Predigt im Gottesdienst am Kapitelstag im Dom zu Brandenburg

Wolfgang Huber

Jakobus 5,13-16

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Lange Jahre hatte das Ehepaar in Hamburg gelebt. Die Kinder waren längst flügge und hatten ihre eigenen Familien gegründet. Als der Mann pensioniert wurde, entschieden sie sich, wieder zurück nach Potsdam zu gehen, dorthin, wo sie sich kennen gelernt hatten. Die Frau war entschieden, sich ehrenamtlich zu engagieren. Sie liebte ihren Mann. Gerade deshalb war ihr klar: sie konnten nicht nur zu Hause beieinander sitzen und Däumchen drehen. Das wäre nicht lange gut gegangen. Irgendwann stieß sie auf einen Artikel über einen ambulanten Hospizdienst. Sie wurde neugierig, nahm Kontakt auf und meldete sich für einen Kurs zur Sterbebgleitung an. Ihr Mann war wenig begeistert. Er fürchtete, dass seine empfindsame Frau nun Woche für Woche tränenüberströmt vom Hospiz nach Hause käme.

Es kam jedoch ganz anders. Sechzehn Frauen und ein Mann nahmen an dem Kurs teil. Jeweils donnerstags trafen sie sich. Die Älteste war über siebzig. Die jüngste 25 Jahre alt. Und jeweils donnerstags kam seine Frau beschwingt und ein wenig verwandelt nach Hause.

Die Donnerstage veränderten ihr gemeinsames Leben. Sie gaben den verdrängten Gefühlen einen Freiraum. Eigene Erfahrungen mit dem plötzlich hereinbrechenden Tod, Erinnerungen an schmerzliche Abschiede und die dabei empfundene Ohnmacht wurden zur Sprache gebracht. Hin und wieder war es möglich, vom eigenen Scheitern ohne Angst zu reden. Sie lernten viel über ihren bisherigen Lebensweg und staunten, mit welcher Stärke andere Menschen ihren Weg gehen können. Der Donnerstag wurde für sie und ihn zu einem besonderen Tag. An den Kurs schlossen sich zu Hause dichte und tiefe Gespräche an. Als der Kurs vorbei war, entschied sie sich, ehrenamtliche Hospizhelferin zu werden.

Menschen mit einer solchen Erfahrung sind mir in den letzten Monaten vielfach begegnet. Unter dem Leitwort „Sterben hat seine Zeit“ habe ich mit anderen zusammen Initiativen der Hospizarbeit, Palliativstationen, Krankenhausseelsorgerinnen, aber auch Stationen der Perinatalmedizin im Bereich unserer Kirche besucht. Immer wieder machte ich dieselbe Erfahrung. Beides ist nötig: Das Leben von Menschen zu bewahren, so lange es geht; und Menschen im Sterben zu begleiten, wenn es an der Zeit ist.

All diese Erfahrungen wurden in mir wachgerufen, als ich auf den Text aus dem Jakobusbrief stieß, der unser Nachdenken am heutigen Tag leitet. Einen kräftigen Ton schlägt der Jakobusbrief an. Das ist seine Art. Jakobus ist der hemdsärmelige unter den Schriftstellern des Neuen Testaments. Er redet ohne Umschweife. Er will sagen, wo es lang geht: „Der Glaube ohne Werke ist tot.“ Das ist die Sprache, die er liebt. Um dieser Sprache willen hat Martin Luther den Jakobusbrief eine „hölzerne Epistel“ genannt. Dabei hätte Luther eigentlich Grund gehabt, mit unserem Jakobus barmherziger umzugehen. Denn an Deutlichkeit ließ auch Luther es nicht fehlen. Sogar bei dem Thema, das dem Jakobusbrief so besonders am Herzen lag, war das so, dem Verhältnis von Glauben und Werken. „Die Werke gehören zum Glauben wie der Schatten zum Leib.“ Diese Aussage steht nicht im Jakobusbrief, sie stammt von Luther. Man könnte Luther selbst in Anspruch nehmen, um den Jakobusbrief von dem Vorwurf zu befreien, er verwechsle den Grund des Glaubens und seine Wirkungen. Er dachte nur: Der Grund des Glaubens wird schal, wenn er ohne Wirkungen bleibt. Wer wollte da widersprechen?

Über den Glauben und seine Wirkungen: darüber redet Jakobus auch im Blick auf menschliche Krankheit und menschliches Glück. Beides sollen wir vor Gott bringen. Nicht nur wenn Krankheit uns anficht, sollen wir zu Gott beten. Sondern wenn es uns gut geht, sollen wir das Lob Gottes nicht vergessen. „Not lehrt beten“ – der Satz ist so armselig, wie er richtig ist. Wer Gott nicht aus der Fülle des Lebens lobt, dessen Sprache wird auch ungeübt sein, wenn’s ans Klagen geht. Wer den hohen Chor scheut, wird auch in der Krypta keine Worte finden – und umgekehrt. Wir loben Gott in der Gewissheit, dass er es gut mit uns meint; und wir legen ihm mit unserer Klage alles vor die Füße,  worauf wir uns keinen Reim machen können. Und davon gibt es genug.

Gott sei Dank gibt es Menschen, die auch dort, wo viel Grund zur Klage besteht, das Lob Gottes nicht vergessen. Das ist eine Haltung, die sich seit alters mit der Hospizbewegung verbindet. Pilgerherbergen wurden so bezeichnet, die Menschen auf dem Weg zu ihrem Pilgerziel Herberge, Rast, Pflege und Stärkung anboten. Aber Hospize sollten auch auf dem letzten Weg Geborgenheit geben, auf dem Pilgerweg zum Tod. Dass Hospiz und Hospital auf diese Weise zusammengehören, sollte uns neu bewusst werden. Pflege und Stärkung auf der letzten Wegstrecke des Lebens ist der Sinn der Hospizbewegung von heute – in ihren ambulanten wie in ihren stationären Formen.

Es sind heutzutage fast durchweg Frauen, die wie Hebammen am Ende des Lebens arbeiten. Sie kommen nach Haus, sie sind offen für Gespräche, die auf den Tod vorbereiten. Sie sagen nicht: „Das wird schon wieder!“, oder: „Und nächstes Jahr geht es ihnen wieder gut.“ Sie weichen nicht aus. Sie helfen bei der Vorbereitung auf den großen Wandel am Ende des Lebens. Diesmal muss keine Nabelschnur durchtrennt werden. Doch es geht um das Halten und Loslassen. Es geht um die Wünsche und Ängste des Sterbenden eine Handbreit vor dem Ende am Anfang.

Die Worte aus dem Jakobusbrief sind eine Anleitung dazu, wie wir Menschen nahe sein können, die ihrerseits dem Tode nahe sind: Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Wer mit einer Hospizhelferin spricht, lernt von ihr sehr schnell, dass der christliche Glaube in seiner evangelischen Gestalt eine rettende Kraft in sich birgt. Er inspiriert die Menschen zu einer Hinwendung zu Gott, führt sie zusammen und mündet in der Not der Situation in einer Gebetsgemeinschaft. Dabei gilt, dass sich der christliche Glauben als wetterfest erweist.

Ich wage zu behaupten, dass Gott uns auch dann nicht verlässt, wenn das Bundesverfassungsgericht einem Bundesland – Sie wissen schon, welches ich meine – keine Schuldenübernahme von über 60 Milliarden Euro verspricht. Und der Ruf Gottes gilt auch für diejenigen, die mit dem Begriff der „Unterschicht“ an ihre derzeitige schwierige Lage scheinbar  so angekettet werden sollen, als lasse sich daran nichts ändern.

In der treuen Hinwendung zu Gott sehe ich den Zugang zu einem Neubeginn. Das lässt sich von Jakobus und auch von den Hospizhelferinnen lernen.

Gebt keine und keinen verloren. So heißt eine Aufforderung, die uns Pfarrerinnen und Pfarrer in unserem Dienst begleitet. Bei unserer Ordination haben wir das versprochen. Aber wir übernehmen diese Verpflichtung, weil wir glauben, dass sie jedem Christen gilt. Uns allen ist aufgegeben, keinen zu einem Menschen zweiter Klasse zu stempeln, ob dafür das Wort „Unterschicht“ verwendet wird oder ein anderes. Es reicht nicht zu verabreden, dass wir nicht über eine „Unterschicht“ reden. Viel wichtiger ist, dass keine entsteht. Die dafür notwendige Anstrengung dauert länger als die mediale Erregungswelle über ein Wort. Sie bedarf vielmehr der Herzensbildung und Anteilnahme mitfühlender Menschen, die spüren, dass Gott sie ruft, damit sie an die Seite derjenigen treten, die sie brauchen.

Noch einmal komme ich auf die Hospizhelferin zurück, die ihr Leben so tatkräftig in die Hand genommen hatte und sich angeeignet hatte, was man braucht, um einen Menschen in der schwierigsten Zeit seines Lebens zu begleiten. Nun hatte sie ihre Ausbildung abgeschlossen. Nun war sie zum ersten Mal gefordert. Einen Mann begleitete sie zum Sterben, der erst Ende vierzig war, glücklich verheiratet, seine beiden Kinder waren schon junge Erwachsene. Er hatte Krebs und wusste, dass er bald sterben würde. Eine Spanne, so breit wie eine Hand, würde ihm wohl noch bleiben. Sein Körper wurde vom Krebs verzehrt. Es war zum Verzweifeln. Fassungslos stand er vor dem Spiegel. Er sah an sich hinunter wie an einem von Motten zerfressenen Kleid.

Ihm sollte sie beistehen. Am Anfang gingen sie noch gemeinsam im Park spazieren. Es war ein wunderschöner Mai, und der Flieder blühte. Die Natur spiegelte das innere Aufbäumen und die Sehnsucht nach Leben – auch für den, dem nur noch eine Handbreit blieb. Er erzählte ihr sein ganzes Leben. Er sprach über seine Wut, seinen Zorn und die Verzweiflung. Sie redeten von Hiob. Er hatte immer davon geträumt, später einmal gemeinsam mit seinen Enkelkindern die Kirschen im Garten zu pflücken. Nun war unwahrscheinlich, ob er selbst noch einmal erleben würde, wie die Kirschen reif werden. Doch er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben. Das Beten fiel ihm schwer. Er nahm Zuflucht zur Sprache der Psalmen. Wie gar nichts sind doch alle Menschen. Höre mein Gebet, HERR, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen; denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter. Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre und nicht mehr bin.

Später fanden die Besuche nur noch bei ihm zu Hause statt. Sie sprachen über seinen Tod und über Dinge, die er seiner Familie nicht anvertrauen konnte. Die Hospizhelferin betete regelmäßig mit ihm. Auf seine Bitte hin holte sie dann eines Tages den Pfarrer. In der Familie feierten sie gemeinsam Abendmahl und ließen sich segnen. In der Nacht von Sonntag auf Montag ließ er schließlich los. Seine Frau schloss ihm die Augenlider.

Nach seiner Beerdigung ging die Frau mit der Hospizhelferin durch den Park spazieren. Die Julisonne hatte das Gras verbrannt. Sie sprachen über den Verstorbenen und darüber, wie das Leben ohne ihn sein würde. Gemeinsam erinnerten sie sich an seine Krankensalbung. Unwillkürlich hatten sie sich dabei an die Weisung gehalten, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten. Was sie damals taten, war wie ein Wagnis und ein Versprechen – wie die Zusammenfügung des Zersplitterten. Sie hatten zu dem Öl gegriffen, das Heilung verspricht. Sie hatten sich vor der Geste der Salbung nicht gescheut; sie wurde für sie zum Unterpfand der Hoffnung. Was auch war, sein Leben endete nicht in zersplitterter Zusammenhanglosigkeit. Er selbst hatte mit Kühnheit ein Ganzes geglaubt und auf Gott vertraut, der vergibt. Im Schatten einer alten Buche nahmen sie Abschied. Sie taten es dankbar. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Amen.