Predigt im Gottesdienst des Dekanats Kulmbach auf der Plassenburg (Lukas 15, 8-10)

Wolfgang Huber

I.

„Fledermäuse willkommen“. Dieses Schild begrüßte mich, als ich heute in der Frühe allein zur Plassenburg kam. Ich freute mich über diese einladenden Worte. Nicht nur: „Fledermäuse erlaubt“ oder „Fledermäuse nicht verboten“, sondern „Fledermäuse willkommen“. Wie würden die Fledermäuse sich freuen, so dachte ich, wenn sie das lesen könnten; und wenn die Fledermäuse willkommen sind, dann die Menschen auch, die sich inzwischen hier in so großer Zahl versammelt haben.

Als ich heute morgen das Tor zur Burg durchschritten hatte, begrüßten mich zwar nicht Fledermäuse, aber Schwalben. Dieses Wort wird ja in diesen Tagen vorwiegend in anderem Zusammenhang verwendet. Auf Schwalben im Strafraum wird genauer geachtet als auf Schwalben im Burghof. Aber freuen wir uns über einen Ort, an dem Schwalben noch Vögel und Fledermäuse willkommen sind. Ich freue mich deshalb auch persönlich sehr darüber, im eindrucksvollen Rahmen des Schönen Hofs auf der Plassenburg bei Ihnen zu sein und diesen festlichen Gottesdienst mit Ihnen zu feiern.

Wer unter den Klängen des Altstadtfests nach Kulmbach kommt, wird das nicht so schnell vergessen. Nicht nur die Stadt, sondern eine ganze Region ist auf den Beinen; nicht einmal dadurch, dass der amtierende Weltmeister aus der WM ausscheidet, lässt sie sich vom Feiern abhalten – warum auch? Und über der Stadt thront die Plassenburg, auf der wir uns heute zusammenfinden – an einem Ort, der Übersicht verspricht. Stadt und Burg bilden in ihrem spannungsvollen Miteinander ein eindrucksvolles Ensemble. So wünscht man sich auch das Miteinander von Bürgerschaft und Kirche.

In dieser großen Gemeinde nutzen wir den fußballfreien Sonntag. Nach den Aufregungen der letzten Tage halten wir inne und hören auf eine von Jesus erzählte Alltagsgeschichte.

Welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte.

So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

II.

Jesus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte einer Frau. Ihr Haus darf man sich nicht zu großzügig vorstellen; vermutlich besteht es nur aus einem einzigen Raum. Es hat keine Fenster. Der Raum ist dunkel, aber nicht stockfinster; das Licht der Sonne fällt durch die offene Tür und spendet gerade genügend Licht, um sich orientieren zu können.

Diese Frau besitzt zehn Silbergroschen; wenn man großzügig umrechnet, sind das zehn Euro. Möglicherweise hatte sie das Geld gespart. Ich meine: wirklich gespart. Sparen heißt ja: Geld, das man hat, nicht auszugeben, sondern für spätere Zeit aufzubewahren, für ein größeres Vorhaben, für eine Zeit der Not oder für die Nachkommen. Wenn heutzutage in der politischen oder kirchlichen Diskussion von Sparen die Rede ist, dann meint man damit in der Regel stattdessen, Geld, das man nicht hat, auch nicht auszugeben. Ich würde das ordentlich haushalten nennen, aber nicht sparen. Oder eben: die Ausgaben, für die man kein Geld hat, kürzen. Das kann manchmal sehr wehtun, wie wir alle wissen. Deshalb entschließt man sich dazu so schwer.

Unsere Frau spart wirklich. Sie will keine Schulden machen. Ein großer Betrag ist es nicht, ein großes Vorbild aber schon. Denn nur durch solche Sparsamkeit, nur durch gutes Haushalten kann es gelingen, nachhaltig zu wirtschaften, statt Lasten, die wir heute nicht schultern können, auf eine nächste Generation zu verschieben. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir bei jeder Diskussion darüber, was wir uns leisten können, unsere Kinder und Enkel im Blick haben. Was können wir ihnen gegenüber verantworten? Daran entscheidet sich, wie viel wir ausgeben dürfen. Eigentlich müssten wir umgehend beginnen, dem Beispiel der Frau zu folgen, und wirklich sparen.

Nun aber geschieht ein Unglück. Die Frau verliert einen Silbergroschen. Ein Euro, mag man sagen, was ist das schon? Doch aus der Sicht der Frau sieht das anders aus. Ihr geht durch einen Moment der Unaufmerksamkeit ein Zehntel ihres bescheidenen Vermögens verloren. Auch für weitaus geringere prozentuale Kapitaleinbrüche werden heute in Einzelfällen Vorstände oder – weitaus häufiger und in großer Zahl – Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entlassen.
Die Frau lässt den Verlust nicht auf sich beruhen; sie sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet.

III.

Mir geht das nahe. Ein Mensch verlegt sich ganz aufs Suchen; denn er hat etwas verloren, was ihm wichtig ist. Was wäre, wenn jede Kirchenleitung, jeder Kirchenkreis, jede Gemeinde, ja jeder evangelische Christ sich diesen Satz zu Eigen machen würde: Wir suchen mit Fleiß, bis wir ihn finden. Wie sähe unsere Kirche dann aus?

Gebt keine und keinen verloren! So ermahne ich bei jeder Ordination unsere jungen Pfarrerinnen und Pfarrer. Aber die Ermahnung gilt eigentlich jedem Christenmenschen. Wenn wir alle unsere Nächsten offen darauf ansprechen, dass Gottes Güte ihnen gilt, dann werden wir uns vor Zulauf in unseren Gottesdiensten, vor Andrang in unseren Kircheneintrittsstellen, vor neuem Interesse an unseren Bildungsangeboten gar nicht retten können. Doch der Gedanke beispielsweise, Außenstehende dazu einzuladen, sich taufen zu lassen und in die evangelische Kirche einzutreten, liegt uns doch eher fern. Noch immer kann man bei uns Evangelischen eine gewisse Scheu davor finden, für die eigene Überzeugung offen und beherzt einzutreten.

Doch mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass Mission nicht eine Art von unlauterem Wettbewerb darstellt. Sie gehört vielmehr zum Kern christlichen Handelns. Ich schäme mich des Evangeliums nicht, sagt Paulus, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben. Selbstverständlich, fröhlich und selbstbewusst die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders zu bezeugen, in Wort und Tat, das ist gute evangelische Praxis in unserer Zeit.

Ein verstärktes Interesse an religiösen Fragen und Themen zeigt sich überall. Wenn Fußballspieler sich nach einem Tor bekreuzigen und einen Blick zum Himmel richten, ist das nur eine leere Geste oder ein Glaubenszeichen? Wofür darf man beten, auch für einen Sieg? Noch nie sind solche Fragen so häufig gestellt worden wie in diesen Tagen – aus einem Anlass, den Sie alle kennen, sogar an diesem fußballfreien Tag. In Massenmedien, und Filmen, im Theater wie in den bildenden Künsten spielen religiöse Fragen eine wachsende Rolle. Es ist nicht mehr peinlich, nach Gott zu fragen, nach Sinn zu suchen, über Halt und Heimat zu diskutieren – also nach dem zu fragen, was größer ist als das Kaufbare, Machbare und Gestaltbare.

Als Kirchen haben wir die große Chance, derartige Fragen aufzunehmen und unseren Glauben als Halt und Trost vor Augen zu stellen. Glaubwürdige und über den Tag hinaus tragfähige Antworten finden in der Stimmenvielfalt unserer Zeit hohes Interesse. Viele suchen heute wieder nach Vorbildern im Glauben, nach Menschen, an denen man sehen kann, wie das ist, wie es sich anfühlt, wie es ausschaut, aus Glauben zu leben.

Christen im Alltag ihres Lebens, Kirchengemeinden in ihren Angeboten Woche für Woche, Gottesdienste in ihrer verlässlichen Regelmäßigkeit oder wie heute zu einem herausgehobenen Anlass – es gibt viele Gelegenheit dafür, dass wir als Christen und als Kirche erkennbar sind und auf das Suchen und Fragen unserer Mitmenschen antworten. In dieser Weise entscheidet sich heute Kirche vor Ort. Es entscheidet sich in der konkreten Begegnung, im Gespräch in der Gemeinde, im Erleben eines Gottesdienstes. Oft sind es unscheinbare Momente, in denen sich das Verhältnis eines Menschen zu Jesus Christus und zu seiner Kirche entscheidet. Bei geringfügigen Anlässen entscheidet sich, ob Fragen ans Ziel gelangen, Unsicherheit Halt findet, Suchen der Freude über das Finden weicht.

Sie sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet. Unscheinbar ist der Anlass auch in dem Beispiel, das Jesus erzählt. Nur ein Silberdenar ging verloren, nur ein Euro. Aber die Frau gibt nicht auf, sie sucht. Zwei Methoden wendet sie an. Sie zündet das Licht an und sie fegt aus.

Zuerst ein Wort zum Fegen. Wer sorgfältig fegt, lässt nichts im Verborgenen. Nicht nur das Gesuchte kommt dabei ans Licht, sondern auch manches andere. Wie wäre der Vorschlag, all unser Tun und Lassen durchzufegen? Manches käme dabei ans Licht. Auch das Verlorene würde wieder gefunden und zum Leuchten kommen. Das Evangelium soll nämlich nicht versteckt werden, sondern leuchten. Deshalb zündet die Frau das Licht an. Sie stellt das Licht nicht unter den Scheffel, sondern leuchtet den Raum hell aus, damit sie wieder findet, was verloren war.

IV.

Das Mühen der Frau hat Erfolg. Sie findet den Silbergroschen wieder. Ihre Freude strahlt weit über die eigenen vier Wände hinaus aus; sie lädt ihre Nachbarn ein. Tun wir es dieser Frau gleich! Einladende Gemeinde wollen wir sein, Christenmenschen, die ihrer Freude Ausdruck geben.

So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut. Mit diesen Worten schließt Jesus die Erzählung vom verlorenen Silbergroschen ab. Von ihrem Ende her wird sichtbar: Es ist eigentlich eine Geschichte der Umkehr. Gottes Freude ist das eigentliche Thema dieser Geschichte. Er sucht das Verlorene. Er freut sich über das wieder Gefundene. Er gibt keine und keinen verloren. Er ermutigt zur Umkehr.

Von einer solchen Umkehr möchte ich deshalb erzählen. Sie stand am Rand des damaligen Weltgeschehens, aber ist von elementarer Bedeutung für die evangelische Kirche. Heute möchte ich an sie erinnern, an ihrem 501. Jahrestag.

Wir schreiben den 2. Juli 1505. Ein junger Mann ist auf der Rückreise von einem Kurzurlaub bei seinen Eltern zurück zu seinem Studienort. Sein Gemütszustand lässt sich nicht anders als eine innere Krise beschreiben. Er sucht auf vielen Wegen, auch in der Bibel, nach Antworten auf seine persönlichen Probleme. Das Studium der Rechtswissenschaften, für welches ihn der Vater bestimmt hat und das er mit Fleiß und Erfolg betreibt, bringt ihm keine Befriedigung; und noch viel weniger löst es seine Fragen. Da gerät der 22jährige mitten hinein in ein so heftiges Sommergewitter, dass ihm angst und bange wird. Er ist sich seines Lebens nicht mehr sicher. In seiner Not betet er.

Not lehrt beten, sagt ein Sprichwort. Das klingt abschätzig. Als ob wir nicht ohnehin wüssten, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in äußerer und äußerster Not. Bei manchen scheint schier Schadenfreude darüber aufzukommen, dass ein Mensch sich wenigstens in der Not so an Gott wendet, wie das eigentlich im ganzen Leben der Fall sein sollte. Doch Beten ist weder eine moralische Pflichtübung noch ein heimlicher Gottesbeweis. Wer betet, legt die Sorge, die ihn quält, aus den eigenen Händen. Er beruft sich auf Gott, den Herrn über Leben und Tod. Beten heißt hoffen. Wer betet, gewinnt einen neuen Blick auf sein Leben, einen Blick, der aus Sorge und Angst herausführt.

Der Student betet zu Sankt Anna. Angesichts des drohenden Todes legt er ein Gelübde ab: Hilff du, S. Anna, ich will ein monch werden. Er entkommt dem Gewitter ohne Schaden. Er hält sein Gelübde – bereits 14 Tage später feiert er ein Abschiedsfest mit seinen Freunden und tritt in das Augustinerkloster zu Erfurt ein. Er wird sich als ein äußerst begabter Mönch erweisen, der den Weg unserer Kirche wie kein anderer vor oder nach ihm geprägt hat.

Sein Name ist Martin Luther. Auf den Tag genau vor 501 Jahren erlebte er die entscheidende Umkehr in seinem Leben. Für die Kirchen der Reformation war keine Bekehrung so bedeutend wie diese.

V.

Martin Luther hat den Schatz der Bibel gefunden, ihn immer weiter entdeckt und durch seine Übersetzung ins Deutsche für uns erschlossen. Auch er suchte mit Fleiß, bis er fand – wie die Frau im Gleichnis Jesu. Und wie Gott selbst, der uns sucht, weil er sich von uns finden lassen will. Keine und keinen gibt er verloren.

Die Freude über den wieder gefundenen Silbergroschen und die Freude über das wieder gefundene Evangelium – sie gehören zusammen. Denn es geht darum, dass Gottes Freude uns erreicht. Lassen wir uns von dieser Freude anstecken und sie hinaustragen in alle Welt. Das wünsche ich Ihnen hier im Dekanat Kulmbach wie unserer ganzen Evangelischen Kirche. Auch von ihr soll gelten: Sie sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet.

Amen.