Predigt im Eröffnungsgottesdienst der Diakonischen Konferenz

Wolfgang Huber

Französische Friedrichstadtkirche zu Berlin
Markus 12, 28-34

Dieser Abend führt uns ins Zentrum unserer christlichen Existenz und unseres gemeinsamen Auftrags. An diesem Abend halten wir uns nicht mit langen Vorreden auf, sondern mit der Sache selbst. Wir beginnen mit der Antwort auf die Frage, was das denn sei, Christsein am Beginn des 21. Jahrhunderts, Christsein in einem reichen Land, das doch so viel Arme hat wie schon lange nicht mehr, Menschen in körperlicher, in seelischer und geistlicher Not. Angesichts dieser Bettelarmen, wie Jesus sie ungeschönt nannte, angesichts dieser Bettelarmen im dreifachen Sinn körperlicher, seelischer und geistlicher Not fragen wir nach unserem Auftrag.

Die Antwort tritt uns entgegen in Gestalt des Evangeliums für diese Woche. Eine Antwort tritt uns entgegen ohne Schnörkel und Ausflüchte. Eine Antwort hören wir von atemberaubender Klarheit. Sie ist enthalten in der Antwort Jesu auf die Frage nach dem höchsten Gebot, die wir gerade gehört haben.

Ein dreifaches Gebot tritt uns entgegen: Die Liebe zu Gott, in dem uns die Fülle des Lebens begegnet, verbindet sich mit der Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst. Es ist ein Jammer, dass eine weit verbreitete Tradition sich an die sprachliche Gestalt des Gebots hielt; weil es uns in zwei Sätzen begegnet, sprach - und spricht man noch immer - vom "Doppelgebot" der Liebe. Dabei ist kein Zweifel: Jesus fügt die beiden Gebote, die ihm aus der Bibel seines Glaubensvolkes bekannt sind, so zusammen, dass eine dreifache Richtung der Liebe unverkennbar ist: die Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst. Jesus, der den Menschen das Reich Gottes nahe brachte, wusste, dass sie selbst in diesem Reich auch vorkommen, in ihm angenommen sein wollten: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Ihm brauchte nicht erst ein moderner Psychologe zu erklären, welche Bedeutung es für das menschliche Leben hat, ob ein Mensch sich selbst annehmen kann, weil er sich angenommen weiß. Jesus wäre nie auf die Idee gekommen, die Selbstverleugnung zur Voraussetzung der Nächstenliebe zu erklären. Dafür kannte er die Menschen zu gut. Aber er ließ sich zugleich von einer nicht umwerfenden, sondern aufrichtenden Parteinahme für den Nächsten bestimmen. Er wurde nicht müde, seinen Nächsten Gutes zu tun - ganz besonders denen, die hungrig und lahm, in Blindheit und Taubheit gefangen waren. Wie sollten sie denn spüren, dass Gott es gut mit ihnen meinte, wenn er sie nicht menschliche Nähe und wirksame Hilfe spüren ließ?

Denn darum ging es ihm: um eine Gewissheit, die kein Mensch sich selber geben kann, um die Gewissheit, dass Gott es mit seiner Schöpfung und dem Menschen in ihrer Mitte gut meint. Damit hört er nicht auf, auch dann nicht, wenn Menschen krank oder alt sind, wenn Einschränkungen ihnen zu schaffen machen oder die Gesellschaft sie an den Rand drängt. Gottes Diakonie, sein Dienst an den Menschen macht an solchen Situationen keinen Halt, im Gegenteil. Er meint gerade die, die nach menschlichen Maßstäben allzu leicht ins Dunkel geraten. Ihnen gilt seine Liebe, seine Diakonie. Deshalb die dreifache Antwort unserer menschlichen Diakonie: die Liebe zu Gott, zum Nächsten, zu sich selbst.

Gestern saß ich mitten im Gewühl des Flughafens von Istanbul auf einer harten Holzbank und meditierte diesen biblischen Abschnitt, der uns ins Zentrum führt wie wenige andere. Vor meinen Augen lagen die glänzenden Auslagen, die das internationale Publikum verlocken sollten: Buy Duty Free. Aber vor meinem inneren Auge zogen unablässig die Bilder vorbei, die ich 48 Stunden vorher gesehen hatte. In Beirut, wo das einhundertundfünfzigjährige Jubiläum der deutschsprachigen - wie auch der französischsprachigen - evangelischen Gemeinde zu feiern war, hatte unser erster Weg den zerstörten Wohnhäusern in den Südvierteln der Stadt gegolten. Selten hat mich die Verbindung von unheimlicher Präzision und sinnloser Zerstörung stärker erschüttert wie in diesem Augenblick. Mit äußerster Genauigkeit waren die hohen Wohnhäuser ausgewählt und mit chirurgischer Präzision auf einen Schlag bis auf die Grundmauern zerstört worden - diejenigen Häuser, von denen das israelische Militär meinte, man werde mit ihnen die Hisbollah besonders schmerzhaft ins Mark treffen. Doch mit jedem dieser Schläge rückte der aktuelle Anlass in weitere Ferne. Dass dies ein denkbarer Weg sei, um zwei ohne jedes Recht gefangen gesetzten israelischen Soldaten wieder zur Freiheit zu verhelfen, ist eine Vorstellung, auf die niemand kommt, der dieses Zerstörungswerk betrachtet, das hunderttausend Menschen das Obdach geraubt hat. Die breite Ausfallstraße aber, die vom Zentrum Beiruts zu den zerstörten Stadtvierteln führt, ist mehrsprachig von Schildern der Hisbollah gesäumt: Divine Victory, Victoire Divine, Göttlicher Sieg - so wird das Geschehen in Anspielung an den Namen des Hisbollah-Führers Nasrallah kommentiert. Auch davon ist freilich nichts zu sehen; dass Gottes Sieg mit den Waffen der einen oder der anderen Seite erfochten werden könne, treibt dem Betrachter vielmehr geistliche Zornesröte ins Gesicht. Wie erfindungsreich Menschen darin sind, den Namen Gottes zu lästern, auch das kann man bei einer solchen Reise lernen.

Auch das lernt man aus den Erfahrungen, die wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts machen. So verfehlt es ist, die Nächstenliebe um die Selbstliebe zu verkürzen, so verfehlt ist es auch, sie um die Gottesliebe zu verkürzen. Aber seien wir ehrlich: Wenn wir nach der biblischen Begründung diakonischen Handelns fragen, unterläuft uns diese Verkürzung mindestens so oft wie die erste. Dass Diakonie praktizierte Nächstenliebe sei, ist wieder und wieder zu hören. Das andere aber ist dem gleich, sagt Jesus aber und verweist damit zurück auf das Gebot, von dem er gesagt hat, dass es das höchste Gebot sei: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Sehr oft hören wir als Begründung unseres diakonischen Einsatzes den Satz aus Matthäus 25: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern - und Schwestern - das habt ihr mir getan. Aber dass dieser Satz im Gleichnis vom Weltgericht begegnet, dass er uns also vor die Augen des endzeitlichen Richters stellt, lassen wir lieber auf sich beruhen. Als ich im Flughafen in Istanbul saß und darüber nachdachte, was die Erfahrungen im kriegsgebeutelten Libanon für mich bedeuteten, war mir eines deutlich. Es ist wieder Zeit, von Gott zu reden - von dem Gott, der die Liebe ist und uns zur Liebe ruft - , auch, ja gerade in der Diakonie.  

Das ist in meinen Augen die Perspektive, die Kirche und Diakonie miteinander verbindet. Am einen wie am andern Ort geht es um die Fülle des Evangeliums. Am einen wie am andern Ort geht es darum, dass Gottes Gnade erfahrbar wird. Am einen wie am andern Ort geht es darum, dass wir das Liebesgebot in seiner Fülle zum Leuchten bringen: in der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst. Diese innere Einheit müssen wir uns angelegen sein lassen, wenn wir den künftigen Weg bedenken. An Möglichkeiten zur institutionellen Eigenständigkeit wird es dann nicht fehlen müssen, wenn wir uns des inneren Einklangs gewiss sind. Der Diakonischen Konferenz kommt dabei - wie dem Diakonischen Rat - eine Schlüsselbedeutung zu. Das ist nicht nur bei dieser Zusammenkunft der Fall, bei der Die Diakonische Konferenz vor der wichtigen Aufgabe steht, eine neue Präsidentin oder einen neuen Präsidenten zu wählen. Es gilt vielmehr immer. Eine Schlüsselbedeutung hat sie auch nicht nur deshalb, weil sie als Bürge dafür wirken muss, dass diakonisches Handeln in der ganzen Spannweite zwischen Unternehmensdiakonie und Gemeindediakonie durch ein gemeinsames Verständnis des diakonischen Auftrags zusammengehalten werden muss. Die Diakonische Konferenz trägt auch gemeinsam mit dem Diakonischen Rat die Verantwortung dafür, dass Strukturen innerhalb des Diakonischen Werkes entwickelt werden, die das diakonische Handeln der evangelischen Kirchen an den bedürftigen Mitmenschen zukunftsfähig machen. Dafür muss die Diakonie ein eigenständiger Akteur sein und bleiben, der die Schwerpunkte seines helfenden Handelns selbst zu bestimmen vermag. Große Aufgaben stellen sich bei der Entwicklung von Trägerstrukturen für übermorgen; manche Konkurrenzen oder soll ich sagen: Eifersüchteleien wird sich die Diakonie gar nicht mehr leisten können; wenn sie zukunftsfähig sein will. Und es geht in all dem ganz gewiss darum, sich der diakonischen Mitarbeiterschaft zuzuwenden und sie dabei zu unterstützen, dass sie den diakonischen Auftrag mitsamt den geistlichen Grundlagen, die ihn prägen, mitvollziehen kann. 

Die Evangelische Kirche in Deutschland ist in diesen Wochen auf dem Weg nach Wittenberg. Bei dem Zukunftskongress, der dort Ende Januar des nächsten Jahres stattfindet, wird auch ausgiebig von der Diakonie die Rede sein. Das ist gut - auch deshalb, weil Wittenberg nicht nur der Ort Martin Luthers und Philipp Melanchthons, sondern auch der Ort von Johann Hinrich Wichern ist. Sein Wittenberger Aufruf zur tätigen Liebe im Jahr 1948 liest sich auch heute wie ein Kommentar zu dem dreifachen Gebot der Liebe, das unser Leitstern sein kann - in der Kirche wie in der Diakonie.

Zu der Tradition von Wittenberg passte das gut. Denn in dieser Stadt hatte Martin Luther schon mehr als dreihundert Jahre zuvor  den Glauben als ein "kräftig, mächtig, tätig Ding" bezeichnet und bündig erklärt: "Auf den Glauben folgen die Werke, wie der Schatten dem Leibe folgt."

Luther wie Wichern führen uns mit solchen klaren Aussagen auf Jesus Christus  und mitten in die biblischen Erzählungen hinein. Mitten hinein vor allem in den Disput darüber, was Gott von uns erwartet und wie er unserem Leben die Richtung weist. Jesu Antwort ist nicht kompliziert. Sie ist einfach und verständlich. Sie zeigt uns in ihrer biblischen Sprache, dass wir nicht alles neu erfinden müssen. Auch auf die uns bedrängenden Fragen finden sich hilfreiche Antworten in der biblischen Tradition. Hin und wieder hat sich eine Patina aus zu vielen Wörtern über diese Schätze gelegt. Dann sind wir auf Personen angewiesen, wie Martin Luther oder Johann Hinrich Wichern, wie Amalie Sieveking oder Friedrich von Bodelschwingh - und nun mögen Sie alle Ihre besonderen evangelischen Heiligen im Stillen nennen - , die unsere festgefahrenen Wahrnehmungen wieder in Bewegung bringen. Gott selbst zündet Leuchtfeuer an, die uns in der Dunkelheit den Weg weisen. Auch daran dürfen wir uns erinnern lassen, wenn wir hin und wieder dabei sind, alles selbst regeln wollen. Ganz unerwartet überwältigt uns dann die Gewissheit, dass es der unsichtbare Gott selbst ist, der uns im sichtbaren Nächsten begegnet.

Wenn unsere Glaubenszuversicht in solchen Momenten gestärkt wird, dann mag die eine oder der andere in Dankbarkeit gegen die große Treue Gottes innerlich ein "Endlich!" ausrufen und diese Erfahrung - dieses "Endlich!" - mit anderen teilen.

"Endlich" heißt auf lateinisch Tandem. Heute denke ich bei diesem "Endlich", bei diesem Tandem an die innere Zusammengehörigkeit von Kirche und Diakonie. Und ich bin gewiss: Wenn Kirche und Diakonie für unsere Mitmenschen als Tandem erkennbar sind, dann wird Gott selbst für sie ein Leuchtfeuer entzünden und ihres Fußes Leuchte sein.

Amen.