Predigt am letzten Sonntag nach Epiphanias im Dom zu Brandenburg (Jesaja 54,7-10 )

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

An diesem besonderen Tag hören wir auf ein besonderes biblisches Wort. Es stammt aus der großen Sammlung prophetischer Worte, die uns unter dem Namen des Jesaja überliefert ist. Es ist ein Wort auf ernstem Hintergrund. Umso stärker spricht die Hoffnung aus ihm. Im 54. Kapitel des Jesajabuchs erklingt die Zusage Gottes so:

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Glauben heißt, mit Widersprüchen zu leben. Das gilt gerade hier. Da predigt einer in schier auswegloser Situation; aber er lässt die Hoffnung nicht fahren. Seine Gemeinde besteht aus deportierten Israeliten, verschleppt nach Babylon, wo inzwischen der Kaiser Nabonid als Nachfolger des mächtigen Nebukadnezar regiert. Doch ob das für die Deportierten Linderung oder gar Freiheit bringt, wer will das wissen? Zwar entwickelt sich in diesen Jahren um 550 vor Christi Geburt ein neues politisches Machtzentrum in Gestalt des persischen Reichs. Und dessen junger Kaiser, Kyros mit Namen, zeigt einen ähnlichen Herrscherwillen und eine vergleichbare Durchsetzungskraft wie vorher Nebukadnezar. Aber wird es dadurch besser oder schlimmer? Wer kann schon die Geschichte voraussehen?

Es werden wohl noch weitere zehn Jahre vergangen sein, bis sich die Dinge für die deportierten Israeliten zum Guten wendeten. Bis dahin war noch ein weiter Weg. Und doch nimmt der Prophet diesen Weg in großer Kühnheit vorweg. Er  lebt so tief in der Frömmigkeit der Psalmen, dass ihm die Zeit des Leidens kurz wird im Vergleich zu der Zeit, in der Gottes Barmherzigkeit vor aller Augen liegt. So wie der Psalmbeter es vor ihm gesagt hat: Lobsinget dem Herrn, ihr seine Heiligen, und preiset seinen heiligen Namen! Denn sein Zorn währet einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude, so sagt es auch der Prophet: Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.

Glauben heißt, mit Widersprüchen zu leben, sie auszuhalten, weil wir der Gnade Gottes mehr zutrauen als seinem Zorn. Gewiss gibt es viele Ereignisse – im persönlichen Leben, im Leben unseres Volkes wie in der Weltgeschichte – , in denen wir nichts anderes sehen können als den Ausdruck eines unser Begreifen oft übersteigenden Zorns, eines über uns kommenden Gerichts, Folgen einer alles menschliche Maß übersteigenden Schuld oder auch Verhängnisse, die wir niemals verstehen werden. Sich solchen Ereignissen auszuliefern und zu unterwerfen, hieße, den Glauben aufzugeben. Der Glaube aber kapituliert nicht. Er hält sich an die Gnade Gottes und findet darin seinen Trost.

Immer wieder ist diese Wende vom Verhängnis zum Segen ins Bild der Sintflut gefasst worden, in eines der ganz großen Bilder der biblischen Tradition. Man kann die Errettung aus einem kollektiven Verhängnis auch gar nicht eindringlicher schildern als im Bild der aus dem Verderben geretteten Familie Noahs sowie der in Noahs Arche aufgenommenen Tiere. So lang die Zeit der Sintflut auch erscheinen mochte, so kurz wird sie doch im Verhältnis zu der Zeit des Segens, die darauf folgt. Der Regenbogen wird zum Zeichen eines Bundes, der bleibt: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Unser Prophet ist davon überzeugt, dass Gott sich an diese Zusage erinnert und hält sich deshalb inmitten aller Ratlosigkeit und Unsicherheit an der Zusage Gottes, die er in die Worte fasst: Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten.

Glauben heißt, aus der Tiefe auf Gott zu vertrauen. Der Prophet in Babylon ist ein Beispiel dafür. Weil sein Gottvertrauen aus der Tiefe kommt, hat es immer wieder die Menschen ermutigt. Immer wieder haben sie neu Vertrauen gefasst aus den Worten dieses Propheten: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Das sind Worte für ein ganzes Leben. Sie verbinden die Generationen. Auch in diesem Dom klingen diese Worte des Vertrauens auf Gottes Treue immer wieder und erreichen die Herzen. Auch hier ist Glaube aus der Tiefe immer wieder neu gewachsen.
Eine Zeit derart tiefer und aufwühlender Erfahrungen ist es gewesen, durch die für Otto Graf Lambsdorff, mit dem wir uns in diesem Gottesdienst zu Gottes Lob versammeln, die Dominsel in Brandenburg zu einem wichtigen Lebensort geworden ist. So wichtig wurden ihm die prägenden Jugendjahre hier in Brandenburg, dass er später keine Mühe scheute, um dem „Dom in Not“ beizuspringen. Gewiss, Jugendjahre sind immer prägende Jahre. Doch diese Jahre des Zweiten Weltkriegs konnten an den Abgrund der Verzweiflung führen.
Die Ritterakademie, wie das Gymnasium am Brandenburger Dom damals hieß, lag in einer bezaubernden Landschaft, die Luft barg in sich die Frische der Havel. Aber sie lag zugleich in einem Land, in dem Politik zum Verbrechen geworden war und das Verbrechen zur Politik.

Am Ende lagen die Städte in Trümmern. Junge Männer, die ihre Schulausbildung nicht mehr hatten abschließen können, bevor sie in den Kriegsdienst eingezogen wurden, kamen gar nicht oder wie Otto Graf Lambsdorff durch den Krieg schwer versehrt und von der Gefangenschaft gezeichnet, in ein völlig verändertes Land zurück. Die Zukunft wurde bestimmt von der Trauer um diejenigen, die nicht mehr lebten. Nun kamen die Verbrechen für alle ans Licht. Die Teilung Deutschlands, die nach Russland verschleppten Kriegsgefangenen, die erniedrigten und verzweifelten Frauen und die Kinder, die beim Spielen mit Munition verstümmelt wurden oder starben – all das wurde von vielen Christen als Strafgericht Gottes verstanden.

Menschen, die damals das Buch des Propheten Jesaja aufschlugen, sahen sich bestätigt. Im 1. Kapitel dieses Buches fanden sie die Worte: Wehe dem sündigen Volk, dem Volk mit Schuld beladen, dem boshaften Geschlecht, den verderbten Kindern, die den Herrn verlassen, den Heiligen Israels lästern, die abgefallen sind.

Doch in demselben Buch stießen sie dann auch auf die Gewissheit, die aus der Erschütterung heraus Orientierung gab: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Wer sich aus der Tiefe heraus diese Gewissheit zu Eigen macht, wird für die Konsequenzen aus der eigenen Geschichte einstehen. Daran wurden wir gestern durch den Holocaust-Gedenktag erinnert. Wir werden daran aber auch erinnert, wenn wir uns dem Unrecht stellen, das mit der Beschäftigung von Zwangsarbeitern in der Zeit des Zweiten Weltkriegs verbunden war. Otto Graf Lambsdorff hat den Weg dazu gebahnt, dass ein verantwortlicher Umgang mit diesem Teil unserer Geschichte möglich wurde.

Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ist das Leitwort, unter dem diese Arbeit steht. Dieses Leitwort passt zu unserem Propheten. Wer sich aus der Tiefe heraus an die Barmherzigkeit Gottes hält, der wird im persönlichen wie im beruflichen, im gesellschaftlichen wie im politischen Handeln darauf aus sein, dem Gemeinwohl zu dienen und den Nächsten zu achten. Denn wenn Gottes Barmherzigkeit unser Leben bestimmt, werden wir auch das Leben des andern achten und darauf aus sein, dass gemeinsames Leben auch morgen und übermorgen möglich bleibt. 

Die Predigt des Propheten aus dem Exil, die unsere Überlegungen leitet, ist für Christen zu einem der wichtigsten Abschnitte des ganzen Alten Testaments, der ganzen Hebräischen Bibel geworden. Denn für Christen leuchtet in ihnen die Bedeutung Jesu Christi für unser Heil auf. Der leidende Gottesknecht, von dem der Prophet in Babylon predigte, bekam in Jesus Christus ein Gesicht. Die Zusage der Barmherzigkeit Gottes wurde Person. So bahnt uns Christus den Zugang zu dieser Gewissheit. Wenn wir auf ihn schauen, können auch wir die Kühnheit aufbringen, mit Widersprüchen zu leben und in ihnen klaren Kurs zu behalten. Dann wird der Abend wohl einmal dem Weinen gehören, aber der Morgen der Freude. Auch wenn wir etwas vom Zorn Gottes spüren, werden wir gewiss sein, dass seine Barmherzigkeit ewig währt. Daran wollen wir uns halten. Dafür wollen wir ihn loben. Amen.