Predigt im Erntedankgottesdienst im Evangelischen Johannesstift Berlin

Wolfgang Huber

Jesaja 58,7-12

Der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Das ist die Verheißung, unter der wir Erntedank feiern, hier im Evangelischen Johannesstift Berlin, heute an diesem herrlichen Septembertag. Der alttestamentliche Prophet gibt unserem Denken und Fühlen an diesem Tag die Richtung vor. Der Dank für Gottes gute Gaben und die Bereitschaft, sie mit anderen zu teilen: beides bestimmt unseren Erntedank; denn beides gehört zum Leben. Deshalb: Leben – Danken – Teilen.

Dank ist das erste. Hier im Johannesstift können wir damit gar nicht schnell genug sein. Denn das Evangelische Johannesstift Berlin war seiner Zeit schon immer einen Schritt voraus. Während in anderen Kirchengemeinden die Erntedankgottesdienste zumeist erst für den nächsten Sonntag geplant werden,  feiern wir schon heute das größte Erntedank- und Volksfest Berlins. Unter strahlend blauen Himmel freuen wir uns über das Geschenk des Lebens, wir halten inne vor Gott, der uns ins Dasein ruft, und nehmen mit Bewunderung Anteil an den guten Gaben der Schöpfung. Wir lassen uns erinnern an Gottes eigenes Urteil über seine Schöpfung: Gott sah alles an, wie er es gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. So heißt es im biblischen Schöpfungsbericht.

Erntedank wird gefeiert, wenn die Ernte eingebracht ist. So war das über Jahrhunderte hinweg. Wir feiern heute zusammen Erntedank, obwohl die wenigsten von uns Getreide gemäht oder Kartoffeln ausgegraben und in die Scheune getragen haben. Doch auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der weit weniger Menschen selbst in der Landwirtschaft tätig sind als früher – auch heute sind wir empfänglich für den Duft von frisch gebackenem Brot, für die Freude  an einem saftigen Pflaumenkuchen, an gerade geernteten Tomaten und Gurken, an eben erblühten Astern und Dahlien. Wir bewundern die Fülle der Schöpfung, wenn wir sie vor uns sehen: die Stiegen voller Äpfel, die Kartoffeln und Kürbisse.  Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, so rufen wir dankbar aus. Was für eine Lebensfülle!

Es ist so, als wolle die Schöpfung mit dieser überschwänglichen Fülle andeuten, dass diese Welt von Gott ins Leben gerufen wurde, um sich für die messianische Zeit vorzubereiten, in der Christus wiederkehrt und uns an die reich gedeckte Tafel Gottes führt. Wir spüren an einem Tag wie dem heutigen, dass die Schöpfungsgemeinschaft aller Geschöpfe möglich ist.

Doch dieser Ton des Dankes, dieses Lob der Gottesfülle wird immer wieder verdunkelt. Wir müssen ihn erklingen lassen gegen so manchen Widerstand in uns und um uns. Verdunkelt wird dieser Ton durch die Macher wie durch die Vereinfacher.

Die Macher erklären, der Dank für Gottes gute Schöpfung sei überflüssig geworden. Der Mensch selbst sei der Macher, er sei der Herr des Lebens. Gentechnisch verändertes Saatgut oder reproduktionstechnisch hergestellte Menschen: sie alle zeigen doch, wozu der Mensch fähig ist. Ich habe Sinn dafür, dass wir nicht nur die Schöpfung loben, sondern auch die Technik. Sie hat uns vieles leichter gemacht. Doch vor einem sollten wir bewahrt bleiben: nämlich vor Überheblichkeit und Größenwahn. Unser Leben bleibt ein Geschenk, über das wir nicht verfügen. Über der Schöpfung liegt ein Glanz, den wir nicht selbst hergestellt haben.

Neben die Macher treten die Vereinfacher. Sie wollen uns zu einem Weltbild zurückführen,  das die Güte der Schöpfung Gottes verdunkelt. Da werden wieder Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Haus des Friedens und Haus des Krieges, Achse des Guten und Achse des Bösen gegeneinander gestellt, ohne jede Aussicht auf Versöhnung. Wer einen solchen Riss durch unsere Welt gehen lässt, macht sich die Frage zu einfach, woher das Böse kommt und wer Schuld ist am Elend der Armen. Die Antwort ist dann nämlich simpel: Schuld sind immer die anderen. Die universale Geltung der Menschenrechte wird durch die Einteilung der Menschen in gute und böse außer Kraft gesetzt. Die gleiche Würde jedes Menschen wird durch den Gedanken der eigenen Auserwähltheit in Frage gestellt. Recht wird durch eine zweifelhafte Moral ausgehöhlt. Das Haus des Friedens hier und in das Haus des Krieges dort; die Achse des Bösen dort und der Hort der Zivilisation bei uns.

Es gibt nicht genug Dahlien und Astern, um die Spannungen in unserer Welt zu überdecken. Das würde auch niemandem helfen. Aber Brücken tun gut, auf denen wir gemeinsam die Erntekrone von einem Ufer zum anderen tragen können. Brücken der Anerkennung sind nötig, auf denen Menschen sich begegnen, auf denen sie einander in Respekt und Anerkennung gegenübertreten. Einen Kampf der Kulturen brauchen wir nicht; aber eine Kultur der Anerkennung brauchen wir dringend.

Deshalb geht vom heutigen Tag der Ton des Dankes aus; wir geben dem Gotteslob Raum. Die Bereitschaft zum Teilen tritt dem zur Seite. Noch einmal hören wir auf die Stimme des Propheten: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.

Unsere Mitmenschen sind von Gott geliebt wie wir selbst. Deshalb ist uns ihre Situation nicht gleichgültig. Um ihretwillen können wir uns das Geschaffene nicht nehmen, als ob es  einfach in unserer Verfügungsgewalt stünde und nicht aus der Hand Gottes käme.  Dieser schöpfungsvergessene Gebrauch führt in die Krise, weil in der Gottvergessenheit die gute Gottesgabe verdirbt.

Aus der Mitte des Lebens heraus fragen wir uns heute, wie wir als Christen unseren Ort in der Gesellschaft neu finden können. Eine lebensbejahende Offenheit, wie sie uns beim Propheten Jesaja entgegentritt, ist für mich eine überzeugende Option. Hier wird der Andere als eine Person geachtet, deren Würde in Gott verankert ist. Darin zeigt sich die universale Liebe des Schöpfers zu unserer Welt.

Im Glanz der Fülle zu Erntedank werden zugleich die Fußspuren Jesu Christi sichtbar, der uns vorangegangen ist. Er hat uns vor Augen geführt, dass der Glaube an den unsichtbaren Gott zusammengehört mit der Achtsamkeit für meinen sichtbaren Nächsten. Im Angesicht meiner Mitmenschen spiegelt sich die messianische Hoffnung auf eine Schöpfungsgemeinschaft aller Geschöpfe.

Der Duft von frischem Brot erinnert uns daran, dass kein Mensch ohne Wasser und Brot, ohne Nahrung und die Luft zum Atmen leben kann. „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – das ist immer auch ein Gebet für unseren Nächsten. Unser Brot ist immer auch „Brot für die Welt“. Indem wir unser Brot mit anderen teilen, setzen wir Zeichen der Hoffnung – gerade dort, wo Hoffnungslosigkeit sich ausbreitet. Gute Botschaft für die Elenden, Heilung für die zerbrochenen Herzen, Freiheit für die Gefangenen, ein gnädiges Jahr des Herrn: das ist die Verheißung, unter der diese Arbeit geschieht. Die prophetische Botschaft hindert uns daran, vor dem Elend dieser Welt zu kapitulieren, den Waffen das letzte Wort zu überlassen und der Verschärfung der Konflikte tatenlos zuzuschauen.

Unter strahlend blauen Himmel freuen wir uns über das Geschenk des Lebens, wir halten inne vor Gott, der uns ins Dasein ruft und nehmen mit Bewunderung Anteil an den guten Gaben der Schöpfung. Wir lassen uns erinnern an Gottes eigenes Urteil über seine Schöpfung: Gott sah alles an, wie er es gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

Amen.