Predigt im Festgottesdienst zum einhundertundfünfzigjährigen Jubiläum der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Beirut

Wolfgang Huber

Jakobus 2, 1-13

In das Jubiläum zum 150. Geburtstag der evangelischen Gemeinde in Beirut ist ein nachdenklicher Ton eingezogen. Das kann gar nicht anders sein. Die Pläne, die noch im Frühjahr dieses Jahres aktuell waren, wurden durch die Wirklichkeit überholt. Die Prioritäten haben sich verschoben: Über die uneingeschränkte Freude hat sich der Staub des Krieges gelegt. Aber genau dies ist der Grund, der mich dazu veranlasst hat, zu Ihrem Jubiläum zu kommen. Ich wollte den Dank verstärken und der Dankbarkeit eine Stimme geben, die zu diesem Tag gehört. Denn gerade auch im Blick auf das Erleben dieses Sommers kann man nur sagen: Gut, dass es diese Gemeinde gibt. Die Evangelische Kirche in Deutschland fühlte sich Ihnen während der letzten Monate ganz besonders verbunden. Und ebenso verbunden sind wir Ihnen an diesem Tag und bei diesem Fest.

Dankbarkeit kann und muss laut werden – im Blick auf die Geschichte dieser Gemeinde genauso wie im Blick auf ihren gegenwärtigen Dienst. Loben wir Gott für seine Treue! Die frohe Hoffnung, die die Gemeinde trägt und die aus dem Glauben wächst, öffnet sich wie ein Fenster, das den Kriegsdunst hinauslässt und wieder für klare Luft sorgt.

Klare Orientierung geben uns die biblischen Lesungen für diesen Gottesdienst. Die Epistel hat uns daran erinnert, worauf es um Gottes Willen ankommt: „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ (Römer 14,19). Paulus hat zunächst das Zusammenleben in der Gemeinde vor Augen. Es soll durch wechselseitige „Erbauung“, eine wechselseitige Hilfe zum Leben aus Glauben bestimmt sein. Aber daraus soll Frieden wachsen – in der Gemeinde zuerst, doch zugleich als Zeugnis des Friedens im Unfrieden der Welt.

Im Evangelium für den heutigen Tag stellt ein Schriftgelehrter die Frage nach den Voraussetzungen für eine solche Erbauung und für diesen Frieden: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ will er von Jesus wissen (Markus 12,28). Woran soll er sein Handeln ausrichten? Diese Frage stellt sich uns ebenso. Was ist für uns die Richtschnur in Situationen, in denen das Oberste zuunterst gekehrt wird und die Fundamente wanken? „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.“ Und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die Liebe sucht die Nähe Gottes; denn er ist die Liebe. Und sie sucht das Beste für den Nächsten. Sie lässt sich auf ihn ein. Sie fragt nicht zuerst nach Herkunft oder Qualifikation, nach Geschlecht oder Kontostand. Diese Liebe ist zugleich die Kraft zum Neubeginn, die auch dabei hilft, sich selbst anzunehmen und auch an den eigenen Grenzen nicht zu verzagen.

Und nun auch noch der Jakobusbrief. Er sagt ganz praktisch, wo es lang geht. Das ist seine Art. Der Jakobusbrief ist die neutestamentliche Schrift mit den aufgekrempelten Hemdsärmeln. „So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber“ (2,17). Das ist der Ton, den er anschlägt. Es gibt Situationen, da zeigt sich der Glaube im Tun. Das kann auch der sehen, der das Räumen und Reparieren, das Wiederherstellen und Neubeginnen in den Straßen und bei den Menschen dieser Stadt beobachtet. Aufgekrempelte Ärmel und ein getroster Glaube – dazu ermutigt Jakobus.

Die enge Verbindung von Glauben und Tun bedeutet ja nicht, dass die Glaubenstat wichtiger wäre als der Glaubensgrund. Damit wird auch nicht jede Tat gerechtfertigt, nur weil sie sich auf den Glauben beruft. Im Gegenteil: Wann immer der Glaube zur Begründung von Gewalt genutzt wird, hat er sich von seinem Ursprung entfernt. Die Tat des Glaubens dient der „Erbauung untereinander“. Sie steht im Horizont des Friedens und in Liebe.

Das ist der Geist, dem der Predigttext für diesen Jubiläumstag entstammt. Wir hören auf Sätze aus dem 2. Kapitel des Jakobusbriefs.

Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!, ist's recht, dass ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?

Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn liebhaben? Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig. Denn der gesagt hat (2. Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes.

Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.

Dieser lange, einprägsame Abschnitt hört sich heute an wie ein Kommentar zu anderthalb Jahrhunderten Deutsche Evangelische Gemeinde in Beirut. „Ohne Ansehen der Person“ hat es schon angefangen. Denn der erste Pfarrer, Kraemer mit Namen, konnte sich gar nicht vorstellen, wie er zu dieser Aufgabe gekommen wäre, wenn man auf seine Person geachtet hätte. „Ich fühlte mich recht unwürdig und ungeschickt zu dem Amte ... ; es hätte hier ein erfahrener Mann, mit allen Verhältnissen bekannt, zuerst auftreten müssen.“ Aber jemanden, der alle Ansprüche gleichzeitig erfüllen kann, wird man ohnehin nicht so leicht finden. Und die Ansprüche waren gewaltig. Sie bestanden, wie es die damalige Vokationsurkunde sagte, darin, „die bestehenden Elemente der Gemeinde nach Kräften zu vermehren“, sich an den Aufbau „eines geordneten Schulwesens für die Evangelischen in Beirut“ zu machen und in die Zusammenarbeit mit den „deutsch-evangelischen Anstalten und Unternehmungen“ einzutreten.

Am 28. November 1856 wurde die Gemeindesatzung feierlich bestätigt. Damit bekam das Leben der deutschsprachigen Evangelischen in Beirut eine ordentliche Struktur. Sie war „frei von allem Ansehen“ der Nationalität. Zu ihr zählen von Anfang an bis heute Menschen ganz unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, die auf Dauer oder auf Zeit, als Residenten oder als Reisende im Libanon sind. Man kann das auch modern ausdrücken: Hier verbindet sich von Anfang an Wohnort- und Urlauberseelsorge an.

„Frei von allem Ansehen der Person“ ist auch der Geist, der uns in den Eintragungen des Kirchenbuchs entgegentritt. Als Berliner war ich natürlich besonders von dem Wunsch angerührt, den der Berliner Domküster Pape mit einer Spende an die Gemeinde verbunden hat: „Der unterzeichnete Geber dieser kleinen Gabe wünscht Jerusalem Glück, dass namentlich alle, die in dies Taufbuch eingezeichnet werden, auch in dem Buche des Lebens, welches der Herr der Kirche führt, dereinst mögen verzeichnet stehen. Dass alle Getrauten sich auch mögen wahrhaftig mit dem Herrn auf ewig verloben und vertrauen. Und dass alle Gestorbenen, welche in dieses Totenbuch eingezeichnet werden, auferstehen mögen zu einem ewigen seligen Leben.“

„Frei von allem Ansehen der Person“ widerfuhren der Gemeinde auch ihre schrecklichsten Stunden. Ich denke an die Gräuel, die im libanesischen Bürgerkrieg 1860 insbesondere an den Christen im Land verübt wurden und somit die Gemeinde stark betroffen haben. Ich denke an die eineinhalb Jahrzehnte des Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1989. Und ich denke an Bomben und Flucht in diesem Sommer. Bomben fallen ohne Ansehen der Person. Sie treffen wahllos die einen wie die anderen. Vor ihnen hat weder das Ansehen noch das Leben einer Person Bestand.

„Frei von allem Ansehen der Person“ geschah aber auch die Hilfe, die von dieser Gemeinde ausgegangen ist. Mitglieder der Gemeinde haben ausgeharrt, haben Beistand geleistet, getröstet, Kranke versorgt, geholfen, Wohnraum zu finden. Praktische Hilfe gibt Verlass in Zeiten der Unsicherheit. Der Glaube bewährt sich in der Tat.

„Haltet den Glauben frei von allem Ansehen der Person.“ Die Mahnung des Jakobus zielt darauf, nicht auf Reichtum oder Armut eines Menschen zu achten. Heute wird uns neu bewusst, dass nur der Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen den Weg zum Frieden öffnet, unabhängig von Nationalität und Religion, von Beruf und Kontostand. Hier im Nahen Osten kann man spüren, wie notwendig es ist, für einen Frieden zu arbeiten, der auf wechselseitigem Respekt beruht und dadurch das Misstrauen überwindet. Wer Frieden will, muss mehr im Blick haben als nur den eigenen Vorteil. Er darf den wechselseitigen Verurteilungen nicht das letzte Wort lassen. Er braucht Barmherzigkeit für die Leidenden, ja sogar Liebe zum Feind. All das ist schwer, aber es ist nicht vergeblich. Und wir können es wagen, weil wir von einer Verheißung getragen sind, deren Wahrheit wir schon heute erleben können. Jakobus beschreibt auch diese Verheißung hemdsärmelig klar: „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.“

Dass die deutsche evangelische Gemeinde das immer wieder erfährt und dass sie es hineinträgt in dieses schöne und immer wieder gebeutelte Land, das ist mein herzlicher Wunsch: „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.“

Amen.