Predigt in der 22. Ökumenischen Michaelsvesper in Neuss: Dankbarkeit für Heilige aus evangelischer Sicht

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! (Rö 1,7b) - Mit diesem Pauluswort grüße ich Sie hier in Neuss in der Michaelsvesper. In diesem besonderen Jahr feiern Sie ein Doppeljubiläum: 200 Jahre evangelische Christen in Neuss, seit 100 Jahren gibt es die Christuskirche. Es ist gut und richtig, dies in angemessener Form zu feiern und Gott für diese Zeit zu danken: Gnade sei mit euch und Friede.

Diesen Segenswunsch hat Paulus allerdings nicht ursprünglich an die Christen in Neuss geschrieben; er ist an die Gemeinde in Rom gerichtet; genauer: An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom (Rö 1,7a). Paulus wendet sich den Heiligen zu! Dieses zu erinnern, tut im evangelischen Bereich not. Denn zu sehr wird doch oft die Rede von den Heiligen allein unseren katholischen und orthodoxen Geschwistern anheimgestellt. Doch der Aufruf, sich um die Nöte der Heiligen zu kümmern (Rö 12,13) und ihnen zu dienen (15,25), ist für Paulus genauso selbstverständlich wie die Heiligen als innergemeindliche Rechtsinstanz anzusehen (1. Ko 6,1) oder uns Christen als Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen (Eph 2,19) oder zum Gebet für alle Heiligen (6,18) aufzurufen. Heilige sind ein gesamtchristliches Thema.

Freilich trage ich hier in Neuss, im St. Quirinus-Kloster allzumal, Eulen nach Athen. Die Stadt ist - neben vielen anderem wie wunderschönen Bauten und Altbier, Klassiknacht und Nordkanal - seit 956 Jahren mit der Person und den Gebeinen des Heiligen Quirin verbunden. Eine Glocke mit seiner Gestalt steht übrigens schon seit Jahren auf meinem Schreibtisch. Intensive Diskussionen darüber, wie seiner in angemessener Weise von allen Neussern gedacht werden könne, bestimmten zur Jahrtausendwende die Feiern zur 950jährigen Wiederkehr der Übertragung seiner Gebeine hier in die Stadt.

Ich möchte in dieser Predigt an einen anderen, und weitaus jüngeren Christen, erinnern, dessen 100. Geburtstag am Beginn dieses Jahres gefeiert wurde: Dietrich Bonhoeffer. Vor sechs Jahren, rechtzeitig vor der 95. Wiederkehr von Bonhoeffers Geburtstag, wandte sich ein mutiger und weitsichtiger Historiker, Klemens Klemperer, an den Heiligen Stuhl mit der Anregung, Dietrich Bonhoeffer selig oder gar heilig zu sprechen. Freundlich war die Antwort aus dem Vatikan; doch sie erklärte zugleich unumwunden, dass dies nicht möglich sei. Auch Bonhoeffer selbst hätte dem möglicherweise widersprochen; aus sich einen Heiligen zu machen, war seine Sache nicht.

Aber der Ökumenische Heiligenkalender führt ihn selbstverständlich unter den Heiligen an und behauptet, nach evangelischem wie nach anglikanischem Brauch sei ihm der 9. April, der Tag seines Todes, als Gedenktag gewidmet. Christian Feldmann ordnet Dietrich Bonhoeffer in seinem Hausbuch großer Gestalten und Heiligen für jeden Tag ebenfalls - und zwar ökumenisch konkurrenzlos - dem 9. April zu. Ihm folgt am 10. April Pierre Teilhard de Chardin. Am 7. und 8. April gehen ihm Johann Hinrich Wichern und Abraham Lincoln voraus. Eine Reihe von großen Gestalten und Heiligen mit eigener Spannweite ist das. Über dem Westportal von Westminster Abbaye finden wir Dietrich Bonhoeffer als einen unter zehn herausragenden Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts. Dort steht er neben Maximilian Kolbe, Janani Luwum, Martin Luther King, Oscar Romero, Esther John und anderen; 1998 wurden diese Statuen enthüllt.

Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Aber war Bonhoeffer ein Märtyrer, ein Heiliger? Dass er ein "Gerechter unter den Völkern" sei, hat die Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust in Jerusalem, Yad Vashem, seit 1986 kontinuierlich bestritten, vor einiger Zeit sogar mit höchstrichterlicher Bestätigung.

Dietrich Bonhoeffer wollte nie ein Heiliger werden; aber Heiligkeit war ein Grundthema seiner Theologie. Denn die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, als sanctorum communio war nicht nur sein erstes theologisches Thema, dem er als Einundzwanzigjähriger seine Doktorarbeit widmete; dieses Thema war ihm vielmehr bleibend wichtig. In dem Buch, das die theologischen Einsichten der Zeit in Finkenwalde zusammenfasst, in der Nachfolge also, trägt ein ganzes Kapitel die Überschrift Die Heiligen. Heilig ist allein Gott - so heißt der Grundsatz dieses Kapitels. Er allein kann sich deshalb auch ein Heiligtum in dieser Welt schaffen. Gottes Rechtfertigung des Sünders in Jesus Christus ist der Dreh- und Angelpunkt jeder Rede von Heiligkeit. Deshalb hat diese Rede ihren Ort in der Gemeinschaft der Heiligen und zwar als einer sichtbaren Gemeinschaft. Christus als Gemeinde existierend - das ist der einzige Zusammenhang, in dem von der Heiligung und der Heiligkeit des Menschen überhaupt die Rede sein kann. Alles andere, sagt Dietrich Bonhoeffer, ist menschlicher Selbstbetrug. Es ist der trügerische Hochmut und die falsche geistliche Sucht des alten Menschen, der heilig sein will außerhalb der sichtbaren Gemeinde der Brüder. Und noch zugespitzter: Heiligung außerhalb der sichtbaren Gemeinde ist Selbstheiligsprechung.

Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen - es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gemeinde und dem besonderen Glaubenszeugnis eines Lebensweges. Einen solchen Weg weist auch das Augsburgische Bekenntnis von 1530, das für den reformatorischen Aufbruch wie für das heutige Selbstverständnis reformatorischer Kirchen von grundlegender Bedeutung ist. In Artikel 21 der Confessio Augustana heißt es: Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf. ... Aus der Heiligen Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. "Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus" (1. Timotheus 2,5). ... Nach der Heiligen Schrift ist das auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft. ...

Die Folgerung für einen evangelischen Begriff des Heiligen ist eindeutig. Dass wir in einer Gemeinschaft der Glaubenden leben, schließt den Dank für Vorbilder im Glauben ein. Genau in diesem Sinn lässt sich auch nach evangelischer Auffassung innerhalb der Gemeinschaft der Heiligen von besonders hervorgehobenen Heiligen sprechen. Das Santo subito ist auch dem evangelischen Glauben dort zugänglich, wo jemand für andere in beispielhafter Weise den Glauben vorgelebt und so gezeigt hat, dass ihm Gnade widerfahren ist. Von einem evangelischen Heiligen können wir dort reden, wo Lebenszeugnis und Glaubenskraft in einer Weise sich verbunden haben, dass dies zum Glauben und zum christlichen Handeln von Christen auch an anderem Ort, zu anderer Zeit und unter anderen Bedingungen ermutigt. Heilige sind "Zeugen seiner unverfügbaren Gnade" - so hat es der Vorstand des Verbandes Evangelischer Kirchengemeinden in der Stadt Neuss anlässlich des Quirinusjahres 2000 erklärt. Nicht um eine Imitation des Vorbilds geht es dann, sondern um ein Lernen im Glauben und ein Mündigwerden im Handeln. Sich vom Vorbild anderer inspirieren zu lassen, ist, so betrachtet, nicht mit einer Einbuße an Mündigkeit verbunden. Solche Vorbilder im Glauben und Handeln sind Zeugen einer besseren Welt.

Dietrich Bonhoeffer ist einer von ihnen. An Dietrich Bonhoeffer beeindruckt viele der innere Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Theologie: die Verbindung zwischen einem Lebenslauf, der ihn zu einem Glaubenszeugen in einem besonderen Sinne des Wortes gemacht hat, und einem theologischen Werk, das auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch sehr viel an Anregungspotenzial und Orientierungskraft enthält. Auch in Zukunft werden sich sein Glaubenszeugnis und seine geistliche Inspiration als Quelle der Ermutigung und als Herausforderung zu eigenem Denken und Handeln erweisen.

Dietrich Bonhoeffer erinnert sich in seinem berühmt gewordenen Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944, vom Tag nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler an ein Gespräch mit einem französischen Pfarrer: Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden ( - und ich halte für möglich, dass er es geworden ist - ); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. ... Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zu Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder Gesunden - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia und so wird man ein Mensch, ein Christ.

Das Leiden und Beten Jesu in Gethsemane ist eine Schlüsselstelle im Verständnis des Heiligen. Der Sohn des heiligen Gottes nimmt teil am Zweifel und an der Furcht der Welt. Er steht nicht außerhalb ihrer Zwänge, sondern geht bis ins Äußerste in sie hinein. Die Heiligen sind in evangelischem Verständnis Christen, für die Gott zu danken ist, weil sie das Antlitz Jesu spiegeln. Sie gehen auf dem Weg ihres Glaubens als konsequente Christen.

Auf der Fahrt von Buchenwald nach Flossenbürg, die seine letzte Fahrt werden sollte, teilte Bonhoeffer den Raum in dem engen, unförmigen, durch einen Holzvergaser angetriebenen Kastenwagen, in dem die ihrer Freiheit Beraubten zusammengepfercht waren, unter anderem mit dem Engländer Payne Best. Best war ein starker Raucher; er berichtet, in dieser Situation habe Bonhoeffer, der selbst, wie man weiß, auch ein passionierter Raucher war, in einer seiner Taschen einen kleinen Tabakvorrat entdeckt. Bonhoeffer habe darauf bestanden, diesen knappen Vorrat mit allen anderen zu teilen. Best schließt: Er war eben ein guter Mensch und hatte etwas von einem Heiligen. Wenn man das schon zu Bonhoeffers Lebzeiten merken konnte, haben wir keinen Grund, es zu verschweigen. Allen Grund haben wir stattdessen, für das Leben und Wirken auch dieses evangelischen Heiligen Gott zu danken - und dies in guter ökumenischer Gemeinschaft am Ort des heiligen Quirin.

Amen.