Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis in der St. Matthäus-Kirche zu Berlin

Wolfgang Huber

1. Thessalonicher 1,2-10

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

In der Post, die sie aus dem Briefkasten nahm, fiel ihr ein großer brauner Umschlag mit fester Rückwand gleich besonders auf. Doch sie sortierte zuerst die Werbesendungen aus, öffnete dann das Kuvert mit der Telefonrechnung und wandte sich erst am Schluss dem großen Umschlag zu. Als sie den Absender las, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Na so etwas, dachte sie. Der geöffnete Umschlag gab ein Bild frei. Ihre Augen glitten über das glänzende Fotopapier. Tatsächlich, das gibt es doch nicht, so schoss es ihr durch den Sinn. Als sie mit dem Foto in den Händen auf den Stuhl sank, überkamen sie die Erinnerungen. Damals, als Sie vor zwanzig Jahren geheiratet hatten, brauchte niemand zu sagen: Bitte recht freundlich! Sie lachten ohnehin und befanden sich in Hochstimmung. Ein dabei entstandenes Gruppenbild vor der Hochzeitskirche lag nun in ihren Händen. Bei der Erinnerung an das fröhliche Lachen und den Glanz dieses unvergesslichen Tages durchrieselte sie ein warmes Glücksgefühl. Heute war ihr zwanzigster Hochzeitstag.  Ihre beste Freundin hatte offensichtlich daran gedacht und ihr dieses herrliche Foto geschickt. Am Abend würde sie ihre Familie mit dem Bild überraschen: der Momentaufnahme eines Anfangs.

Der Predigttext aus dem ersten Kapitel des 1.Thessalonicherbriefes ist in einem gewissen Sinne die Momentaufnahme eines Anfangs. Vielleicht gleicht er einem wertvollen Hochzeitsfoto.  Hören wir auf die Worte aus diesem Brief, dem frühesten Text des Neuen Testaments überhaupt:

Wir danken Gott allezeit für euch alle und gedenken euer in unserm Gebet und denken ohne Unterlass vor Gott, unserm Vater, an euer Werk im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und an eure Geduld in der Hoffnung auf unsern Herrn Jesus Christus. Liebe Brüder, von Gott geliebt, wir wissen, dass ihr erwählt seid; denn unsere Predigt des Evangeliums kam zu euch nicht allein im Wort, sondern auch in der Kraft und in dem heiligen Geist und in großer Gewissheit. Ihr wisst ja, wie wir uns unter euch verhalten haben um euretwillen. Und ihr seid unserm Beispiel gefolgt und dem des Herrn und habt das Wort aufgenommen in großer Bedrängnis mit Freuden im heiligen Geist, so dass ihr ein Vorbild geworden seid für alle Gläubigen in Mazedonien und Achaja. Denn von euch aus ist das Wort des Herrn erschollen nicht allein in Mazedonien und Achaja, sondern an allen Orten ist euer Glaube an Gott bekannt geworden, so dass wir es nicht nötig haben, etwas darüber zu sagen. Denn sie selbst berichten von uns, welchen Eingang wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns von dem zukünftigen Zorn errettet.

Dieser Brief ist ein Musterbeispiel für den Umgang mit eigenen Erfahrungen, ein Vorbild dafür,  wie man die Geschichte der Kirc he Jesu Christi weiter erzählt. Wenn wir gute Erfahrungen mit anderen teilen, setzen sie nicht nur ein gemeinsames Erinnern in Gang, sondern ermutigen zugleich zur Gestaltung der Zukunft. Das schützt vor einer erstarrten, wehmütig rückwärtsgewandten Nostalgie. Kräfte werden freigesetzt, aus denen Zukunft erwachsen kann. Freude und Fröhlichkeit prägen ein solches Erinnern. Es darf sogar gelacht werden. Eine Kirche, der das Lachen abhanden gekommen ist, weil sie weder über sich selbst zu lachen vermag noch ihrer Freude am Glauben Ausdruck verleihen kann, ist keine Kirche der Freiheit.

In Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« gehört der überstrenge Mönch Jorge de Burgos zu den Schlüsselfiguren. Er verabscheut das unterhaltsame Gelächter der Menschen; Er fürchtet nichts so sehr wie die Verbreitung einer verloren geglaubten Schrift des Aristoteles über das »Lachen«. Und natürlich bestreitet er, dass Jesus gelacht haben könnte. In Umberto Ecos Roman hat die angstbesetzte Kirche im Bild des unfreien Traditionshüters und der dunklen Abtei keine Zukunft. Die Abtei geht in Flammen auf.

Ein biblisches Urbild fröhlichen Lachens dagegen sind Abraham und Sarah. Gott erscheint dem hundertjährigen Abraham und verkündet ihm, dass er Vater werden wird. Abraham zieht es vor zu schweigen. Daraufhin sagt Gott der neunzig Jahre alten Sarah: "Du wirst Mutter werden." Sarah krümmt sich vor Lachen. Jetzt ist es Gott, der es vorzieht zu schweigen. Das Unglaubliche geschieht. Ein Knabe wird geboren. Er erhält den Namen Isaak; Der Name bedeutet: der, der fröhlich lacht.

Paulus vergegenwärtigt sich voller Dankbarkeit den Weg einer von ihm gegründeten Gemeinde. Er spricht im Indikativ. Er nimmt beglückt wahr, was  ist, und nicht, was sein sollte. Er ist Gott dankbar für das erstaunlich beherzte und mutige Leben der Menschen in der Gemeinde, die er selbst gegründet hat und die von Anfang an mit massiven Schwierigkeiten von Seiten der jüdischen Gemeinschaft und der griechischen Umwelt zu kämpfen hatte. Auf eine stolze Statistik kann er in Wahrheit nicht verweisen. Viele zehntausende von Menschen haben damals in Thessaloniki gewohnt; um eine ungewöhnlich große und bedeutende Hafenstadt handelte es sich. Die Christengemeinde, die durch Paulus gegründet worden war, mag in dieser Anfangszeit vielleicht fünfzig Mitglieder gehabt haben; einen Kreis muss man sich vorstellen, der kleiner war als die hier versammelte Gemeinde. Von dieser kleinen Gemeinde in heidnischer Umwelt redet Paulus in so hohen, ja überschwänglichen Tönen. Von ihr behauptet er, dass ihr Ruf bereits weit über die Grenzen Thessalonikis hinaus gedrungen sei.  Und man spürt: All das kommt aus tiefstem Herzen.

In der fröhlichen Konzentration auf den Kern des christlichen Glaubens werden zugleich die Konturen des Evangeliums sichtbar. Paulus erinnert daran, indem er den Dreiklang ausruft, um den es geht: Es ist ein tätiger Glaube, eine Liebe, die sich einsetzt, und eine geduldige Hoffnung.

 Zuerst erinnert er an die tätige Antwort des Glaubens auf Gottes Berufung. Ihr habt euch von den heidnischen Götzen abgewandt und euch dem einen, einzigen Gott, dem Vater Jesu Christi zugewandt. Das war eine elementare Unterbrechung des bisherigen religiösen Denkens, Fühlens und Handelns und damit des gesamten Lebensvollzugs. Heute könnte es der Götze der Selbstbezogenheit sein, dessen Bann wir brechen müssen. Er duldet kein Lachen. Seinen Anhängern befiehlt er: Du musst es schaffen! Die Angst vor dem Scheitern ist sein Schatten. Der Ruf des Evangeliums lässt das krampfhafte Kreisen um die eigene Befindlichkeit hinter sich. Die Hinwendung zu den Menschen, die an unserer Seite stehen, befreit uns aus der Enge der eigenen Gedanken. Der tätige Glaube schenkt uns Begegnungen mit den sichtbaren Mitmenschen, in denen wir die Gegenwart des unsichtbaren Gottes erfahren.

Zum andern spricht er von der tätigen Liebe. Wer das Evangelium von Jesus Christus, den Gott vom Tod auferweckt hat, annimmt, orientiert sich neu im Leben. Der Blick auf Jesus Christus, in dem sich Gott zu erkennen gibt, führt auch uns dazu, in tätiger Liebe auf das zu antworten, was uns als Frage, als Leid und Glück begegnet. Wir alle leben davon, dass die Liebe Jesu Christi unter uns lebendig wird. Wir alle können davon erzählen, wie der in Christus gegründete Glaube zur Mitmenschlichkeit drängt: Einer trage des anderen Last, heute wie morgen.

Schließlich erinnert Paulus an übermorgen: Dieser Christus wird wiederkommen, um euch vor dem Zorngericht zu retten. Paulus bestärkt die Gemeinde von Anfang an darin, sich an der Hoffnung auf die Auferstehung auszurichten, die alle Grenzen von Raum und Zeit durchbricht. Ein Leben, das von dieser Zuversicht getragen ist, tritt aus dem Schatten der ewigen Angst und aus dem Zwang zur andauernden Selbstrechtfertigung heraus. Man darf es sich ruhig vorstellen, das endzeitliche Gastmahl messianischer Erfüllung. Man darf ganz gewiss damit rechnen, dass Isaak dabei sein wird, zu deutsch: der, der fröhlich lacht. Und er wird seinem Namen ganz gewiss alle Ehre machen. Bei einem „bitte recht freundlich“ wird es nicht bleiben. Dafür hat schon Sara zu laut und zu fröhlich gelacht. Entscheidend ist freilich, dass Jesus denjenigen, die unter Umständen leben müssen, bei denen es nichts zu lachen gibt, einen Grund zum Lachen schenkt. Was waren Jesu Heilungen anderes als Wunder, die einzelnen Menschen, denen das Lachen vergangen war, die Fröhlichkeit zurückgaben? Schmerz und Lachen – so heißt es – sind Zwillingskinder der Liebe Gottes.

Der Schweizer Dichter-Theologe Kurt Marti sagt es so: „Es gibt lachende Wahrheiten über Verhältnisse und Vorgänge, die zum Heulen sind.“ Lachend holen wir gleichsam Luft, um im Elend besser standhalten zu können. Da dies jedoch nicht so leicht ist, sollten wir beten: „Gib uns heute unser tägliches Lachen.“ Denn Tage ohne ein solches Lachen – das sind doch Tage, um noch einmal Kurt Marti zu zitieren, „die absolut unerleuchtet und gottfern sind.“

Der erste Thessalonicherbrief stellt uns ein Bild des Anfangs vor Augen. Die Bibel steckt insgesamt voll von Bildern des Neuanfangs. Heute haben wir im Evangelium von den zehn geheilten Aussätzigen gehört, die ihr neues Leben so unterschiedlich haben beginnen lassen. Und wie steht es mit uns? Meinen wir, es gäbe keine neuen Anfänge in unserem Leben? Wir könnten ja für uns selbst darauf achten, wo sich unerwartete Möglichkeiten zeigen für einen tätigen Glauben, für eine Liebe, die sich einsetzt, und für eine geduldige Hoffnung. Wer sich darauf einlässt, der öffnet einen Briefumschlag und findet längst vergessene Fotos des Anfangs.

Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat – und auch heute und morgen tut.

Amen.