Nacht der Lichter im Berliner Dom am 19. November 2006

Wolfgang Huber

Lukas 6,27-31

Jesus sagte: Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch mißhandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, laß auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.
(Lukas 6,27-31)

Was ihr von anderen erwartet, das tut ihnen auch, sagt Jesus. Zu unserem christlichen Glauben gehört es, der Erwartung an den anderen durch das eigene Tun zuvorzukommen. Diese zuvorkommende Liebe macht die Anmut unseres Glaubens aus. Wir können den ersten Schritt auf den andern zugehen; denn Gott hat den ersten Schritt schon längst getan – in Jesus Christus, von dem wir bekennen: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.

Es gibt einige Orte, an denen mir diese Schönheit unseres Glaubens besonders eindringlich entgegengetreten sind. Südafrika gehört dazu, wo ich Erzbischof Desmond Tutu, Wolfram Kistner und andere während der Zeit des Kampfes gegen die Apartheid beobachten konnte. Auch das Mitleiden mit den Unterdrückten ließ keinen Hass in ihnen aufsteigen. Sie kamen den Unterdrückern mit einem Verhalten entgegen, das schon vorwegnahm, was man auch von ihnen erwartete: dass jedem Menschen, jedem Kind Gottes die Würde auch zuerkannt wird, die Gott ihm geschenkt hat.

Taizé ist auch ein solcher Ort. In besonders leuchtender und einleuchtender Weise ist mir diese zuvorkommende Liebe nach dem erschütternden Angriff auf das Leben von Roger Schutz entgegengetreten. Dass die Liebe, zu der Gott in Christus uns befähigt, auch die Attentäterin einschloss, war das bestimmende geistliche Erlebnis, das ich aus der Begegnung mit Taizé und mit dem neuen Prior Bruder Alois Löser damals in den Tagen der Trauer mitgenommen habe. Dieses Erlebnis wird mir unvergesslich bleiben. Es wird mein Verhältnis zur Gemeinschaft von Taizé immer mitbestimmen.

Dietrich Bonhoeffer gehört für mich zu den Menschen, an denen mir der Geist der Bergpredigt immer wieder entgegengetreten ist – er, der für die Gewaltlosigkeit eintrat, den Blick von unten einschärfte und uns dazu ermutigt, von unserer Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch zu machen. In diesem Jahr haben wir immer wieder an den 100. Geburtstag dieses christlichen Märtyrers gedacht.  Was ihr von anderen erwartet, das tut ihnen ebenso.

Wie wäre es, wenn auch das ökumenische Verhältnis unserer Kirchen zueinander von diesem Geist der zuvorkommenden Liebe bestimmt wäre? Dann würde weder der Geist der Vereinnahmung noch der Geist der Abgrenzung bestimmend sein. Dann würden der Geist der Liebe und  der Geist der Freiheit auch in der Gemeinschaft von Christen unterschiedlicher Konfession die Schritte lenken. Wir würden die Konfessionskirchen, in denen wir zu Hause sind, gern als Heimat annehmen, aber auch die Heimat der anderen achten. Wir würden das Profil der eigenen Kirche schätzen, uns auf unserem Glaubensweg aber auch von den Glaubenserfahrungen anderer ermutigen lassen. Wir würden uns fragen, was wir selbst zu einem besseren ökumenischen Miteinander beitragen können – und nicht nur, was wir von anderen fordern. Was wäre, so will ich fragen, der nächste Schritt auf dem Weg zu einer eucharistischen Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen, wenn wir unser ökumenisches Miteinander unter dieses Gebot Jesu stellen würden: Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.

Es gibt immer wieder auch ökumenische Kränkungen, gewiss. Aber warum sollte man die Weisungen Jesu nicht beherzt auf sie anwenden: Wenn man einen schmerzlichen Schlag auf die eine Backe bekommt, wird man beherzt auch von den eigenen Schmerzen reden und erklären, warum man sie auf sich nimmt. Wenn jemand einen auf die eigene Blöße hinweist, wird man diese Blöße nicht wegreden, sondern vor Gott und den Menschen einräumen. Denn unsere Kirchen sind alle nur irdische Gefäße; wir sehen immer nur wie durch einen Spiegel. Wenn uns der Weg der Ökumene auch lang wird, werden wir doch Gott unbeirrt um die Kraft bitten, ihn weiter zu gehen – vielleicht sogar weiter und ausdauernder, als manche erwarten.

Der Ruf Jesu gilt uns in all unserer Verschiedenheit gemeinsam. Zuvorkommende Liebe macht die Verschiedenheit zwischen uns nicht nur erträglich, sondern wendet sie zum Reichtum. Wir brauchen einander, als einzelne, aber auch als Kirchen. Allein ist jeder von uns nur ein Bruchstück. Ganz können wir nur zusammen mit anderen werden. Das gilt auch für die Kirchen. Unsere Kirchen brauchen einander, um in ihrer Bruchstückhaftigkeit als Kirchen ganz zu werden.

Wir alle, die das ökumenische Zeugnis von Taizé ermutigt und inspiriert hat, werden das Licht der zuvorkommenden Liebe weiter tragen, auch in unserem ökumenischen Handeln. Die Lieder aus Taizé werden nicht verstummen. Eine Kerze des Gebets wird immer brennen. Die Sehnsucht nach der Einheit der Kirchen lebt ungebrochen fort. Auch das Leben von Frère Roger, dem evangelischen Pastor und ökumenischen Prior, lässt sich von niemand vereinnahmen. Es gehört Gott allein. Gott wollen auch wir auch unsere zuvorkommende Liebe widmen.. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.

Amen.