täufers führt in eine erkennbare und klare Orientierung an Gottes Wort und am Dienst für den  Nächsten. Darin ist sie prophetische Rede. In diesem Sinn ist es für uns als Kirche wie als einzelne Christen nötig, uns wieder verstärkt an der prophetischen Dimension christlicher Existenz zu orientieren. Das gilt gegen den Zeitgeist, der sich gewiss nicht durch prophetischen Überschwang auszeichnet. Aber die Zuversicht, die sich aus dem Vertrauen auf Gott speist, braucht Sprecher. Das Zeugnis dafür, dass unser Leben nicht im Vorhandenen und auch nicht in Gewinn- und Verlustrechungen aufgeht, braucht Zeugen. Die Bereitschaft, auf den Nächsten nicht nur dann zu achten, wenn es dem eigenen Vorteil dient, braucht dienstbereite Menschen. Unsere Gesellschaft wartet darauf mehr, als manche denken. Denn sie ist der puren Eigensucht überdrüssig. Sie hat genug von einer Kommerzialisierung, die auch vor der Seele des Menschen nicht Halt macht. Sie wartet auf Menschen, die das Heilige heilig halten, die Gott die Ehre geben und denen deshalb die Würde des Menschen unantastbar ist.

Gewiss: Prophetische Rede unterliegt manchen Gefahren. Da ist einerseits der Gefahr, diesseits-vergessene Rede zu sein. Sie verliert sich in Aussagen, die auf das Jenseits gerichtet sind. Damit verliert sie die Kraft, wirkliche Umkehr zu bewirken. Ihre Wucht zur Befreiung und Neuorientierung verblasst. Und da ist andererseits die Gefahr, in eine gott-vergessene Rede zu entgleiten. In dieser Richtung verzerrte prophetische Rede appelliert an die Selbstheilungskräfte des Menschen und will ihn revolutionär zur Änderung seines Verhaltens bewegen.

Beide Irrwege prophetischer Rede gehen ins Leere. In der Predigt unserer Kirche, aber auch in den öffentlichen Äußerungen jedes einzelnen wie im diakonischen Handeln sind wir dazu herausgefordert, die Situation aufzunehmen, aber uns nicht an sie auszuliefern, elementar zu reden, aber nicht geistlich zu verflachen. Die erkennbare und klare Orientierung an Gott und am Nächsten wird gebraucht.

In der Zeit einer neu erwachten religiösen Sensibilität hilft es nicht, das Licht des Evangeliums unter dem Scheffel zu verstecken. So wie die acht Spitzen des Johanniterkreuzes in alle Himmelsrichtungen weisen – und damit den Bezug zu den acht Seligpreisungen der Bergpredigt symbolisieren –,  so gilt uns das Wort des Auferstandenen: „Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.“ (Mk 16,15) Gottes Wille zur Erneuerung und Befreiung ist uns anvertraut. Es ist Gottes Wort in Menschenmund. Am Tag des Täufers Johannes vertrauen wir auf die Kraft des an Gottes Willen ausgerichteten Redens und des am Wohl des Nächsten orientierten Handelns.

IV.

Dieses Zeugnis wie dieser Dienst sind den Johannitern – nun darf ich auch sagen: uns Johannitern – aufgetragen. Die mehr als neunhundertjährige Geschichte des Ordens hält dafür viele Beispiele bereit. So trug es ein prophetisches Element in sich, dass die brandenburgische Balley im  „Heimbacher Vergleich“ von 1382 eine rechtliche Sonderstellung im deutschen Großpriorat und damit auch im ganzen Orden erhielt. Nur so war es möglich, dass die Reformationszeit für sie nicht zum Verlust ihrer Besitzungen, sondern zu einer sehr engen Anbindung an den brandenburgischen Kurfürsten und vor allem zum Übergang zur Reformation führte. Zwar wurde die Balley zu Beginn des 19. Jahrhunderts säkularisiert. Doch im Jahr 1852 stellte Friedrich Wilhelm IV. den Johanniterorden brandenburgischer Herkunft als selbständigen geistlichen Orden wieder her: die „Balley Brandenburg des Ritterlichen Ordens vom Spital zu Jerusalem“ gewann große Bedeutung weit über Brandenburg hinaus.

Sie werden es verstehen: Als Bischof von Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz erinnere ich daran mit großer Dankbarkeit. Ich freue mich darüber, an diese Geschichte anzuknüpfen, an der ich nun auch selbst einen unmittelbaren Anteil haben darf. Aber all das soll im Geist des Täufers Johannes geschehen: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

Amen.