Predigt im Berliner Dom am Sonntag Septuagesimae (Matthäus 9,9-13)

Wolfgang Huber

Matthäus 9,9-13

Als Jesus von der Stadt wegging, in der er einen gelähmten Menschen geheilt hatte, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): «Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.» Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Dieses Evangelium, liebe Gemeinde, scheint so leicht, dass jeder meint, er versteht es gleich, wenn er es nur gehört hat. So heißt der Kommentar des Reformators Martin Luther zu unserem Evangelium. Aber Luther fährt fort: Und doch ist’ s so tief, dass, auch wenn zwei da wären, die es völlig verstehen, es nur eben genug wäre. Freilich, wenn man jemand fragte, zu wem er sich zähle, so würde er wohl antworten: Zu den Kranken und Sündern und den Gesellen des Matthäus. Denn, wo Christus ist, da wollen wir alle sein. Und vermessen uns immerzu guter Dinge von uns; zu den Pharisäern will niemand gehören, zumal die Gerechten und Weisen nicht, wiewohl sie mitten unter ihnen sind.

Schauen wir – gewarnt durch Martin Luther – auf den angeblich leicht eingängigen Bericht über die Berufung des Zöllners Matthäus. Der Zöllnerberuf von damals war das Ergebnis einer Entwicklung, die wir heute auf Neudeutsch Outsourcing nennen. Zu Grunde lag eine Entbürokratisierung im damaligen römischen Staat. Zöllner nahmen eine öffentliche Aufgabe wahr, nämlich den Zoll einzutreiben; aber sie waren keine öffentlichen Beamten. Vielmehr waren sie eigenständige Zollunternehmer. Sie zahlten dem Staat eine feste Summe im Jahr und erwarben auf diese Weise das Recht, in einem bestimmten Bezirk Zölle zu erheben. Wenn sie weniger eintrieben, als sie an den Staat abführen mussten, war das ein Risiko, das ihnen niemand abnahm. Wenn sie aber mehr einnahmen, war es ihr Gewinn, über den sie niemand Rechenschaft schuldeten. Grundsätzlich war die Höhe der Zölle für Einfuhr und Ausfuhr festgelegt; aber für die Gewinnspanne des zuständigen Zöllners blieb genug Spielraum – vorausgesetzt er war geschäftstüchtig. So ist das beim Outsourcing; es ist ein hartes Brot, aber es kann gewinnträchtig sein.

Wie es in jener Zeit der römischen Fremdherrschaft in Palästina um das Ansehen von Zöllnern stand, lässt sich leicht vorstellen. Dass ein Zöllner von Jesus selbst in den Kreis seiner engsten Vertrauten berufen wurde, musste Außenstehende in hohem Maß irritieren. Die Geschäftsleute, die durch harte Zollforderungen bedrückt wurden, fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Die Armen, die den als ungerecht empfundenen Reichtum der Zöllner vor Augen hatten, fühlten sich gedemütigt. Für die besonders Frommen, die Menschen mit einem solchen Beruf wie religiös Aussätzige behandelten, stellte sich Jesus selbst religiös ins Abseits, wenn er mit einem Zöllner Gemeinschaft hielt. Wer aber aus einem politischen Blickwinkel auf die Sache schaute, konnte sogar auf den Verdacht kommen, Jesus mache gemeinsame Sache mit der römischen Besatzungsmacht; denn in deren Dienst standen doch die Zöllner.

Warum tut er das bloß? Die Frage lag nahe und war durchaus verständlich. Nicht die Frage der Pharisäer ist provozierend, sondern Jesus provoziert mit seinem Verhalten. Ein Zöllner im Jüngerkreis; und Jesus am Mittagstisch der Zöllner und Sünder – das ist zu viel!

Ganz anders sieht es freilich aus, wenn man nicht auf Rollen und Funktionen schaut, sondern auf Menschen. Nicht um den Typ Zöllner geht es, sondern um den Menschen Matthäus. Nicht um den Typ Sünder, Armer oder Kranker geht es, sondern um die Menschen. Wir legen es immer wieder darauf an, dass die Menschen dem Bild ähneln, das wir uns von ihnen machen. Jesus schaut den Menschen an. Damit löst er etwas aus. Matthäus stand auf und folgte ihm nach.

Sternstunden der Menschheit – das sind nicht nur die großen Ereignisse, die in den Geschichtsbüchern stehen. Sternstunden der Menschheit sind solche Begegnungen. Die Evangelien handeln von solchen Sternstunden menschlicher Begegnung. Heute haben wir es mit einer solchen Sternstunde zu tun. Jesus zeigt, was wir eigentlich brauchen. Es geht um nichts anderes als um sein unbedingtes und ungeteiltes Erbarmen. Die Autorität des göttlichen Erbarmens erreicht das Unglaubliche: der skrupellose Zöllner steht von seinem Arbeitsplatz auf, er lässt sein altes Leben hinter sich und pfeift auf die stattlichen Zolleinahmen. Ein Wunder? Ja, ein großes Wunder. Aber für manche ist es anstößig.

Wozu kann dieses Wunder ein Anstoß sein? Fromme und bibelkundige Menschen damals wie heute könnten sich an das Geschehen am Berg Sinai erinnert fühlen. Mose hatte von Gott die zehn Gebote erhalten, damit das Volk Israel seinem Gott treu bleiben und so die eigene Freiheit bewahren konnte. Doch als Mose vom Sinai herunterkam, tanzten die Seinen um das goldene Kalb. Allein durch Gottes Barmherzigkeit ging die Geschichte des Gottesvolkes weiter. Einen Leistungsanspruch auf die Zuwendung des Ewigen konnte es nicht geben. Aber dass es weiterging mit Gottes Volk, lag gewiss nicht an diesem Volk, es lag allein an Gott.

So ist es auch mit Jesus und dem Zöllner. Dass Jesus sich ihm zuwendet, hat nichts mit seinem untadeligen Beruf oder seiner großartigen Lebensleistung zu tun, sondern allein mit dem Leuchten von Gottes Barmherzigkeit im Angesicht Jesu. Darauf kann man nur antworten: Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin.

Heute hat der Beruf des Zöllners mit den damaligen Verhältnissen nichts mehr zu tun. Der Beruf ist nicht outgesourct; an den innereuropäischen Grenzen wird dieser Beruf weithin zur brotlosen Kunst. Aber die Erfahrung, aus Gottes Gnade angewiesen zu sein, beschränkt sich nicht auf den Typus Zöllner, diese Erfahrung ist allen Menschen gemeinsam. Nur weil uns Umkehr und Neubeginn offen stehen, können wir den Sinn unseres Lebens kennen. Wir empfangen dieses Leben als Gottes Geschenk; durch Gottes Barmherzigkeit gewinnt es seinen Sinn. Wenn wir selbst für diesen Sinn gerade stehen müssten, wäre es eher zum Verzweifeln als zum Lachen.

Es ist nicht nur ein bestimmter Typus von Menschen, der sich bekehren muss. Wir rücken ja alle auf die Seite der fragenden Pharisäer, wenn wir so denken. Aber es ist anders. Die Seele eines jeden Menschen bleibt sein erstes Missionsfeld. Hier wächst das Unkraut unter dem Weizen. Wir sind nicht entweder Sünder oder Gerechter. Wir sind immer beides – ein Leben lang. Wir brauchen Menschen, die uns daraufhin anschauen, dass wir Gottes geliebte Geschöpfe sind. Wir brauchen Menschen, die mit unseren Schwächen barmherzig sind und uns so dabei helfen, sie hinter uns zu lassen. Wir sehnen uns nach Mitmenschen, die Ich sagen können und zu echten Beziehungen fähig sind. Aber Ich kann nur sagen, wer immer wieder Distanz zu sich selbst gewinnt und es nicht verlernt hat, über sich selbst zu lachen.

Allzu oft sind wir uns selbst genug. Wir meinen, wir könnten selbst unserem Leben Erfüllung geben oder zumindest unsere Tage ausfüllen, womit auch immer. Wir wollen an der eigenen Biografie ablesen, dass unsere Existenz gelungen ist. Wir stilisieren uns als die, denen alles gelingt; oder wir können vom Jammern gar nicht genug bekommen. Im einen wie im andern Fall brauchen wir keinen andern. Wenn der andere uns trotzdem auffällt, dann am ehesten, weil wir uns ungerecht behandelt fühlen. Wieso bekommt der denn staatliche Unterstützung, fragt einer, der sich alles selbst erarbeitet hat. Warum bekommt der andere denn mehr als ich, fragt einer, der sich permanent benachteiligt fühlt.

In solcher Selbstgewissheit, aber auch in solchen Vorwürfen oder Klagen sind wir uns selbst genug. Mit Barmherzigkeit rechnen wir nicht. Dass Jesus uns anschauen könnte, kommt uns nicht in den Sinn. Wir müssen nicht an den Tisch des Herrn geladen werden. Wir sind doch keine Zöllner oder Sünder – wir doch nicht!

Das Evangelium benutzen wir dann nur als Mittel der Unterhaltung und der Zerstreuung. Hauptsache, wir befinden uns auf der richtigen Seite. Dort das Unkraut, hier der Weizen, dort die großen Sünder, die Pharisäer und Schriftgelehrten, hier wir selbst. Auf dieser Landkarte können wir dann auch noch Jesus selbst seinen Platz anweisen und darum kreisen. Für Werte ist er eingetreten, so sagen wir dann, für Werte, an die die anderen sich gefälligst halten sollen. So erhalten wir ohne Probleme eine gute Ausgangsposition. Kurt Marti, der Schweizer Dichter und Theologe hat diese Ausgangsposition und die mit ihr verbundenen Erwartungen an die Kirche so beschrieben: Trefflich sorgt / hierorts die Kirche / für einige Nebenbedürfnisse des Mittelstands. / Gefragt sind / ein Hauch heiler Welt mit Dias und Filmen bei Kuchen und Tee. / Ist dafür / einer  / einst aufgehängt  / worden?

Aber so schön es auch immer wieder ist, Tee zu trinken oder Dias anzuschauen – das ist mit der Botschaft Jesu nicht gemeint. Sondern wir sind gemeint. Uns schaut Jesus an. Wir sind nicht die anderen, uns gilt der Ruf. Es gibt ein Leben jenseits der Rolle, die ich mir zudenke oder auf die andere mich festlegen. Du brauchst Dich nicht hinter einer solchen Rolle zu verstecken, Du kannst so sein, wie Gott Dich liebt.

An uns liegt es, dem Glanz des Evangeliums nicht im Weg zu stehen, damit sein Leuchten zum Licht wird, an dem sich Menschen orientieren können. Auf dieses Licht kommt es an, damit die Barmherzigkeit Gottes heute Menschen erreicht und sie ihr Leben neu verstehen. Wir alle können und wollen unseren Mitmenschen so begegnen, dass sie spüren, wie gut ihnen die Begegnung mit der Barmherzigkeit Gottes tut.

Es ist wichtig, dass Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen immer wieder bemerken: Wir Christen halten uns nicht für die besseren oder makelloseren Menschen. Aber unsere Lebensgewissheit stammt aus Gottes Erbarmen. Wir halten uns an das Geschenk der Gnade. Das verändert unser Leben. Wenn man uns Christen abspürt, dass uns das froh macht, dann kann sich das Wunder an der Zollschranke auch heute wiederholen. Wenn wir auf unseren Mitmenschen zugehen und uns seiner annehmen, kann sich für ihn ereignen, was Matthäus erlebt hat. Er begegnet Jesus Christus. Ein Matthäustag ist möglich mitten unter uns – heute und hier in Berlin.

Amen.