Predigt zum 75jährigen Jubiläum der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem am Dritten Advent (Jesaja 40,1-8)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.


Ein Bekenntnis aus Dahlem läuft um die Welt. Es ist das Bekenntnis eines Dahlemer Pfarrers, der aus dieser Gemeinde heraus am 1. Juli 1937 inhaftiert wurde. Aber kein Stolz spricht aus diesem Bekenntnis. Martin Niemöllers Bekenntnis spricht davon, wie lange er geschwiegen hat: als die Kommunisten geholt wurden, die Juden, die Gewerkschafter, die Katholiken. Für sie alle sprach er nicht, denn er war kein Kommunist, kein Jude, kein Gewerkschafter, kein Katholik. „Als sie kamen, um mich zu holen, war keiner mehr da, der für mich hätte sprechen können.“

Auf einer grauen Granittafel sind diese Worte des Dahlemer Pfarrers zu lesen, allerdings nicht in Dahlem, sondern in Boston / USA. Nicht auf Deutsch kann man sie dort lesen, sondern auf Englisch sind sie in die Granittafel des Holocaust-Mahnmals in jener amerikanischen Stadt gemeißelt. Meine Frau hat die Sätze Martin Niemöllers dort vor einer Woche gesehen, jene Bilanz der Erfahrung mit sich selbst und anderen in der Zeit, als die Jesus-Christus-Kirche noch jung an Jahren war.

Es gibt viele Gründe dafür, der Evangelischen Kirchengemeinde in Dahlem zum Jubiläum dieses jungen, aber geschichtsträchtigen Kirchengebäudes zu gratulieren. Ich spreche diese Glückwünsche für unsere ganze Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz aus. Aber ich spreche sie auch als ehemaliger Dahlemer aus, der in gewisser Weise doch immer Dahlemit geblieben ist. Zu den vielen Gratulationsgründen gehört auch der Umstand, dass es sich um die Berliner Kirche mit der besten Akustik handelt; auch kaum ein Konzertsaal kann mit ihr mithalten, wie nicht nur die Berliner Philharmoniker bezeugen.

Aber dass die Akustik gut ist, gewährleistet noch nicht, dass die Predigt gehört wird. Manche Predigt mag hier auch ungehört verhallt sein, trotz aller guten Akustik. Aber manche Predigt wurde auch gehört und wirkt bis heute. Von kaum einer gilt das mehr als von Helmut Gollwitzers Buß- und Bettagspredigt  1938, die mit der Frage begann: „Wer soll denn heute noch predigen? ... Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage? Können wir heute noch etwas anderes als nur schweigen?“

Es war der gewaltsame Angriff auf die Synagogen in Deutschland am 9. November 1938, diese neue Stufe eines grausigen Judenpogroms, aus dem diese Frage entstand – kaum irgendwo nachdrücklicher gestellt als in dieser Kirche, als in dieser Gemeinde, die sich  – in der Annenkirche – die tägliche Fürbitte für die Inhaftierten des NS-Regimes zur Pflicht machte.

An all dem liegt es, dass jedes Jubiläum dieser Gemeinde den Blick immer wieder auf die Jahre 1933 bis 1945 lenkt, auf die Zeit, in der die Dahlemer Synode von 1934 die rechtlichen und praktischen Konsequenzen einforderte aus den theologischen Einsichten, die ein halbes Jahr vorher in Barmen formuliert worden waren. Das ist der Grund dafür, dass man ein „Dahlemit“ bleiben kann, auch wenn man kein Dahlemer mehr ist. An diesen geschichtlichen Zusammenhängen liegt es, dass sich mit Dahlem der Ruf des Prophetischen verbindet.
Um Klarheit ist der Bau bemüht, in dem wir uns heute versammeln. Die Klarheit des Hörens verbindet sich mit der Klarheit des Sehens. Denn übersehen kann niemand, worum es hier geht: um das Bekenntnis zu Gott, das uns so unübersehbar vor Augen gestellt wird, in der sperrigen Sprache des Apostolischen Glaubensbekenntnisses hier, wenn man so sagen darf, verewigt im Jahr 1931, im Todesjahr des Theologen Adolf von Harnack, der eine Generation zuvor erwogen hatte, den Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses aus dem evangelischen Gottesdienst zu entfernen. Welch ein dramatischer Ort – dieses Dahlem, in dem ganz zu Recht auch ein Haus steht, das an Adolf von Harnack erinnert.

Prophetische Töne wurden immer wieder laut an diesem Ort. Aber daran liegt es nicht, dass für die Predigt am heutigen Jubiläumstag ein prophetischer Text vorgegeben ist. Es liegt an dem Tag, an dem wir dieses Jubiläum feiern, am Dritten Advent, dem Sonntag im Advent, der prophetisch ist wie kein anderer Adventssonntag. Den Täufer Johannes rückt er in den Blick, wie das Evangelium für diesen Sonntag es uns vorhin gezeigt hat. Eine Sprache tritt uns entgegen, die zu hören mehr erfordert als nur eine gute Akustik. Unser inneres Hören, unsere eigene Hörbereitschaft ist gefragt.

Der zweite Jesaja tritt uns an diesem Jubiläumstag entgegen. Seine prophetische Stimme sprengt jedes Klischee. Hören wir auf den Predigttext aus Jesaja 40:

Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.

Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet.

Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.

Diese prophetischen Worte rufen beunruhigende Bilder vor unser geistiges Auge. Wem dies für eine Geburtstagsfeier zu harsch erscheint, der mag daran denken, was hier in Dahlem wie in unserer Stadt und in unserem Land im Ganzen in dem letzten dreiviertel Jahrhundert zu erleben war. Beunruhigende Bilder für unruhige Zeiten.

Die prophetischen Worte des zweiten Jesaja erinnern uns an das Leben des gebeutelten Volkes Israel. Jerusalem ist in jener Zeit eine zerstörte und verbrannte Stadt, ausgeraubt und geplündert. Die Überlebenden sind versklavt und in die Gefangenschaft geführt. Nur die Ärmsten des Landes wurden von der Deportation verschont, weil die siegreichen Babylonier mit ihnen keine Zeit verschwenden wollten. Es geht um eine staatliche Katastrophe und um unzählige menschliche Tragödien. Es geht um ein Leben ohne festen Halt. Alles, was bisher getragen hat, trägt nicht mehr. Es ist alles zerschlagen: das eigene Leben und die Wahrheit der Propheten. Die Gewissheit des Glaubens scheint vernichtet. Nicht Gottes Nähe, seine Abwesenheit wird ertragen, erfahren, erlitten. Die Grundfrage Israels wird herausgeschrieen: Ist Gott unter uns oder ist er es nicht? Das ist die Frage Israels. Wer soll die Antwort geben?

Diejenigen, die nach Babylon verschleppt wurden, sitzen nicht romantisch am Flussufer und musizieren. Sie müssen vielmehr das gigantische Bewässerungssystem Babylons warten und ausbauen. Das ist grausame Sträflingsarbeit. In der Hitze sterben die Gefangenen bei den katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen wie die Fliegen. Die Situation gleicht einer kollektiven Ohnmacht ohne auch nur die geringste Aussicht auf eine Wendung zum Guten. Dieses Gefühl des Verlassenseins und die Unsicherheit, wo Gott in diesem Geschehen geblieben sei, machen ratlos und zehren an den letzten Hoffnungsreserven.

Juden im Exil – wer kann dabei die Erinnerung an die Geschichte dieser Gemeinde, der Gemeinde in Dahlem, unterdrücken? Noch ehe die Dachrinnen der im Jahr 1931 eingeweihten Jesus-Christus-Kirche die Zeit hatten, Grünspan auszubilden, gerieten Mitbürger jüdischen Glauben im Umfeld der Gemeinde in das Visier der nationalsozialistischen Politik. Was dann folgte, stellte alles bisher in der Geschichte des Volkes Israel erlittene Leid in den Schatten. Die um das Evangelium versammelte Gemeinde geriet ebenfalls unter erheblichen Druck. Sie versuchte sich darin, ihren Weg in der Orientierung an den Leuchtfeuern der Bekenntnis-Synoden von Barmen und Dahlem tapfer zu gehen.

Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.

Einzelne Gemeindeglieder bemühten sich darum, ihre diffamierten Mitmenschen zu unterstützen, sie zu trösten und wenn nötig auch zu verstecken. Sie taten dies aufrecht und tapfer. In den Straßen von Dahlem waren auch damals Noblesse und Bürgerlichkeit auf Schritt und Tritt wahrnehmbar. Die Dahlemer Bekenntnisgemeinde scharte sich um Gottes Wort. Unumstritten war das nicht; es wurde auch nicht von so vielen getragen, wie der verklärte Rückblick vielleicht glauben machen konnte. Diejenigen, die für ihre gefährdeten Mitmenschen Verantwortung übernahmen, sahen sich in der Situation des einsamen Rufers, der einsamen Mahnerin. In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! ...denn des HERRN Mund hat's geredet.
In der verzweifelten Ausweglosigkeit so mancher schlaflosen Nacht werden Frauen und Männer der Dahlemer Gemeinde mit großer Verzweiflung Gott um sein Wort  gebeten haben. Und die Antwort? Es spricht eine Stimme: Predige!....Bereitet dem Herrn den Weg… Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.

Das Kriegsende, die Bombenangriffe, all das durchlittene Leid und die Angst wurden von vielen als Gericht Gottes erfahren. Die Erde dröhnte während der Bombenangriffe, als wollte jemand die Berge und Hügel einebnen und die Täler aufschütten. Das, was sich damals seine Bahn brach, wurde herbeigesehnt und doch gefürchtet. Die Befreier erwiesen sich teilweise als durch den Krieg verrohte Soldaten, deren Leben ebenfalls aus der Bahn geworfen war.

Nachdem die Waffen schwiegen, wurde der Dahlemer Kirchengemeinde ein Neubeginn geschenkt. Die Wunden vernarbten und Frieden kehrte ein. Allerdings unter außerordentlichen Umständen. West-Berlin musste sich als eine Insel bewähren, die, von der DDR umgeben, standhielt. Das hatte auch in Dahlem Folgen. Der Kalte Krieg spaltete die Menschen, auch innerhalb West-Berlins. Die Nähe zur Freien Universität zog die Gemeinde unmittelbarer in den Bann von Auseinandersetzung und Neuorientierung als andere Gemeinden.

Entsprechend eigenständig, bisweilen auch eigenwillig suchte die Gemeinde ihren Weg. An den Umbrüchen und Aufbrüchen unserer Zeit hatte und hat sie kräftigen Anteil. Auch daran, wie unser Land und unsere Stadt nach den Jahrzehnten der geteilten Existenz neu beginnen konnten. Die Einheit in Freiheit, oft umso lauter beschworen, je weniger man damit rechnete, wurde plötzlich zur Wirklichkeit, nun bereits vor mehr als sechzehn Jahren. Ab und an muss man sich auch dafür Zeit nehmen, zu staunen und zu danken.

Der 75. Geburtstag der Jesus-Christus-Kirche ruft es uns in Erinnerung: Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.

Nur 75 Jahre blicken wir heute zurück. Für ein Kirchenjubiläum ist das eine kurze Zeit. Aber dafür, das prophetische Wort auf diese Zeit anzuwenden, ist es lang genug. Beides muss uns beschäftigen: ob wir in der Kritik der Irrwege hellsichtig genug – und ob wir im Dank für Gottes Führung dankbar genug sind. Bei beidem neigen wir zur Abmilderung: Über die Irrwege sehen wir allzu oft hinweg; und das dankbare Staunen verbieten wir uns auch. Es sei alles nicht so schlimm gewesen: zu dieser Einschätzung rät uns keineswegs nur der iranische Staatspräsident Ahmadinedschad. Und statt über das Wunder der deutschen Einheit, das zu gestalten unsere Aufgabe ist, stöhnen wir lieber über die Mühen der Ebene. Die Bereitschaft zur Buße unterbleibt; stattdessen reden wir über Werte, die wir doch zugleich mit Füßen treten. Und ebenso unterbleibt der Dank – dafür zum Beispiel, dass Gott uns Freiheit schenkt, über all unser Bitten und Verstehen hinaus. Wie viel Klarheit würden wir gewinnen, wenn wir in beidem mutiger würden: in der Bereitschaft, Fehler einzugestehen, und in der Fähigkeit, Gott dafür zu danken, dass er es gut mit uns meint.

Gebe Gott, dass diese Kirche dazu beiträgt. Sie hat nicht nur eine gute Akustik. Sie weist auch auf den hin, dem wir beides verdanken: den Dank für Gottes Güte und die Bereitschaft zum Neubeginn. Jesus Christus ist diese Kirche geweiht, in dem Gott sich zu uns neigt und der uns deshalb zuruft: Kehrt um und glaubt an das Evangelium. 

Heute in einer Woche wird diese Kirche weihnachtlich geschmückt sein. Erwartungsvoll werden die Menschen in diese Kirche strömen. In der ganzen Stadt werden die Menschen Weihnachten feiern. Heute zieht uns noch die Sehnsucht in ihren Bann. Die drei Adventskerzen drücken diese Sehnsucht aus. Wir möchten uns anrühren und verwandeln lassen vom Kommen Gottes. Unser Leben, unsere Beziehungen, die Rütli-Schule, das Arndt-Gymnasium – beide in der gleichen Stadt – all dies ist auf Gottes Güte angewiesen: Gott kommt! Er spricht kein Gericht, fällt kein Urteil, sondern er gibt Trost. Seine Herrschaft führt zum Heil. Das ist das Evangelium Gottes. In Jesu Namen. Amen.