Predigt zum Jahresfest des Evangelischen Stifts in Freiburg

Wolfgang Huber

I.

Schritt für Schritt geht es vorwärts. Jedes Jahr einen Schritt weiter. Seit 147 Jahren lässt sich diese Art des Vorwärtsbewegens auf dem Weg der Zeit hier im Evangelischen Stift Freiburg feiern. Auch wenn es ein vollkommen ungerades Datum ist, das uns heute zum Jahresfest zusammenführt, ist es nicht ohne Bedeutung. Und das 150. Jahresfest wirkt ja schon am Horizont. Insgesamt spiegelt sich in dieser Jahreszahl eine Erfolgsgeschichte gemeindenaher Diakonie. Dazu spreche ich Ihnen die Glückwünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland aus. Und ich verbinde das mit meinem persönlichen Dank. Mein Konfirmator an der Christuskirche in Freiburg, vor genau fünfzig Jahren, Pfarrer Kühlewein, war später Direktor des Stifts. Meine Mutter hat vor ihrem Tod im Jahr 2000 hier im Stift gelebt; den Dank meiner Familie dafür, dass sie hier fürsorglich betreut wurde, statte ich heute gern ab. An weitere persönliche Verbindungen denke ich gern an diesem Tag. So bin ich mit Freude zu diesem Jahresfest gekommen.

Das Evangelische Stift Freiburg geht in sein 148. Jahr. Ein solcher Schritt ereignet sich. Er gehört nicht zu denen, die wir selber wählen. Wir haben vielmehr keine andere Wahl. Der Ablauf der Zeit diktiert den Wechsel der Jahre. Möglicherweise kommt daher der eigentümliche Zwiespalt, dem auch Jubiläumstage unterliegen. Denn was wird die kommende Zeit bringen? Weder wird alles bleiben, wie es war. Noch liegt das Morgen in unserer eigenen Hand. Was gibt uns Bestand? Wer verbürgt Zukunft?

Halt für unser Leben haben wir nur, wenn wir uns Gott in die Hände geben. Denn er spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Unter diesem Wort steht dieses Jahr 2006. Unter dieses Wort will ich den nächsten Schritt stellen, auf den das Evangelische Stift Freiburg sich heute einstellt. Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.

II.

Dieses Wort kommt allerdings von weit her. Es stammt aus der Gründungsgeschichte des Volkes Israel. Es hat seinen Ort in der biblischen Erzählung, die davon berichtet, wie Israel aus der Sklaverei in Ägypten in das Land seiner Väter zurückkehrt. Mose hat es auf dem langen Weg durch die Wüste geführt. Er sieht das verheißene Land noch; doch seinen Fuß kann er nicht mehr in dieses Land setzen. Er stirbt vorher. Und dann heißt es zu Beginn des Buches Josua:

Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe. Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hethiter, soll euer Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Erst nach dem Tod des Mose gibt Gott das Signal zum Aufbruch: Zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk.

Damit endet eine Epoche. Der Jordan ist Symbol für das Ende wie für den Neuanfang. Der Jordan bezeichnet einen point of no return. Ist er überschritten, hat etwas grundsätzlich Neues begonnen. Es gibt kein Zurück mehr in den Alltag altvertrauter Lebensgewohnheiten, weil eine neue Epoche beginnt. Doch es ist nicht der Schritt vom Intakten zum Kaputten, vom Heil zum Unheil, vom Leben zum Tod. Es ist genau umgekehrt: Es ist der Schritt vom Warten zur Erfüllung, von der Wüste ins gelobte Land, vom Zweifel zur Gewissheit. Diese Schwelle markiert der Jordan. Ihn zu überqueren ist ein Wagnis. Doch die Gewissheit, von Gott geführt zu werden, stiftet Vertrauen.

III.

Auch die Geschichte des Evangelischen Stifts Freiburg beginnt mit einem Wagnis, mit einem point of no return: Am 19. Oktober 1859 verschenkt Carl Mez Haus und Grundstück der Pfaffengasse 785 an die evangelische Kirchengemeinde. Offenbar gehörten Wagemut und Innovationsbereitschaft zu den herausragenden Charakterzügen dieses Unternehmers, Politikers und Christen. Seine Geschichte hat mich von schon in meiner Freiburger Jugendzeit beeindruckt. Mit der vom Vater ererbten Seidenzwirnfabrik hatte er ein gewisses Vermögen erwirtschaftet. Seine Geschäftsreisen hatten ihn auch durch die wirtschaftlich benachteiligten Gebiete des Schwarzwalds und des Odenwalds geführt; die Not, die er dort kennen lernte, wurde für ihn zum Impuls für sein soziales und politisches Engagement. Dieses gestaltete er bewusst und ausdrücklich als Christ. In einem Brief schrieb er einmal: Von jeher bin ich ergeben gewesen den Grundsätzen wahrer Freiheit. Ich bin es gewesen und ich bin es noch, nicht aus angeflogener Phantasie, sondern aus der in mir lebenden religiösen Ueberzeugung: "Der Mensch ist von seinem Schöpfer zur Freiheit erschaffen." Religion ist mir das allerwichtigste, sie ist für meine ganze Lebensrichtung Quelle und Grundlage. Christus ist mein Herr und Meister, und sein Gebot: "Liebet euch untereinander, denn ihr seid Brüder," enthält nach meiner Ansicht die einzige Politik, welche die Menschheit beglücken kann.

Damals beförderte die Industrialisierung die Einsicht in die Notwendigkeit, der Nächstenliebe eine neue Gestalt zu geben. Heute stürzen der demographische Wandel und die Zwänge einer globalisierten Welt das Gefüge der Gesellschaft um. Arbeitslosigkeit und Armut, die Überalterung, die man besser eine Unterjüngung nennen sollte, das starke Bildungsgefälle und die wachsenden Erziehungsdefizite, die Marginalisierung von Behinderten und die Isolierung von Alten: das sind alles Phänomene, die sich nicht einfach auf das Versagen der Einzelnen zurückführen lassen. Trotzdem müssen die Einzelnen in dem Maß für sich selbst sorgen, in dem ihnen das möglich ist. Denn nur dann lassen sich Spielräume für gesellschaftliche Solidarität gewinnen, die wir so dringend brauchen. Doch genauso gilt: Nur wenn es auch heute und morgen Menschen gibt, die ihr Handeln an dem ausrichten, was ihre Nächsten von ihnen erwarten; nur wenn Menschen mutig und mit Gottvertrauen den Schritt ans Ufer der Fürsorge für den Nächsten wagen, werden wir eine menschliche Gesellschaft behalten. Menschen zum Helfen zu ermutigen, bleibt eine dringliche Aufgabe.

IV.

Was mit dem Geschenk einer Immobilie begann, wurde zu einer diakonischen Erfolgsgeschichte, die dem Stiftungszweck verschrieben war, alten und jungen Menschen Hilfe anzubieten und zu diesem Zweck Häuser und Heime, ambulante und stationäre Dienste zu unterhalten. Standen im Laufe der Geschichte zunächst die Hilfe für Waisen und Jugendliche im Vordergrund, so hat sich das Stift heute auf die Hilfe für ältere Menschen spezialisiert. Niemand vermochte einen solchen Weg vor über 140 Jahren vorauszusagen - und dennoch ist die Stiftung im Laufe ihrer Jahresschritte in die richtige Richtung gesteuert worden. Wenn sie sich heute dem Alter in besonderer Weise widmet, so geschieht das im Einklang mit dem Eindruck, dass der Segen des Alters in keiner anderen Zeit so wahrnehmbar gewesen ist, wie heute.

Das Alter ist ein Segen. Es ist geschenkte Zeit, die unseren Vorfahren nur sehr selten vergönnt war und über die auch wir erst seit kurzem verfügen dürfen. Denn die Lebensphase „Alter“ ist ein junges Phänomen. Ein weitgehend gesundes und tatkräftiges Alter ist heute nahezu zur Normalität geworden. Empfinden wir diese einer ganzen Generation geschenkten Jahre als Segen, als Grund zur Freude und zur Dankbarkeit? Wer die aktuellen Debatten über die Zukunft unseres Landes und die Krise des Sozialstaates verfolgt, wird daran Zweifel haben. Aber warum reden wir fast ausschließlich über die Belastungen des Alters, statt uns über seinen Segen zu freuen? Warum ist so wenig von der Dankbarkeit über die geschenkten Jahre zu hören?

Ein Blick auf die Tätigkeiten, die Männer und Frauen nach Erwerbsleben und aktiver Familienphase faktisch ausüben, zeigt, dass viele ältere Menschen sich engagieren wollen. Sie möchten sich nicht nur versorgen lassen, sondern wollen etwas gestalten und ihre Kräfte zu Gunsten anderer einbringen. Sie betreuen (Enkel-)kinder, pflegen die eigenen sehr alten Eltern oder den kranken Partner. Sie unterstützen hilfsbedürftige Nachbarn und Bekannte. Diese Tätigkeiten sind unverzichtbar und tragen erheblich zum sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Der Rückzug ins Private, der mit Erreichen des Rentenalters, spätestens jedoch mit dem Alter von etwa 70 Jahren angenommen wird, mag angemessen, ja unvermeidbar gewesen sein in Zeiten, in denen das Alter vor allem durch Gebrechen und nachlassende Kräfte definiert war. Heute hindert dieses Rollenbild, die Talente des Alters zu erkennen, und begrenzt die Chancen älterer Menschen ebenso wie die Nutzung ihrer Potenziale durch die Gesellschaft. Denn solche Chancen wie Potenziale liegen in der Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwohl.

V.

Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Diese Gewissheit begleitet uns bei allen Schritten unseres Lebens. Die Gewissheit, dass Gott uns nicht fallen lässt, gehört zur eisernen Ration unseres Lebens. Sie hilft uns dabei, zuversichtlich nach vorne zu blicken.

Ohne solche Zuversicht kann keine Gemeinschaft leben. Menschen brauchen Vertrauen in die Zukunft, wenn deren Gestaltung gelingen soll. Noch immer stellen allerdings viele hohe Anforderungen an die Gestaltung der Zukunft - vor allem durch die Politik - , lassen es aber selbst an Vertrauen in die Zukunft fehlen.

Anders wird es erst, wenn wir uns wieder in den Strom dieser Verheißung hineinstellen: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Man muss über den Weitblick derer staunen, die vor langer Zeit dieses biblische Wort über das Jahr 2006 gestellt haben. Denn es stimmt: Viele begreifen wieder neu, dass das Vertrauen auf Gott die entscheidende Zukunftskraft ist. Sie merken, dass die Zukunft nur meistert, wer einen andern als Meister über sein Leben anerkennt. Deshalb ist es für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft wichtig, dass der Glaube wieder als Zukunftskraft wahrgenommen wird.

Sei nur getrost und unverzagt. Gleich dreimal bekommt Josua diesen Satz zu hören. Es ist die Haltung, die den Schritt über den Jordan nicht nur still erleidet, sondern diesen Schritt bewusst geht. Es ist die Haltung, die sich nicht durch Schwierigkeiten um das eigene Engagement betrügen lässt, sondern aus dem Vertrauen auf Gottes Verheißung weitergeht - eben getrost und unverzagt.

Nur wer sich in das Land von Morgen offenen Herzens, in liebevoller Absicht und unter dem Leitstern von Gottes Gebot hineinbegibt, wird dieses Land von Morgen auch mit gestalten können. Ob im persönlichen Leben oder im gesellschaftlichen Miteinander: immer geht es darum, den Schritt über den Jordan im Vertrauen auf Gottes Treue und Verheißung zu wagen. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst. Für das Evangelische Stift gilt diese Verheißung auch in seinem 148. Jahr - und weit darüber hinaus.

Amen.