Predigt im Gottesdienst am 1. Sonntag nach Epiphanias in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Johannes 1,29-34

„Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er Israel offenbart werde, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser. Und Johannes bezeugte und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf wen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.“

Wie ein Adler, der mit ausgebreiteten Schwingen hoch über dem Geschehen am Boden kreist, so schildert uns der Evangelist Johannes die Ereignisse in Jerusalem, am Jordan oder in den Fischerdörfern am Ufer des Sees Genezareth. Das Bild passt zu diesem Evangelisten. Jedem der vier Evangelisten wurde ja in der christlichen Bildsprache ein Evangelistensymbol zugeordnet: der Engel für Matthäus, der Löwe für Markus, der Stier für Lukas und der Adler für Johannes.

Nicht zufällig wird dem Evangelisten Johannes der Adler zugeordnet. Kühn schwingt er sich in höchste Regionen hinauf, so wie ein Adler, der der Sonne entgegenstrebt. Mit solcher Kühnheit fängt er gleich an: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.

So beginnt das Evangelium mit der Adlerperspektive gestochen scharf wie ein Satellitenfoto. Jenseits des Alltags werden die großen Linien erkennbar; der Blick aus der Höhe vermittelt Frische und ein Gefühl von Weite und Freiheit. Aus der Vogelperspektive schrumpft der Stall in Bethlehem zu einem Punkt auf der Landkarte. Man sieht, wenn überhaupt ein kleines Dach. Aber auf dieses Dach lenkt der Stern von Bethlehem alle Aufmerksamkeit. So wichtig ist dieses Dach, dass die Weisen vom Morgenland dahin ziehen und fragen: Wo ist der neu geborene König?

Auch unser eigenes Leben mag aus der Perspektive des Adlers nur wie ein Punkt auf der Landkarte des Lebens sein. Aber in dieses Leben kann der neu geborene König einziehen und wir können so singen, wie wir es aus Bachs Weihnachtsoratorium gehört haben: Such ihn in meiner Brust! Und wir können bitten, wie der Chor es gerade für uns getan hat: Leit uns auf deinen Wegen, / dass dein Gesicht / und herrlichs Licht / wir ewig schauen mögen.

Für dieses Mal nehmen wir wieder Abschied vom Weihnachtsoratorium, heute in diesem Gottesdienst mit der fünften Kantate. Auch unsere Weihnachtskrippen werden, wenn es noch nicht geschehen ist, behutsam eingepackt und für das nächste Weihnachtsfest aufbewahrt. Die Tage der Einkehr und Stille neigen sich dem Ende zu;  der Blick schweift zunehmend zum Horizont und will einen ersten Überblick über die noch ungewisse Jahreslandkarte gewinnen. Da ist es gut, von einem Evangelisten an die Hand genommen zu werden, der nicht beim einzelnen bleibt, sondern aufs Ganze schaut. Nicht nur aufs Ganze eines Jahres, sondern aufs Ganze eines Lebens. Nicht nur aufs Ganze des Irdischen Wirkens Jesu, sondern aufs Ganze der Geschichte Gottes mit seiner Welt.

Denn nicht einfach mit dem Geschehen von Bethlehem fängt der Evangelist an. Sondern er beginnt damit, wie Gott sich von Anfang an mit dem Wort verbindet, in dem er sich der Welt bekannt machen wird: mit dem schöpferischen Wort, durch das er die Welt ins Dasein ruft, mit dem versöhnenden Wort, durch das er sie erneuert: Im Anfang war das Wort. Das Johannesevangelium hält sich nicht mit Details über die Umstände der Geburt Jesu auf. Der Evangelist breitet die Adlerschwingen aus und drückt sich mit Schwung hinauf in die höheren Luftschichten, um die umstürzende Nachricht hinauszutragen: Christus, der Gottgesandte, ist da. Sein Heil ist für uns bereitet. Deswegen begegnen gleich im ersten Kapitel des Evangeliums beide zusammen: Jesus, das von Gott gesandte Wort, und Johannes der Täufer, der von Jesus zeugt und auf ihn weist.

Bei Markus, Matthäus oder Lukas geht erst die Hälfte des Evangeliums vorüber, ehe Petrus in Jesus den gottgesandten Christus erkennt. Wer sich dem Adlerauge des Johannes anvertraut, hört bereits im ersten Kapitel die Worte Johannes des Täufers: Dieser ist Gottes Sohn. Dieser ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Der Adlerblick erkennt, dass in Jesus Christus die messianische Verheißung der Schrift gebündelt ist. In ihm erneuert und bekräftigt Gott seine Gegenwart, indem das Lamm alle Sünde hinweg nimmt.

Dafür ist die Taufe das Zeichen. Auch sie steht im Johannesevangelium ganz am Anfang. Das Zeugnis des Täufers vom Lamm Gottes verbindet sich damit, dass er Jesus, das Lamm Gottes, tauft. Wasser ist das Mittel dieser Taufe: das Wasser, das reinigt und Leben spendet, das Wasser, in dem wir erfahren, wie das ist, neu geboren zu sein. Aber wir wissen zugleich: Wasser allein macht es nicht. Wir vertrauen, indem wir das Wasser spüren, auf den Geist, der auf Jesus herabfuhr und in ihm blieb, auf den Geist, der durch ihn auf uns kommt: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Unter diesem Wort haben wir vorhin Noreen Keilbar getauft. Sie hat mit ihrer Bitte um die Taufe auf den Ruf Gottes geantwortet. Für eine christliche Gemeinde ist die Taufe jedes Mal ein großes und wichtiges Geschehen, ein Gottesgeschenk. Es ist eine besondere Freude, wenn der Beginn des Jahres sich mit der Feier der Taufe verbindet und wir so das ganze Jahr unter das Zeichen der Taufe, des Neubeginns durch Wasser und Geist, beginnen. Wir begleiten die Taufe von Noreen Keilbar deshalb mit der Bitte um Gottes Segen. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass auch andere sich auf den Weg machen und die Gewissheit erfahren: Sucht ihn in meiner Brust. Wir spüren daran, wie es ist, wenn das Licht Gottes einen Menschen erreicht und wir mit ihm zusammen bitten: Leit uns auf deinen Wegen, / dass dein Gesicht / und herrlichs Licht / wir ewig schauen mögen.

Amen.