Predigt am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Hiob 14,1- 6 (13-15)

„Lieber Gott, ich heiße Oskar, bin zehn Jahre alt, und ich habe die Katze, den Hund und das Haus angezündet (ich glaube, ich habe sogar den Goldfisch gegrillt), und das ist der erste Brief, den ich Dir schicke, weil ich bis jetzt wegen der Schule nicht dazu gekommen bin. Ich sag’s Dir lieber gleich: Ich hasse das Schreiben. Muss mich wirklich dazu zwingen. Weil Schreiben wie Lametta ist, Firlefanz, Schmus, Kokolores und so weiter. Schreiben ist nichts anderes als Schwindeln mit Schnörkeln drum herum. Erwachsenenkram. Der Beweis? Na, nimm den Anfang von meinem Brief: ‚Ich heiße Oskar, ich bin zehn Jahre alt, und ich habe die Katze, den Hund und das Haus angezündet....’ Na ja, genauso gut hätte ich ja schreiben können: ‚Man nennt mich Eierkopf, ich sehe aus wie sieben, ich bin im Krankenhaus wegen meinem Krebs, und ich habe noch nie mit Dir geredet, weil ich nämlich nicht daran glaube, dass es Dich gibt. Bloß wenn ich so was schreibe, reiße ich mich nur selber rein, dann wirst Du Dich wohl kaum für mich interessieren. Wo ich doch Dein Interesse nötig habe.“

Mit diesen Zeilen beginnt die eindrückliche Geschichte von Oskar, der erst zehn ist, aber weiß, dass er bald sterben wird. „Eierkopf“ nennen ihn die anderen Kinder im Krankenhaus. Doch das ist nur ein Spitzname und tut nicht weiter weh. Schlimmer ist, dass seine Eltern Angst haben, mit ihm über die Wahrheit zu reden. Zum Glück gibt es im Krankenhaus die Dame in Rosa. Sie bringt ihn auf die Idee, jeden Tag einen Brief zu schreiben – an den lieben Gott – und ihm alles zu sagen, was ihn bewegt. So schreibt Oskar dreizehn Briefe an Gott – bis zu jenem Augenblick, in dem er zu müde ist, um noch ein wenig älter zu werden.

Unerschrocken und ohne Sentimentalität begegnet Eric-Emmanuel Schmitt in seinem Buch Oskar und die Dame in Rosa der Krankheit und dem Tod eines Kindes. Chemotherapie und Knochenmarkspende können Oskar nicht retten.

Unerschrocken und alles andere als sentimental nimmt uns der Predigttext aus dem 14. Kapitel des Buches Hiob in Anspruch. Hören wir auf die Worte Hiobs:

Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.

Nicht all unsere Zeitgenossen werden wissen, wer Hiob war. Gleichwohl wissen die meisten, dass uns selbst jederzeit eine Hiobsbotschaft treffen kann und was das bedeutet. Hiobs Name ist zu einer Chiffre geworden. Er steht für schwerste Schicksalsschläge, für unverschuldete Not und extremes Leiden.

Mit dem heutigen Sonntag treten wir in die Ökumenische Friedensdekade ein, die in diesem Jahr unter dem Leitwort „...und raus bist du!“ steht. Sie wissen schon: „Eene meene Mu – und raus bist du.“ Heute, am Beginn der Friedensdekade, soll uns die Aufnahme des Kinderreims daran erinnern, dass Menschen in unserer Gesellschaft tagtäglich Hiobsbotschaften erhalten und ins Abseits gedrängt werden. In Reaktion auf solche nicht hinnehmbaren Zustände hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Thema „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ gerade in Würzburg ein klares Zeichen gegen den rücksichtslosen Rausschmiss gesetzt. Denn wir merken heute: So wie Hiob kämpfen Menschen um Anerkennung und um eine segensreiche Beziehung zu Gott wie zu ihrem eigenen Leben.  Wir beharren auf der Begründung der Menschenwürde aus der Gottesbeziehung, weil wir überzeugt sind, gerade so der Unantastbarkeit wie der Unteilbarkeit der Menschenwürde zu dienen. Und wir wollen, dass daraus praktische Folgerungen gezogen werden. Deshalb hat die Synode alle evangelischen Gemeinden in Deutschland dazu aufgefordert, ein eigenes praktisches Vorhaben der Armutsbekämpfung zu entwickeln – so wie das die Mariengemeinde schon vor vielen Jahren begonnen hat.

Im Hiobbuch werden manche Lösungen gegen die Rausschmiss-Erfahrungen präsentiert. Die Freunde Hiobs überbieten sich im Nachdenken über Auswege. Auch heute besteht die Gefahr, dass schnelle Lösungen präsentiert werden. Unbeteiligte können Glasperlenspiele durchführen, bei denen sie gar nicht merken, dass sie nur zu einer weiteren Stimme im Chor der Freunde werden, die glauben, sie müssten Gott gegen Hiobs Klage in Schutz nehmen. Hören wir deshalb noch einmal auf Hiob:

Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schösslinge bleiben nicht aus. Ob seine Wurzel in der Erde alt wird und sein Stumpf im Boden erstirbt, so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und treibt Zweige wie eine junge Pflanze. Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin; kommt ein Mensch um - wo ist er? Wie Wasser ausläuft aus dem See, und wie ein Strom versiegt und vertrocknet so ist ein Mensch, wenn er sich niederlegt, er wird nicht wieder aufstehen; er wird nicht aufwachen, solange der Himmel bleibt, noch von seinem Schlaf erweckt werden.

Hiob war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse. Seine Frau und er hatten sieben Söhne und drei Töchter. Er besaß siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder, fünfhundert Eselinnen und sehr viel Gesinde. Hiob brachte Gott Brandopfer dar, denn er dachte bei sich: Meine Söhne könnten gesündigt oder Gott in ihrem Herzen abgesagt haben. Solche Verhaltensweisen waren für Hiob kennzeichnend. Ausgerechnet diesen frommen Mann trifft ein Unglück nach dem anderen, so dass einem schon vom Zuhören die Knie wegsacken wollen. Er verliert Hab und Gut. Seine Kinder sterben während eines Festmahls, weil die Decke des Hauses einstürzt, in dem sie sich aufhalten. Er selbst leidet unter einem furchtbaren Ausschlag, der ihn bis hin zur Unkenntlichkeit verändert. Erklärungsversuche, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet dem frommen Hiob solches Leid geschah, führen in die Irre.

In einem Dialog zwischen Gott und dem Satan fängt Hiobs Unglück an; das gehört ohne Zweifel zu den rätselhaftesten Zügen dieser Geschichte. Gott preist gegenüber dem Teufel Hiob, weil er fromm, rechtschaffen und gottesfürchtig ist, einer, der das Böse meidet. Der Teufel wendet ein, Hiob tue das nur, weil er sich davon selbst Gutes erhofft. Wenn er erst Unglück erfahren wird, so wird er sich auch von gott abwenden und ihm absagen. Darauf erfolgt die unbegreifliche Gottesantwort: „Der Herr sprach zum Satan: Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; nur an ihn selbst lege deine Hand nicht.“

Gesagt, getan. Dem Hiob wird alles genommen; allein sein Leben bleibt verschont. Hiob selbst verflucht den Tag seiner Geburt, denn sein Leben ist zu einem Alptraum geworden. Er träumt davon, sich bei den Toten vor Gott verstecken zu können.

Hiobs Freunde wissen genau, warum alles so kommen musste. Sie erklären es wortreich und scheitern doch mit dem Versuch, das Unerklärliche wegzurationalisieren. Hiobs Freunde stellen das Leid als Folge menschlicher Schuld dar. Der Sünder solle so zur Umkehr gemahnt werden. Und umgekehrt gelte, dass der Glückliche gut und der Unglückliche schlecht gehandelt haben müsse. Die weiteren Erklärungsversuche enden ebenso kläglich wie dieser. Worin bestünde auch die Hilfe, wenn wir inmitten von schwer auszuhaltender Qual gesagt bekämen, dass Leid zur Natur des Menschen gehöre, dass Gott uns auf diese Weise zurechtweisen wolle oder aber, dass Leid die Prüfung des Frommen sei.

Gott selbst ergreift im Hiobbuch das Wort. Er geht bezeichnender Weise auf die vermeintliche Theologie dieser drei Freunde nicht ein. Der Verdacht der Freunde, Hiobs Sündhaftigkeit sei der Grund für sein Leiden, wird auf diese Weise von Gott selbst auf eindrucksvolle Weise zurückgewiesen.

Hiob durchlebt einen Prozess zunehmender Entfremdung von seinen Freunden und gleichzeitig eine stärker werdende Hinwendung zu Gott. Die Veränderung wird daran deutlich, dass er Gott erst als Richter (9,33-35), später als Zeugen (16,19-21) und schließlich sogar als Erlöser (19,25) bezeichnen kann:

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. [19, 25-27]

Aus Eric-Emmanuel Schmitts Buch Oskar und die Dame in Rosa kann man lernen, dass es nicht darauf ankommt, das Leid zu verstehen. Es geht vielmehr darum, im Leid zu bestehen. Die Dame in Rosa hilft Oskar dabei, den letzten Weg zu gehen. Ihr gelingt es, dass der Junge versucht, sich jeden noch verbleibenden Tag wie zehn Jahres seines Lebens vorzustellen. Auf wundersame Weise durchlebt Oskar ein ganzes Menschenleben: erste Liebe, Eifersucht, Midlifecrisis und das Alter. Glücklich, erschöpft und manchmal auch enttäuscht erzählt er Gott davon in seinen Briefen.

Solche Erfahrungen sind die wirklichen Hiobsboschaften: Botschaften von der Bewahrung durch Gott selbst im schwersten Erleben. Vor wenigen Tagen schrieb mir einer, der eine denkbar schwere Krebsoperation erlebt hatte:

„Aus angekündigten zwei bis drei Tagen auf der Intensivstation sind schließlich sechs geworden. Allerdings sehr persönlich begleitet. Meine Frau konnte jederzeit auch dort bei mir sein. Wenigstens rudimentär habe ich das wahrgenommen und genauso die unermüdliche Ansprache der Schwestern und Pfleger, das schnelle Streicheln über die Hand durch die jungen Ärzte trotz ihrer Überstundenberge. Am Sonntag habe ich zum ersten Mal nach vier Tagen wieder das Morgenlicht wahrgenommen. Und konnte dann der Gottesdienst-Übertragung schon über die gesamte Zeit folgen. Ich habe schon eine kurze Weile mitten in dem wunderbaren Sternenzelt gestanden und die große Kraft verspürt, die mich in es hinein und darüber hinaus zog. Es waren die Güte Gottes, das Gebet so vieler Freunde und geliebter Menschen, und es war das Abkommen mit meiner Frau, die mich dann doch festgehalten haben.“

Es gibt Hiobgeschichten auch heute. Es gibt das Erleben von Menschen, die von Gott gehalten werden, sei es auf dieser Erde, sei es im Sternenzelt. Die Geschichte von Oskar und der Dame in Rosa endet nach dreizehn Briefen von Oskar mit einem Brief der Dame in Rosa:

„Lieber Gott, ... vielen Dank, dass Du mich hast Oskar kennenlernen lassen. Dank seiner war ich fröhlich, ich habe Märchen erfunden, ich wurde sogar zu einer Expertin im Catchen. Dank seiner habe ich gelacht und Freude empfunden. Oskar hat mir geholfen, an Dich zu glauben. Ich bin so voll von Liebe, dass es mich verbrennt, hat er mir doch so viel davon gegeben, dass sie mich die paar Jahre, die mir noch bleiben, erfüllen wird. Bis bald, Oma Rosa.“

Amen.