Gottesdienst aus Anlass des 95. Geburtstags von Albrecht Schönherr im Dom zu Brandenburg

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen.

Bilder machen Geschichte. Sie prägen die Erinnerung in einer verdichteten Form, die fasziniert und provoziert. Am 7. März 1978 veröffentlichte das Neue Deutschland ein großes Foto, auf dem der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker  zwischen zwei Bischöfen zu sehen war, den Bischöfen Schönherr und Krusche.

Am Tag zuvor hatte ein Spitzengespräch zwischen Vertretern des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und Vertretern des SED-Staates stattgefunden. Die SED kämpfte gegen den Einfluss der evangelischen Kirche und suchte, ihn so weit wie möglich zurückzudrängen. Wir erinnern uns: In zahlreichen Betrieben gab es Kampagnen für den Kirchenaustritt, der Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt, die Jugendweihe galt als Speerspitze im Kampf gegen die Konfirmation, zahlreiche Jugendliche, die das Kugelkreuz der Jungen Gemeinde auf ihren Jacken trugen, mussten die Oberschulen verlassen.

Nach dem Mauerbau im Jahre 1961 führten rechtsstaatswidrige Prozesse dazu, dass Christen für mehrere Jahre im Zuchthaus verschwanden, angeblich weil sie beispielsweise einen Brief an die Westberliner Zeitschrift Die Funkuhr verfasst hatten oder vielleicht doch eher, weil sie eine lebendige Jugendarbeit initiierten.  Am 31. Mai 1968 wurde die Leipziger Universitätskirche gesprengt. Nur Wochen später, am Sonntag, dem 23. Juni 1968, erfolgte zur Gottesdienstzeit kurz nach zehn Uhr die Sprengung der wiederaufbaufähigen Potsdamer Garnisonkirche. An diesem Beispiel wurde ein Lehrfilm über die Sprengung von Kirchen erstellt.

Wer sich vor Augen führt, dass in dieser Zeit russische Panzer den so genannten Prager Frühling niederwalzten; wer sich daran erinnert, dass Wolf Biermann 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde und Manfred Krug 1977 ausreiste, der ahnt, unter welchen Rahmenbedingungen ein Gespräch zwischen Kirche und Staat wie dasjenige am 6. März 1978 in der DDR stattfand.

Bilder machen Geschichte. Sie prägen die Erinnerung in einer verdichteten Form, die fasziniert und provoziert. Das Johannesevangelium bietet denen, die nach Erkenntnis suchen und auf die Wahrheit hin drängen, faszinierende Bilder. Es sind Bilder von großer symbolischer Kraft. All den Mächten, die uns beherrschen wollen, stellen sie die Wahrheit entgegen, die frei macht. Dass diese Wahrheit Person geworden ist, ist das eine und einzige Thema des vierten Evangeliums, des Johannesevangeliums. In seinem Zentrum stehen deshalb sieben „Ich-bin-Worte“, die man vielleicht noch treffender auch sieben „Ich-bin-Bilder“ nennen kann.

Drei dieser „Ich bin Bilder“ oder „Ich bin Worte“ stehen in Verbindung zu entsprechenden Zeichenhandlungen. Ich bin das Brot des Lebens - das Bild vom Brot findet seinen Ausdruck in der Speisung der Fünftausend. Ich bin das Licht der Welt – das Licht leuchtet auf in der Heilung eines Blinden. Ich bin die Auferstehung und das Leben – diese Zeit und Raum übergreifende Ankündigung wird Ereignis in der Auferweckung des toten Lazarus.

Es gibt drei weitere Wortbilder, die mit großer Wirkmächtigkeit zu einer klaren Prägung des christlichen Glaubens beigetragen haben. Es sind die Leitbilder von der offenen Tür, vom guten Hirten und vom wahren Weinstock und seinen Reben.

Jesus Christus begegnet uns mitten im Leben. Mitmenschen, die sich vom Glanz des Evangeliums inspirieren lassen, öffnen uns ihre Tür im Vertrauen auf Gott. Sie behüten uns in eigenen Schwächephasen, wie das ein sorgender Hirte tut. Sie leben in einer unauflöslichen Verbindung zu Jesus Christus wie die Reben am Weinstock, die Früchte tragen, ihren Saft aus der Erde ziehen und die Sonnenstrahlen einfangen.

Als Albrecht Schönherr konfirmiert wurde, wurde ihm als Konfirmationsspruch dieses Bild mit auf den Weg gegeben: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Morgen vor 95 Jahren wurde Albrecht Schönherr im oberschlesischen Katscher geboren, studierte Evangelische Theologie in Tübingen sowie Berlin und besuchte das von Dietrich Bonhoeffer geleitete Predigerseminar in Finkenwalde. Die faszinierende Begegnung mit Dietrich Bonhoeffer und die provozierende Schwäche der eigenen Kirche treiben den jungen Albrecht Schönherr ebenso um wie die bedrohlichen Todesschatten, die um sich greifen und Finsternis hinterlassen. In diesen Jahren werden die Weichen seines Lebens gestellt. Die Psalmen, die im Finkenwalder Predigerseminar unter Dietrich Bonhoeffers Anleitung Woche für Woche meditiert werden, bieten Raum, um das Drama der Gegenwart zu deuten. Und ihre Bilder sind Brücken zu der Christuswahrheit, wie sie uns in den Bildworten des Johannesevangeliums entgegentreten. Im 80. Psalm heißt es:

Du hast einen Weinstock aus Ägypten geholt, hast vertrieben die Völker und ihn eingepflanzt. Du hast vor ihm Raum gemacht und hast ihn lassen einwurzeln, dass er das Land erfüllt hat. Berge sind mit seinem Schatten bedeckt und mit seinen Reben die Zedern Gottes. Du hast seine Ranken ausgebreitet bis an das Meer und seine Zweige bis an den Strom. Warum hast du denn seine Mauer zerbrochen, dass jeder seine Früchte abreißt, der vorübergeht? Es haben ihn zerwühlt die wilden Säue und die Tiere des Feldes ihn abgeweidet. Gott Zebaoth, wende dich doch! Schaue vom Himmel und sieh darein, nimm dich dieses Weinstocks an! Schütze doch, was deine Rechte gepflanzt hat, den Sohn, den du dir großgezogen hast! Sie haben ihn mit Feuer verbrannt wie Kehricht; vor dem Drohen deines Angesichts sollen sie umkommen.

Bilder machen Geschichte. Weil die Mächtigen davon wissen, verhindern sie, dass es Bilder von der Hinrichtung Dietrich Bonhoeffers oder von der Ermordung seines Schwagers Hans von Dohnanyi gibt. Doch Gott selbst ist in Christus, seinem Gesandten, an die Seite der Ohnmächtigen getreten. In Jesus Christus hat er Dietrich Bonhoeffer, Albrecht Schönherr und uns heute vor Augen gestellt, wie er mit uns gehen will und woran wir ihn erkennen können. Jesus Christus prägt unsere Erinnerung in einer Form, die fasziniert und provoziert: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Lieber Bruder Schönherr, an Ihrem 95. Geburtstag bringen wir unseren Dank vor Gott, der Ihnen in einem so langen Leben in klaren Bildern den Weg gewiesen hat, wie er auch uns für unser leben in klaren Bildern den Weg weist. Wir können ihn kennen, den Weinstock, den guten Hirten, die offene Tür. Wir bringen unseren Dank vor Gott hier im Brandenburger Dom, dem Sie in einer so einmaligen, die Generationen überspannenden Weise verbunden sind. Vor sechs Jahrzehnten, nach üblicher Zählung also vor zwei Generationen, übernahmen Sie hier das Amt des Superintendenten und leiteten zugleich das neu begründete Predigerseminar. Länger als ein halbes Jahrhundert standen Sie dem Domstift Brandenburg als Dechant vor, dem Sie bis auf den heutigen Tag als Ehrendechant verbunden sind. Wo anders wenn nicht hier sollten wir diesen besonderen Gottesdienst aus Anlass Ihres morgigen 95. Geburtstags feiern?

Sie blieben diesem Dom verbunden, als Sie im Jahre 1963 zum Generalsuperintendenten des Sprengels Eberswalde gewählt wurden. Auch in den Jahrzehnten kirchenleitender Verantwortung als Generalsuperintendent, Bischof und Vorsitzender der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR behielten Sie hier Ihre Heimat – hier, wo in der Krypta an die evangelischen Märtyrer in der Zeit des Kirchenkampfs erinnert wurde und erinnert wird – an Menschen, die hinweisen auf den einen Zeugen der Gnade Gottes, auf Jesus Christus selbst.

Über mehr als sechs Jahrzehnte haben Sie so Kirche gebaut und eingebracht, was Sie selbst in der Zeit des Kirchenkampfs gelernt hatten. Aber Sie haben unsere Kirche nie mit dem Reich Gottes verwechselt – wie keine Kirche mit dem Reich Gottes verwechselt und kein Stellvertreter Christi selbst an Christi Statt gerückt werden sollte. Deshalb haben Sie auch daran erinnert, dass es in dem Sendungswort Jesu Christi am Ende des Matthäusevangeliums nicht um die Kirche geht, sondern um unsere Mitmenschen.

Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch gebotenn habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Jahrzehntelang hat Ihr Dienst in unserer Kirche eine große Ausstrahlungskraft entwickelt und ist für viele Menschen zum Halt ihres Glaubens geworden. Sie haben die Eigenständigkeit des kirchlichen Zeugnisses in der Zeit der DDR nicht nur mit Deutlichkeit vertreten, sondern auch in Ihren kirchlichen Leitungsämtern dem Staat gegenüber abgesichert. Durch Ihre Treue zum Evangelium haben Sie dazu beigetragen, dass die Wiedervereinigung in Freiheit später friedlich gelingen konnte.

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Am 9.April 1970 haben Sie ein Gedenkwort aus Anlass des 25. Todestages von Dietrich Bonhoeffer gesprochen. Damals, vor nun 36 Jahren erinnerten Sie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an Dietrich Bonhoeffer. Dabei haben sie etwas gesagt, was ich heute sehr gern zitieren möchte.

„Wer unbestätigt durch Erfolge und Anerkennungen, ungesichert durch die Gewissheit, alles richtig…gemacht zu haben, in das Dunkel hat gehen müssen, sehnt sich nach der Stunde, in der alles klar wird. Er sehnt sich nach dem Angesicht Gottes, auf dem die Freiheit in letzter Vollendung aufleuchtet, als die Freiheit zur Hingabe und zum Dienst an seinen Geschöpfen. Möge man uns Christen etwas von dieser tiefgebundenen Freiheit abspüren, die darauf beruht, dass Gott einem wirklich und immer nahe ist.“

Acht Jahre nach dieser Rede – im März 1978 - konnten die Bürger in der DDR im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED, einen Staatsratsvorsitzenden sehen, der zwischen Bischof Albrecht Schönherr und Bischof Werner Krusche stand. Eigentlich hieß es: Die Kirche stirbt. Doch wer dieses Bild zu lesen vermochte, der sah in ihm ein Zeichen dafür, dass es die Kirche weiter geben wird.

Gott hat seinen Weinstock nicht preisgegeben; er hat schützend seine Hand über die Reben gehalten. Dafür sei ihm Dank gesagt. Ihm sei gedankt, dass er uns Menschen an die Seite stellt, die uns die Richtung weisen und uns begleiten.

Amen.