Predigt zu Neujahr 2007, Berliner Dom

Wolfgang Huber

Es gilt das gesprochene Wort.

I.
An diesem ersten Tag des Jahres 2007 grüße ich Sie mit Worten von Paul Gerhardt, dem großen Dichter unserer Kirche, dessen 400. Geburtstag zu den prägenden Ereignissen des vor uns liegenden Jahres gehört. In seinem Neujahrgesang hören wir:
  
Wir gehn dahin und wandern / von einem Jahr zum andern, / wir leben und gedeihen / vom alten bis zum neuen // durch so viel Angst und Plagen, / durch Zittern und durch Zagen, / durch Krieg und große Schrecken, / die alle Welt bedecken. … // Ach Hüter unsres Lebens,/ führwahr, es ist vergebens / mit unserm Tun und Machen, / wo nicht dein Augen wachen (EG 58, 2.3.6).

Im gesamten deutschen Protestantismus, aber besonders in unserer Landeskirche werden wir Paul Gerhardt in diesem Jahr feiern und würdigen. Manche seiner Lieder sind inzwischen vergessen. Aber es gibt zahlreiche Lieder von ihm, die ins Gedächtnis der Christenheit eingegangen sind. In der Advents- und Weihnachtszeit konnten wir wieder einige von ihnen singen: Wie soll ich dich empfangen? / Und wie begegn ich dir? / O aller Welt Verlangen! / O meiner Seelen Zier! So sangen wir im Advent. Oder dann an der Weihnachtskrippe: Ich steh an deiner Krippen hier, / o Jesu, du mein Leben; / ich stehe, bring und schenke dir, / was du mir hast gegeben.

Solchen Versen merkt man ihr Alter nicht an. Sie sind aktuell wie eh und je, sie kommen uns nah und berühren uns immer wieder. So ist das auch mit dem Neujahrgesang. Paul Gerhardt empfiehlt, das eigene Tun und Machen Gottes Obhut anzubefehlen. Wir sollen das Planen und Überlegen für ein neues Jahr dem Blick Gottes auszusetzen.

II.
Damit führt uns dieser Neujahrgesang direkt hinein in den Predigtabschnitt für diesen Neujahrstag 2007. Er stammt aus der alttestamentlichen Weisheit und findet sich im Buch der Sprüche:
Der Mensch setzt sich's wohl vor im Herzen; aber vom Herrn kommt, was die Zunge reden wird. Einen jeglichen dünken seine Wege rein; aber der Herr prüft die Geister. Befiehl dem Herrn deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. Der Herr macht alles zu seinem Zweck, auch den Gottlosen für den bösen Tag. Ein stolzes Herz ist dem Herrn ein Gräuel und wird gewiss nicht ungestraft bleiben. Durch Güte und Treue wird Missetat gesühnt, und durch die Furcht des Herrn meidet man das Böse. Wenn eines Menschen Wege dem Herrn wohl gefallen, so lässt er auch seine Feinde mit ihm Frieden machen. Besser wenig mit Gerechtigkeit als viel Einkommen mit Unrecht. Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.

Das ist eine klare Sprache. Der Mensch denkt und Gott lenkt. In dieser Form ist die Weisheit der Sprüche Salomos in den deutschen Volksmund übergegangen. Unserer unübersichtlichen Welt tritt eine heilsame Klarheit entgegen. Besser wenig mit Gerechtigkeit als viel Einkommen mit Unrecht. Solche Klarheit ist manchen unbequem, aber sie hilft. Sie gibt Orientierung. Ihre innere Kraft reißt mit. Ob wir es mit solcher Klarheit im neuen Jahr versuchen wollen – das ist die Frage, vor der wir stehen.

Woran kann man sich halten? So fragen heute viele. An einem Tag der Mehrwertsteuererhöhung, an dem nur sicher ist, dass die Dinge teurer werden, fragen sie, was wirklich trägt. An einem Tag des beginnenden Elterngelds, an dem die Finanzierung der ganzen Babyausstattung daran hängt, ob das Kind vor oder nach Mitternacht geboren wurde, fragen sie, ob man den Sinn des Lebens an die Weisheit von Gesetzen hängen soll. An einem Neujahrstag, an dem man auch in Berliner Gärten noch Rosen pflücken kann, als ob es den Winter gar nicht mehr gäbe, fragen sie, ob die Art, in der wir Menschen unseren Energiebedarf decken, nicht doch einen Klimawandel auslöst, den wir am Ende nicht mehr in der Hand haben werden. Der Mensch denkt und Gott lenkt – eine Weisheit, die wir oft leichthin belacht haben, holt uns ein.

III.
Viele Menschen beginnen das neue Jahr mit einem Blick nach vorn. Was lässt sich voraussehen? Was lässt sich planen? Wie gehe ich mit Unvorhersehbarem um? Wie vor dem Aufbruch zu einer Wanderung wird der Weg, der vor einem liegt, ins Auge gefasst. Die Landkarte mit geschmiedeten Plänen und festen Erwartungen wird probehalber über den Jahreslauf gelegt; ein möglicher Weg von Arbeitsphasen zum erhofften Urlaub, vom Alltag zu Geburtstagsfesten, von Zeiten des Drucks zu Zeiten entspannter Freude wird vorgezeichnet. Wir wollen doch gern vorbereitet sein. Schritte ins Ungewisse mögen wir nicht; im Dunkeln tappt niemand gern. Wenn wir es nur im Voraus bedacht haben, wird unser Weg schon in Ordnung sein. Die alttestamentliche Weisheit sagt das so: Einen jeglichen dünken seine Wege rein.

Doch die Weisheit des Glaubens geht darüber hinaus. Selbst geschmiedete Pläne allein reichen nicht aus. Denn der HERR prüft die Geister. Der Weg unserer Pläne führt an Gottes Angesicht vorüber. Halt findet unser Leben nur an der Wirklichkeit Gottes. Verlässlich ist nur, was außerhalb unserer eigenen Reichweite steht. Geborgen bin ich allein, wenn ich Gottes Kraft auf meinem Lebensweg spüre. Erst dann höre ich auf, die Zukunft den Phantasiebildern meiner eigenen Vorstellungskraft anzuvertrauen. Erst dann beginne ich, die Zukunft aus Gottes Hand anzunehmen. 

Planungen werden dadurch nicht untersagt. Es ist nicht verboten, sich für das Neue Jahr etwas vorzunehmen, dabei Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden und danach zu fragen, ob unsere Pläne verantwortbar sind. Dass die Zukunft unverfügbar bleibt, macht solche Pläne nicht überflüssig. Doch wir sind gut beraten, das Ergebnis in Gottes Hand zu legen: Befiehl dem HERRN deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. Eindrucksvoll übersetzt Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph: Wälze ihm zu deine Taten und aufgerichtet werden deine Pläne.

Der Mensch denkt und Gott lenkt. Leichtfertig hat jemand diesen Spruch auch schon als Aufkleber an seinem Auto angebracht. Da kann man nur antworten: So bitte nicht! Gott ist nicht der unsichtbare Lenker unserer Autos, während wir unseren Gedanken nachhängen, statt uns auf den Verkehr zu konzentrieren. Dafür sollten wir besser eine Pause vom Autofahren oder sonstigen Herumrasen machen. Dafür dienen Zeiten der Ruhe und Besinnung. Deshalb sind Sonn- und Feiertage für uns alle so wichtig. Indem wir diese Tage achten, bekennen wir uns dazu, dass wir über das eigene Leben nicht selbst verfügen. Wir bemühen uns um verantwortliches Handeln, Gott aber lenkt. Wir haben das im zurückliegenden Jahr erlebt, wir verlassen uns darauf für das neue.

IV.
Auch in unserer Kirche folgen wir diesem Grundsatz. Im Vertrauen auf Gottes Lenken wollen wir im neuen Jahr künftige Wege unserer evangelischen Kirche durchdenken. Ein Zukunftskongress wird noch in diesem Monat Januar in Wittenberg, in der Stadt der Reformation, dieser Aufgabe gewidmet sein. Kirche im Aufbruch – dieser Gedanke wird uns das Jahr hindurch begleiten. Am Reformationstag 2007 und in der auf ihn folgenden Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im November werden unsere Gedanken dazu genauere Gestalt annehmen. Wir maßen uns nicht an, über die Zukunft herrschen oder verfügen zu können. Aber das Unsere wollen wir dazu tun, dass es mit Gottes Hilfe eine gute Zukunft wird. Wir hoffen darauf, wie Paul Gerhardt gedichtet hat, dass Gottes Augen wachen – über unserm Tun und Machen.

V.
Gott ist dem Leben zugewandt. Er vertraut uns das Leben an, damit wir das Leben fördern. Verantwortung für andere gehört zu den beglückenden Erfahrungen der menschlichen Existenz. Die Familie ist dafür der wichtigste Ort. Allzu lang haben wir das klein geredet; allmählich kommt ein Umdenken in Gang. Dieses Umdenken muss weitergehen. Deshalb gehört zu meinen Wünschen für das Jahr 2007, dass es ein Jahr der Familie wird.

Keine andere Frage wird die Zukunft unserer Gesellschaft so bestimmen wie diese. Wenn ich zur Familie ermutige, dann meine ich damit alle Formen, in denen die Generationen miteinander verbunden sind und Menschen füreinander Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehört die Fürsorge für älter werdende Angehörige ebenso wie eine neue Wertschätzung für das Zusammenleben mit Kindern. Ich trete für einen Mentalitätswandel ein, durch den nicht mehr die Reise in andere Kontinente als Statussymbol gilt, sondern der Kindersitz im Auto. Kinder sind Bürgen der Hoffnung. Aber sie durchbrechen zugleich unser allzu fest gefügtes Planen. Sie öffnen uns für Gott, der unser Leben lenkt.

Deshalb soll man von jungen Menschen auch nicht Unmögliches verlangen. Ihre beruflichen Planungen sollen gelingen; die Gründung einer Familie soll dabei nicht stören. Ermutigung und Entlastung sind hier gleichermaßen nötig. Menschlicher Beistand ist genauso wichtig wie die Betreuung der Kinder. Wir alle brauchen einen bergenden Raum, der offen ist für das unplanbare Wunder des Lebens.

Dieser Raum wandert im Lauf eines Lebens mit uns mit. Unsere große Hoffnung ist, dass die Beziehung zu den Menschen lebendig bleibt, die uns die Nächsten sind. Eine Berliner Zeitung hat in diesen Tagen von Eltern berichtet, deren Kinder verschwunden sind, möglicherweise entführt, ohne dass sie über die Jahre hin auch nur ein Lebenszeichen erhalten hätten. Kinder, die damals zwölf Jahre alt waren und heute sechzehn oder achtzehn sind – oder es wären; keiner weiß es. Aber ich denke auch an die drei jungen israelischen Soldaten, deren Gefangennahme im Sommer dieses Jahres den Krieg im Nahen Osten auslöste. Noch immer sind auch ihre Eltern ohne jedes Lebenszeichen. Ich appelliere deshalb auch heute, zu Beginn des neuen Jahres, an diejenigen, die Gewalt über die drei jungen Männer Gilat Shalit, Eldad Regev und Ehud Goldwaser haben: Erlauben sie den Gefangenen, ihren Eltern ein Lebenszeichen zu geben! Und geben Sie ihnen die Freiheit wieder!

VI.
Ja, auch das gehört zu einem neuen Jahr. Wir werden wieder Anlass haben, dem Bösen zu widerstehen. Wir müssen aufstehen, wenn Menschen verachtet und gedemütigt werden. Aber wir können das tun, weil uns eine Zuversicht trägt: das Vertrauen auf Gott, der unsere Wege lenkt. Immer wieder können wir uns an Paul Gerhardt halten. An diesem ersten Tag des Jahres tun wir es mit seinem Neujahrgesang:

Nun lasst uns gehn und treten / mit Singen und mit Beten / zum Herrn, der unserm Leben / bis hierher Kraft gegeben. // Sprich deinen milden Segen / zu allen unsern Wegen, / lass Großen und auch Kleinen / die Gnadensonne scheinen.

Amen.