Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin (1.Petrus 3,8-17)

Wolfgang Huber

I.

„Wer das Leben liebt und gute Tage sehen will, der suche den Frieden und jage ihm nach“. Klingt Ihnen das zu idyllisch an diesem Sonntagmorgen hier in Berlin, wo die Luft zittert von dem Erleben der letzten Tage und Wochen und die Spannung vor dem Abend steigt? Wer hätte gedacht, dass sich so viele Menschen in den Bann eines Spiels ziehen lassen, eines Sports, der nach festen Regeln verläuft und doch so viele Unwägbarkeiten in sich enthält?

Nichts anderem als einem Ball wird da nachgejagt, neunzig Minuten lang und wenn es sein muss, noch einmal dreißig dazu. Für die Regeln, nach denen das geht, interessieren sich inzwischen auch Fußballmuffel. Die Namen der Spieler, der deutschen zumal, prägen sich inzwischen auch Menschen ein, die allem Personenkult abhold sind. Für die Erregung des Augenblicks, wenn ein Spieler der eigenen Mannschaft um Haaresbreite als erster den Fuß am Ball hat, sich durch eine Drehung vom Gegner befreit und mit einem weiten Pass den Mitspieler erreicht, entwickeln immer mehr Menschen einen Sinn.

„Wer das Leben liebt und gute Tage sehen will, der suche den Frieden und jage ihm nach“. Von der Geistesgegenwart im Augenblick spricht auch das biblische Wort für den heutigen Tag. Daraus aber erklärt sich auch die Spannung im Fußball, aus dieser Bedeutung des Augenblicks. Johan Cruyff, der legendäre holländische Fußballstar, hat dieses Geheimnis des Fußballs schon vor einer Generation beschrieben. Wörtlich sagte Cruyff: In allen möglichen Lebenssituationen hat man diesen Augenblick. Im Fußball gilt: ob man rechtzeitig kommt, ob man zu früh kommt oder zu spät. Die Kunst besteht darin, im richtigen Augenblick da zu sein, wo man sein muss. Aber als Cruyff aufgefordert wurde, den einen Augenblick zu nennen, der über alle anderen hinaus der entscheidende Augenblick seines Lebens gewesen sei, lehnte er das ab und sagte: „Es sind zu viele Augenblicke. Es wäre ein Irrtum, einen davon auszuwählen, denn damit machte man die anderen zunichte. ... Alle Augenblicke zusammen, die wir gemeinsam erlebt haben, sind unersetzlich. Ich werde keinen Augenblick auswählen.“

Auch beim Rückblick auf diese vier Fußballwochen werden es unterschiedliche Augenblicke sein, an die wir uns erinnern. Und „alle Augenblicke zusammen, die wir gemeinsam erlebt haben, sind unersetzlich.“ Möge es bis zum Ende so bleiben, dass sie unter diesem Leitwort stehen: „Suche den Frieden und jage ihm nach!“

II.

Nicht nur der Berliner Alltag war in den letzten Wochen verwandelt. Aber er war es doch auf besondere Weise. Hier auf dem Breitscheidt-Patz wie auf der Straße des 17. Juni herrschten andere Verhältnisse, Fußball-Verhältnisse. Auf der Straße des 17. Juni - zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor - befand sich in diesen Wochen die größte Fanmeile Deutschlands. Ausgelassen und fröhlich schauten sich dort insgesamt mehrere Millionen Menschen die WM-Spiele auf den Großleinwänden an. Hier erlebten die deutschen Fans, wie unsere Mannschaft im Spiel gegen Argentinien über sich hinauswuchs. Hier liefen die Tränen über schwarz-rot-goldene Tattoos, als unser Team gegen Italien ausschied. Hier fand gestern Abend ein großes Fußballfest statt. Wenn heute Abend die Mannschaften von Italien und Frankreich im Berliner Olympiastadion aufeinander treffen, werden sich ganz sicher wieder hunderttausende Fans das Finale auf der Straße des 17. Juni anschauen. Und während dessen werden die Spieler Frankreichs und Italiens im Olympiastadion auflaufen.

Manche werden dabei in der Kapelle innehalten. Biblische Worte werden sie dort finden, auch auf Italienisch wie auf Französisch. Die Kapelle wenigstens war auch auf diese Endspielpaarung eingestellt. Zum Beispiel dieses Wort können die Spieler in der Kapelle lesen: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ Dann werden sie sich ganz auf das Spiel konzentrieren. Sie können es umso mehr, weil sie wissen, dass vom Ergebnis nicht ihr Seelenheil abhängt. Weder das der Sieger noch dasjenige der Verlierer. Und dann werden die Menschen im Stadion mit ihnen jubeln oder auch stöhnen. Und die auf der Straße des 17. Juni jubeln und stöhnen dann mit.

An den 17. Juni 1953 erinnert die Straße, die heute noch eine riesige Fanmeile ist, an den Tag des mutigen Aufstands gegen die Lebensverhältnisse in der DDR. Sofern sie noch leben, werden sich die Demonstranten von 1953 heute freuen. Ihnen wird es recht sein, dass auf der Straße, die an ihre Tat erinnert, heute erregende, unvergessliche Augenblicke des Sports gefeiert werden.

III.

“Wer das Leben liebt und gute Tage sehen will, der suche den Frieden und jage ihm nach.“ Das biblische Leitwort für diesen Tag stammt aus dem 34. Psalm. Es wird in einem neutestamentlichen Brief aufgenommen, der dem Apostel Petrus zugeschrieben wird.

Mit dem Namen eines Menschen wird dieser Brief versehen, der weiß, was es heißt, mit großem Ziel anzutreten, gemeinsam Flagge zu zeigen, zu scheitern, wieder aufzustehen und neu zu beginnen. Petrus, das ist der Fischer vom See Genezareth, der Mann, der noch heute die Sympathien derjenigen weckt, die sich mit dem Neuen Testament beschäftigen. Leidenschaftlich begleitet er den Weg seines Meisters. Ihm bleibt es vorbehalten, in dem von ihm so verehrten Rabbi Jesus zuerst den Erlöser zu erkennen.

Bis auf den heutigen Tag entdecken wir uns in diesem Petrus wie in einem Spiegel.  Wie er, so erleben wir uns als Menschen, die sich zu Christus halten und dennoch in der Treue zu ihm scheitern, ehe der Hahn auch nur dreimal kräht. Mit ihm sind wir darauf angewiesen, nicht nur an unseren Taten gemessen zu werden. Mit ihm brauchen wir Christus, der uns auch noch im Versagen annimmt und trotz unseres Verrats zu uns steht.

Den wirklichen Verfasser des nach diesem Petrus benannten Sendschreibens kennen wir nicht. Denn mit dem Namen des Petrus wird nur die Autorität des Apostels in Anspruch genommen. Niedergeschrieben ist dieser Brief aber erst lange Zeit nach dem Märtyrertod des Petrus. Er will die Kraft wachrufen, die in der Überlieferung der Apostel verbürgt ist: die Kraft des Glaubens. Der Name des Petrus wird in Anspruch genommen, um die unmittelbare Verbindung mit den Zeitzeugen des irdischen Jesus zu halten. Die christliche Gemeinde der dritten Generation versteht sich in der Nachfolge der Apostel.

  Mit dieser Autorität wird zu einer Haltung ermutigt, die von der Zuversicht des Glaubens bestimmt ist. Dass die Christen in der Zerstreuung leben, braucht sie nicht mutlos zu machen. Denn jeder Augenblick ist von Gottes Gnade bestimmt. Das macht den Augenblick unvergesslich. Das gibt die Kraft, vor Widerständen nicht zu kapitulieren. Wer sich auf Gott verlässt, der sieht die Wirklichkeit mit anderen Augen. Dass das Leben gelingt und vom Glück bestimmt ist, hängt niemals nur von uns ab. Ob wir im richtigen Augenblick da sind, nicht zu früh und nicht zu spät, bestimmen wir nicht allein. Wir empfangen das Gelingen aus Gottes Hand; deshalb jagen wir ihm nach.

„Wer das Leben liebt und gute Tage sehen will, der suche den Frieden und jage ihm nach.“ So zitiert der Briefschreiber den alttestamentlichen Psalm. Und dann fügt er hinzu: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht.“

Da wird der Teamgeist der christlichen Gemeinde beschrieben: Ein gemeinsames Ziel  und eine gemeinsame Taktik bestimmen sie. Jeder nimmt konsequent seine Aufgabe in der Mannschaft wahr, springt aber auch für den anderen ein, wenn Not am Mann ist. Alle sind darauf eingestellt, den richtigen Augenblick nicht zu verpassen. Alle sind dazu beauftragt, anderen das Evangelium zu bezeugen. Alle sind dazu berufen,  vor Gott und den Menschen füreinander einzutreten. Das ist der Teamgeist, der die christliche Gemeinde bestimmt. Das ist die Begeisterung, mit der sie andere mitreißt.

Wenn es uns gelingt, die mehr als 25 Millionen evangelischen Christen in Deutschland noch stärker dafür zu gewinnen, dass sie ihren Freunden, ihren eigenen Kindern und ihren Kolleginnen und Kollegen gegenüber ihr Vertrauen auf Gott und ihre Leidenschaft für Jesus Christus beschreiben können, dann ist mir um die Zukunft der evangelischen Kirche nicht bange. Mir ist um die Zukunft der evangelischen Kirche nicht bange, weil die Menschen in den Gemeinden landauf und landab immer wieder versuchen, ihre Herzen und Sinne für das neue Leben in Jesus Christus zu öffnen. Um diesen Geist zu wecken, hat die Evangelische Kirche in Deutschland in der vergangenen Woche den Vorschlag gemacht, die nächsten Jahre einem Reformprozess zu widmen, durch den wir werden wollen, was wir sind: Kirche der Freiheit im 21. Jahrhundert.

Auch in diesen Tagen eines sommerlichen Hochgefühls vergessen wir nicht: In jedem von uns verbergen sich Abgründe, Unbekanntes, Zweifel, wilde Leidenschaft, geheimes Leid, aber auch Schuldgefühle und niemals Eingestandenes. Manche bedrückt das so sehr, dass sie sich einer großen Leere gegenüber sehen. Wenn wir mit kindlichem Vertrauen bei Gott Zuflucht suchen, werden auch solche Abgründe bewohnbar. Eines Tages, später einmal werden wir im Rückblick klar erkennen, dass sich Jesus Christus unser angenommen hat. Daraus erwächst das Glück freier Menschen, die sich erkannt und getragen wissen. Wer das erlebt, kann auch mit anderen den Weg des Friedens gehen.

IV.

„Wer das Leben liebt und gute Tage sehen will, der suche den Frieden und jage ihm nach.“ Auf diese kluge Anweisung hören wir an einem besonderen Tag. Deutschland steht nicht im Finale und dennoch hat unser Land die Herzen zahlreicher Gäste gewonnen. Die Welt war wirklich zu Gast bei Freunden. Zudem zeigt sich an der Begeisterung für die deutsche Nationalmannschaft, dass wir lernen, mit unserem Land unverkrampft und dankbar umzugehen. Die schwarz-rot-goldenen Fahnen belegen es: Die Einheit unseres Landes, das große Geschenk vor sechzehn Jahren, ist in den Herzen der Menschen angekommen. Auf Dauer soll unser Land ein Land des Friedens sein.

Die deutschen Nationalspieler, Jürgen Klinsmann und Jogi Löw haben ein ganzes Land dazu motiviert, mit Zuversicht und Selbstvertrauen ins Spiel zu ziehen. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass nicht nur Fußball ein starkes Stück leben ist. Wo immer Menschen miteinander ihren Weg gehen, da ereignet sich ein starkes Stück Leben.

Mitten in solchem Leben haben wir als Christen eine Mission. Wir geben Rechenschaft von der Hoffnung, die uns trägt. Wir bezeugen die Leidenschaft, die uns bestimmt. Es ist die Leidenschaft für Jesus Christus. Denn er ist unser Friede.

Amen.