Predigt im Gottesdienst am Sonntag Kantate im Brandenburger Dom (Römer 1, 16)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Ich schäme mich des Evangeliums nicht. Seit Beginn meiner Bischofszeit, also seit nunmehr dreizehn Jahren, begleitet mich dieses Wort. Immer stärker fand ich, es passe zu unserer Situation. Wie es mir zugeflogen ist, weiß ich nicht mehr; plötzlich war es da. Aber schwer aufzufinden ist es auch nicht. Es steht im 1. Kapitel des Briefs, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom geschrieben hat. Schon nach fünfzehn Versen stößt man auf diese markante Aussage, die im Zusammenhang folgendermaßen heißt:

Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.

An die erste christliche Gemeinde in Rom sind diese Worte gerichtet. Rom, das ich gerade in den vergangenen Tagen besucht habe, war damals freilich keineswegs das Zentrum einer römisch-katholischen Weltkirche, sondern es war die Hauptstadt des römischen Weltreichs. Heidnisch wie das ganze Reich war auch die Hauptstadt. Eine kleine jüdische Minderheit gab es in ihr, die vor allem aus Kaufleuten bestand. Aus ihr hatten  sich einige wenige zu Jesus Christus als ihrem Heiland und Retter bekannt; einige nichtjüdische Christen waren hinzugetreten – Juden zuerst und ebenso Griechen. Aber es handelte sich um eine winzige Glaubensgemeinde in heidnischer Umwelt. Sie konnte Zuspruch brauchen; denn die Verführung dazu, sich zu verstecken, war groß. Der aufrechte Gang war nicht einfach. Es tat wohl, vom Apostel so aufgemuntert zu werden. Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben.

Uns spricht das heute an. Minderheitserfahrungen kennen wir auch. Mit der Situation zu Beginn der Christenheit ist das, was unsere Gemeinden in der Zeit der DDR erlebt haben, zwar nicht zu vergleichen; und dieser Dom beispielsweise oder die anderen stolzen Kirchen in dieser Stadt und im ganzen Land blieben unübersehbare Wahrzeichen des Glaubens auch in den Zeiten der Bedrängnis.

Aber Versuche gab es, Menschen dazu zu bringen, dass sie sich des Evangeliums schämten. Manche Waffen wurden dafür eingesetzt. Der Unterricht in der Schule oder der Zugang zu Studium oder Beruf wurden ebenso als Waffen eingesetzt wie die öffentliche Propaganda. Auch die Kunst des Dichtens und der Poesie wurde schon in den frühen Jahren der DDR als eine solche Waffe eingesetzt. Erich Weinert, der 1946 aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückkehrte, verfasste alsbald viele propagandistische Texte. Eines seiner Gedichte hat es direkt mit der Frage zu tun, ob man sich des Evangeliums schämen soll. Es heißt so:

Ich habe einen Kommunisten gefragt:
„Bist du noch in der Kirche?“ – Da hat er gesagt:
„Ach, du denkst wohl, ich gehe sonntags beten?
Da wäre ich ja ein schöner Kommunist!
Wir sind zwar formell noch nicht ausgetreten,
Was ja auch schließlich überflüssig ist.
Wir hatten keine kirchliche Trauung.
Bei Vaters Begräbnis hat keiner gepredigt.
Der Pastor kennt unsere Weltanschauung,
für den sind wir schön lange erledigt.
Und Kirchensteuern bezahle ich ja auch nicht.
Was soll ich da noch auf dem Amtsgericht?“
„Genosse, nun will ich dir mal was flüstern!
Dein Name steht in den Kirchenregistern.
Und nun erzählt dein Pastor seiner Gemeinde:
Bei uns ist sogar noch ein Kommunist.
Ein Mann aus dem Lager der Glaubensfeinde!
Das beweist, liebe Freunde, dass Jesus Christ
Doch stärker als gottlose Lehren ist!“
„Ja, daran hab ich noch gar nicht gedacht!“
„Nun aber schnell einen Strich durch gemacht!“

Diese Zeilen Erich Weinerts rufen Erinnerungen an das gesellschaftliche Klima im Osten Deutschlands in den Jahrzehnten der SED-Herrschaft wach, das von einer massiven Kirchenfeindlichkeit geprägt war. Wer noch nicht aus der Kirche ausgetreten war, sollte sich dafür schämen, Gewissensbisse empfinden und eine Pflicht zur Rechtfertigung seiner Kirchenmitgliedschaft spüren.

Heute, bald zwei Jahrzehnte nach der Wende von 1989, erleben wir einen allmählichen Wandel des gesellschaftlichen Klimas. Die Anmeldungen zur Jugendweihe, die ihre Stabilität über viele Jahre dem Nachwirken der DDR-Erziehung verdankte, sind im Land Brandenburg innerhalb weniger Jahre nahezu um die Hälfte zurückgegangen; gleichzeitig steigt zwar nicht die absolute Zahl der Konfirmanden, aber ihr Anteil am jeweiligen Altersjahrgang deutlich an. Beide Entwicklungen lassen sich nicht einfach aus dem Geburtenrückgang seit Beginn der neunziger Jahre erklären. Vielmehr deutet sich behutsam ein Mentalitätswandel an. Man kann ihn auch spüren, wenn man die Schulen hier am Dom besucht. Ich schäme mich des Evangeliums nicht.

Dieses Wort des Apostels Paulus ist das Leitwort für eine Predigtreihe, zu der die Domgemeinde in diesen Sommermonaten einlädt. Heute sind wir dazu eingeladen, darüber nachzudenken, warum uns Scham überfällt und welche Scham wir im Licht des Evangeliums hinter uns lassen können.

Scham entsteht aus dem Wunsch, dazu zu gehören. Sie überfällt uns, wenn wir etwas tun, was uns von anderen trennt. Denn der Wunsch, dazu zu gehören, ist tief in der menschlichen Seele verankert; unser Sozialverhalten ist zu großen Teilen von diesem Wunsch geprägt. Umgekehrt gehört das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, deshalb zu den schmerzlichsten Erfahrungen, die uns begegnen können. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Verbindung mit einer anderen Person oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verloren geht. Am schlimmsten ist die Angst, von allen anderen verstoßen zu werden.

Für unsere Vorfahren bedeutete der Verstoß aus der Gruppe den sicheren Tod. Mit dem Schamgefühl greift der Selbsterhaltungstrieb eines Menschen in dessen eigene Persönlichkeit ein und erkauft sich die Wiederaufnahme in die Gruppe mit einer Art von Selbstaufgabe. Petrus verleugnete seine Verbindung zu Jesus dreimal, noch ehe der Hahn krähte; denn auch im Hof des Hohenpriesters wollte er dazu gehören. Der Kreis der Jünger zerstob bereits bei der Festnahme Jesu im Garten Gethsemane; denn sie wollten nicht ausgestoßen werden.

Schamgefühle und die damit verbundene Angst können von heftigen körperlichen Symptomen begleitet sein. Heftig schlägt das Herz, unwiderstehlich steigt das Rot ins Gesicht, die Hände sind schweißnass.  Wir genieren uns, sind verlegen, bereuen oder erglühen. Die Angst, dass andere uns wegen der eigenen Unvollkommenheit verspotten könnten, kann lähmen. Wer möchte schon wegen einer vermeintlichen Unvollkommenheit von Dritten verachtet werden?

Eine Schamkultur kann lähmen; sie verleitet zum Verschweigen. Vor vierzig Jahren rebellierten Studierende in der alten Bundesrepublik und ganz besonders in West-Berlin gegen eine Schamkultur, die alle Verstrickungen in die Zeit des Nationalsozialismus verdecken und totschweigen wollte. Sie begehrten gegen den Muff von tausend Jahren, der sich unter den Talaren ihrer Professoren verbarg. Manche der jungen Rebellen hielten es sogar für richtig, jede Form von Scham gänzlich abzuschaffen.  Damit scheiterten sie kläglich.

Von Adam und Eva heißt es: Sie waren nackt und schämten sich nicht. Was im Garten des Paradieses möglich war, ist uns heute verwehrt. Wir leben jenseits von Eden.

Paulus ruft nicht zu einer generellen Abschaffung der Scham auf. Er erklärt, dass wir uns des Evangeliums nicht zu schämen brauchen. Und er hat dafür eine klare Begründung. Denn das Evangelium ist eine Gotteskraft, die wir zum Leben brauchen wie die Luft zum Atmen. Diese Kraft befreit uns aus den Verstrickungen, die unser Leben fesseln. Wie ein Netz, so macht Paulus deutlich, liegt die Sünde mit ihren Folgen auf der Seele jedes Menschen. Er meint, sich daraus mit eigener Kraft befreien zu können, Aber mit jeder Bewegung verstricken sich die Nachfahren von Adam und Eva tiefer in das unentrinnbare Schicksal. Nur die Kraft Gottes kann das Netz zerreißen und uns die Freiheit gewähren. Das hat Jesus Christus bewirkt. Davon zeugt das Evangelium Gottes. Weil es unsere Rettung beschreibt, gibt es keinen Grund, sich dafür zu schämen.

Vielmehr können wir Christus unseren Mitmenschen bekannt machen, wie wir ihnen einen Menschen vorstellen, der uns das Leben gerettet hat. Wenn wir einem solchen Menschen nach geraumer Zeit wieder  begegnen würden, dann würden wir ihn ganz sicher voller Freude begrüßen, ihn unseren Freunden vorstellen und von der wundersamen Rettung erzählen. Wir würden uns seiner nicht schämen. So ist es auch mit dem Menschen, durch den der Glanz Gottes wieder in unsere verschattete Welt kam: Christus, auf dessen Antlitz Gottes Gerechtigkeit leuchtet. Wir brauchen uns seiner nicht zu schämen. Wir können diesen Glanz zum Leuchten und zum Klingen bringen: Du meine Seele, singe, / wohlauf und singe schön / dem, welchem alle Dinge / zu Dienst und Willen stehn. / Ich will den Herren droben / hier preisen auf der Erd; /  ich will ihn herzlich loben, so lang ich leben werd.

Mit einer Selbstüberredung beginnt dieses Lied. Du meine Seele, singe! Ein andermal ist Paul Gerhardt, unser protestantisches Geburtstagskind des Jahres 2007, seiner Sache gewisser. Da fängt er beherzt mit einem Ich an: Ich singe Dir mit Herz und Mund! Das klingt wie das Ich des Apostels: Ich schäme mich des Evangeliums nich!. Aber heute und hier herrscht der Ton der Selbstüberredung. Der Dichter muss sich erst aufschwingen zu dem Jubel; und die Melodie von Johann Georg Ebeling nimmt das in wunderbarer Weise auf: Du meine Seele, singe, / wohlauf und singe schön. Im Fluss dieses Liedes lässt sich spüren, dass das Evangelium eine Gotteskraft ist, der wir eigentlich nur singend antworten können.

Hier sind starken Kräfte, / die unerschöpfte Macht; / das weisen die Geschäfte, / die seine Hand gemacht: / der Himmel und die Erde / mit ihrem ganzem Heer, / der Fisch unzähl’ge Herde / im großen wilden Meer.

Wir alle begegnen Tag für Tag Menschen, denen falsche Scham den Zugang zum Gottvertrauen verwehrt. Vielleicht schämen sie sich für ihre Fragen. Eventuell wagen sie einen ersten Schritt und stoßen dabei auf Barrieren, die wir errichtet haben. Aber das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben. Allen gilt die Botschaft, dass Gott sie aufrichtet und annimmt. Keinem ist diese Zusage verwehrt.

Deshalb wollen wir unseren Beitrag dazu leisten, dass sich die Türen zum Evangelium öffnen. Wir wollen dem Image einer Anrufbeantworterkirche beherzt entgegen treten und selbst auf andere zugehen. Die Entdeckungen, die wir dabei machen können, werden unser Leben verwandeln. Für werden erleben, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Dahinter gibt es keinen Weg zurück. Ohne Scham und in demütigem Stolz können wir dann einstimmen in die Worte Paul Gerhardts: Ach, ich bin viel zu wenig, / zu rühmen seinen Ruhm; / Der Herr allein ist König, / ich eine welke Blum. / Jedoch weil ich gehöre / gen Zion in sein Zelt, / ist’s billig, dass ich mehre / sein Lob vor aller Welt.

Amen.