Predigt am Ostermontag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin (1. Korinther 5,6-8)

Wolfgang Huber

Teil I

Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Das feiert die Christenheit in aller Welt. Auch das Datum des Osterfests, das in anderen Jahren die östliche und die westliche Christenheit voneinander trennt, vereinigt in diesem Jahr alle Christen auf der Erde.

Und wir feiern sechzig Jahre Kantate-Gottesdienste in Berlin. Wir danken Gott für die Weise, in der Johann Sebastian Bach den Osterjubel erschallen lässt. Wir preisen diesen großartigen Musiker mit einem festlichen Gottesdienst als unseren fünften Evangelisten. In schier unerschöpflicher Fülle hat er den christlichen Glauben musikalisch ausgelegt.

Die Oster-Kantate, die unseren Gottesdienst prägt, schuf Bach vor genau dreihundert Jahren. Als Textgrundlage für sein musikalisches Meisterwerk wählte er das von Martin Luther gedichtete Osterlied „Christ lag in Todesbanden“.

Die Kantate beginnt – wir haben das vorhin gehört - mit lang gezogenen Klagerufen. Die Ungeheuerlichkeit des Karfreitags tritt noch einmal vor uns. Nur langsam wechselt die Stimmung. Ein von Tränen umfangenes Lachen hebt an. Vorerst noch brüchig, steigert es sich mehr und mehr zu einer alles durchdringenden Fröhlichkeit, wenn der Chor in einem geradezu verschworenen "Halleluja" zusammenfindet.

Danach halten die Solostimmen von Alt und Sopran Rückschau auf die Zeit, als die Gewalt des Todes noch ungebrochen schien. Man atmet Grabesluft und wird vom zweistimmigen Klagegesang in die alles verschlingende Tiefe gezogen.

Doch mit einem Schlag löst sich die Beklemmung auf. Der schwere Stein ist weggerollt, die Sonne des Auferstehungsmorgens leuchtet ins leere Grab und der Auferstandene begegnet den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus. Oder uns auf unserem Weg. Er lädt uns zum Mahl.

Denn das Osterfest hat es mit dem Essen zu tun. Das spiegelt sich noch heute im festlichen Osterfrühstück, das auch diejenigen gern zelebrieren, die Ostern nicht in der Kirche feiern. Dazu gehört dann vielleicht auch das Osterbrot, das in Form eines Lamms gebacken ist. Aber wo kommt das her? Es hat tiefe Gründe: Ostern hat es mit dem Essen zu tun, weil dieses Fest eine große jüdische Tradition aufnimmt. Jesus knüpft an sie schon am Gründonnerstag an, als er mit seinen Jüngern das Passahmahl feiert.

Diese besondere Mahlzeit erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten, an ihre Befreiung aus der Sklaverei. Pessach, der hebräische Name des Festes, meint das „Vorübergehen" des Todesengels an den Häusern, in denen die israelitischen Fronarbeiter wohnten. Auf das Geheiß des Mose hin hatten sie ihre Türpfosten mit dem Blut eines geschlachteten Lammes gekennzeichnet. Kraft dieses Zeichens ging die Todesgefahr vorüber; und die Unterjochten konnten in die Freiheit aufbrechen. Daran erinnert sich das jüdische Volk, wenn im Kreis von Familie und Freunden beim Pessachfest ein Lamm gemeinsam zubereitet und verspeist wird.

Dabei wird die Geschichte von der Flucht aus Ägypten erzählt. So plötzlich brach das Volk auf, dass zum Säuern der Brote als Reisenahrung keine Zeit mehr blieb. Deshalb wird während der Festtage nur ungesäuertes Brot gegessen. Zur Vorbereitung auf das Pessachfest gehört es daher bis zum heutigen Tag, sämtliche gesäuerten Nahrungsmittel in einem großen Hausputz zu entfernen.

All das muss man sich in Erinnerung rufen, um Johann Sebastian Bachs Kantate zu verstehen. Denn sie greift – in den Strophen, die wir noch hören werden – ein Bild auf, das der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die christliche Gemeinde in Korinth geprägt hat. Knapp  und zugespitzt knüpft er dabei an das jüdische Passahmahl an und schreibt:

Euer Rühmen ist nicht gut. Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert? Darum schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr ein neuer Teig seid, wie ihr ja ungesäuert seid. Denn auch wir haben ein Passahlamm, das ist Christus, der geopfert ist. Darum lasst uns das Fest feiern nicht im alten Sauerteig, auch nicht im Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern im ungesäuerten Teig der Lauterkeit und Wahrheit.

Kein Mensch ist frei von diesem kleinen bisschen Eitelkeit, das manchmal all unser Tun durchsäuert. Lauter und rein zu sein, schafft keiner aus eigener Kraft. Diese Kraft kommt von Christus. Er hat sein Leben dafür eingesetzt, dass diese Kraft uns erreicht.

Das ist gemeint, wenn Christus mit dem Bild aus der jüdischen Tradition als Passalamm bezeichnet wird, das geopfert wird. Doch Ostern wird dadurch nicht zu einem christlichen Opferfest. Jesus von Nazareth musste nicht als Opferlamm den Zorn Gottes besänftigen. Denn was wäre das für ein Bild Gottes, der ein Menschenopfer verlangte! Schon die Geschichte Abrahams berichtet davon, wie eine solche Vorstellung überwunden wird: Sein Sohn Isaak wird nicht auf dem Altar geopfert. Jesus geht freiwillig in sein Leiden und bezeugt dadurch die Kraft der Liebe. Er nimmt Gewalt, Schuld und Tod auf sich, damit uns einleuchtet, wofür wir leben: für die Freiheit nämlich von Gewalt, Schuld und Tod. Unser Leben ist nicht mehr von diesen Mächten beherrscht; es kann lauter und rein werden. Gott sei Dank.

Blicken wir auf Jesus, so sehen wir: Es geht gerade nicht darum, den Opfergedanken zu verklären; sondern es geht um den Einsatz für das Leben. Und wir wissen auch, was heute damit gemeint ist: Eine Gesellschaft kann die Zukunftschancen der nächsten Generationen opfern, indem sie auf unverantwortliche Weise Schulden aufhäuft. Menschen werden zu Opfern einer globalen Wirtschaft, wenn ihnen die Arbeitsplätze genommen werden, die sich nicht mehr rentieren. Die einen gewinnen, die anderen verlieren – Opfer bleiben zurück. Ich opfere die Wahrheit, wenn ich versuche, im Gewand der Lüge zu glänzen.

Ostern durchkreuzt und entlarvt die Formen, in denen Menschen mit dem Brandmal des Opfers versehen werden. Wir treten auf die Seite der Opfer, weil Jesus auf ihre Seite tritt. Gottes Gerechtigkeit kommt uns entgegen. Sie rettet uns und nimmt uns in Anspruch. Deshalb ist Ostern ein Fest des Lebens. „Ein Spott aus dem Tod ist worden!“ Mit der Tradition des Pessachfests und mit der musikalischen Kraft Johann Sebastian Bachs bieten wir dem Todesengel Paroli: „Der Würger kann uns nicht mehr schaden. Halleluja!“

 

Teil II

„Ein Spott aus dem Tod ist worden. ... Der Würger kann uns nicht mehr schaden. Halleluja!“ Wie mag es geklungen haben, als diese Worte und diese Töne vor sechzig Jahren laut wurden – in dem ersten Kantate-Gottesdienst nach dem Zweiten Weltkrieg?

In der Erwartung des zweiten Osterfests nach Kriegsende fieberte ein Kreis von Berlinerinnen und Berliner 1947 dem Abend des Karsamstags entgegen. Chor, Solisten und ein Instrumentalensemble hatten sich auf die Aufführung von Johann Sebastian Bachs vierter Kantate vorbereitet: "Christ lag in Todesbanden“. In der Trümmerstadt Berlin sollte Bachs ergreifende Musik erklingen. Angesichts von Verwüstung und Tod sollte ein Glaube laut werden, der auch Trümmerberge versetzt. Eine Hoffnung sollte wach gerufen werden, die vor Verwüstung und Trauer nicht verstummt. Menschen sollten mit neuem Mut der Liebe in ihrem Leben Raum geben und Gott aufs Neue vertrauen.

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche lag zerstört danieder. Ein Bombenangriff hatte sie im November 1943 zum Mahnmal für Grauen und Leid gemacht. Zu benutzen war sie nicht. Und bis zur Einweihung der von Egon Eiermann entworfenen neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche sollten noch mehr als vierzehn Jahre vergehen.

An Ostern 1947 zählte das Hier und Jetzt. Die Menschen sehnten den Frühling herbei; sie hungerten nach dem täglichen Brot, aber ebenso nach dem lebendigen Wort Gottes; sie verliebten sich und bekamen Kinder; sie stritten und feierten Geburtstag. Viele wussten, dass der Tod sie ganz knapp gestreift hatte. Umso fester, ja beinahe trotzig sagten sie: Das Leben geht weiter. Mit Wehmut wurde der Verstorbenen gedacht; doch ebenso stark war die Bereitschaft, neu anzufangen. Im erschreckten Rückblick stieg die Scham darüber auf, wie tief der Sauerteig der Bosheit Denken und Handeln vergiftet hatte. Die Menschen suchten Halt. Sie litten unter dem Blick in den Spiegel. Sie wollten neu beginnen.

„So feiern wir das hohe Fest / mit Herzensfreud und Wonne, / das uns der Herre scheinen lässt. / Er selber ist die Sonne.“ Wie mag der österliche Triumph über die Macht des Todes damals die Herzen erreicht haben? Rund eintausendeinhundertundfünfzig Mal wurden seit dem Osterfest vor sechzig Jahren in Berlin Kantate-Gottesdienste gefeiert. Erst wurden dafür Kirchengebäude aufgesucht, die von der Zerstörung verschont geblieben waren. Doch mit der Einweihung der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fanden sie hier ihren bleibenden Ort.

Mögen Johann Sebastian Bachs Kantaten auch weiterhin viele Menschen hineinnehmen in die Kraft des Glaubens, in den Mut zur Liebe, in die Zuversicht der Hoffnung. Mögen sie Christus besingen, der uns und unsere Welt aus Selbstzerstörung und Verlorenheit befreit.

Denn der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja. Amen.