Predigt am Sonntag Rogate im Ordinationsgottesdienst in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Als sich unser Land vor einem knappen Jahr im Fußballfieber befand, war eine Liedzeile in aller Munde: „Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer.“ Unsere Nationalmannschaft hatte diesen Titel von Xavier Naidoo zu ihrem Lied gemacht und stimmte sich mit dieser Melodie auf jedes neue Spiel ein. Die Spieler wussten, dass es hart wird. Aber sie wollten ihren Weg als Team gemeinsam und entschlossen gehen. „Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer.“

Ob Sie, liebe Ordinandinnen und Ordinanden, auch in dieses Lied einstimmen? In Ihren Arbeitsbereichen werden Sie freudig aufgenommen und treffen auf große Erwartungen. Stimmen diese Erwartungen Sie sorgenvoll oder fröhlich? Es ist den Menschen wichtig, dass eine Pfarrerin oder ein Pfarrer unter ihnen ist – ein Bürge für das Gespräch mit Gott und die Verkündigung seines Worts, ein Begleiter in guten wie in schweren Tagen. Viele warten auf den Hoffnungsträger, der bei der Beerdigung  auf dem schweren Weg zum Grab vorangeht und die Trauernden nicht allein lässt. Das gemeinsame Singen bereitet mit der neuen Pfarrerin noch mehr Freude. Das Nachdenken über neue Gemeindeformen braucht Anleitung; Menschen wollen ermutigt werden, ihre Gaben in das Leben der Gemeinde einzubringen. Viele werden durch Sie zum ersten Mal erfahren, dass Gott es gut mit Ihnen meint. Es ist wichtig, dass Sie sich zu den Menschen auf den Weg machen, Milieugrenzen überwinden und auf Mitmenschen zugehen, die es mit ihrem Leben schwer haben. Sie warten auf einen Begleiter, weil sie die Kraft für einen Neubeginn allein niemals mobilisieren können. Sagen Sie bei so vielfältigen Erwartungen auch: „Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer“?

Von den zwölf Jüngern damals am See Genezareth bis zum heutigen Zwölferkreis von Ordinandinnen und Ordinanden hat es in jeder Generation Frauen und Männer gegeben, die dem Ruf des Evangeliums gefolgt sind. Dietrich Bonhoeffer war auch Pfarrer unserer Kirche. Seine Ordination am 15. November 1931 in der Berliner St. Matthäuskirche liegt nun schon über 75 Jahre zurück. Dietrich Bonhoeffer hatte Studium und Vikariat so schnell und exzellent absolviert, dass er damit vor dem Erreichen des 25. Lebensjahres fertig war. Aber erst mit 25 Jahren durfte man damals ordiniert werden. Bonhoeffer musste darauf warten. Etwa zwölf Jahre später saß er im Gefängnis.

Von dort schrieb er: “Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich, als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardt Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue.” So heißt es in dem ersten Lebenszeichen Dietrich Bonhoeffers an seine Eltern aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel nach seiner Verhaftung im April 1943. Und von da an zieht sich der Bezug auf Paul Gerhardt, dessen 400. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, durch diese Briefe hindurch wie ein Basso continuo durch eine barocke Sonate. “In den ersten 12 Tagen, in denen ich hier als Schwerverbrecher abgesondert und behandelt wurde – meine Nachbarzellen sind bis heute fast nur mit gefesselten Todeskandidaten belegt – hat sich Paul Gerhardt in ungeahnter Weise bewährt, dazu die Psalmen und die Apokalypse. Ich bin in diesen Tagen vor allen schweren Anfechtungen bewahrt worden.” Und am entscheidenden Wendepunkt, nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944, heißt es gleich im ersten Brief – in dem der Verzweiflung abgerungenen Brief vom 21. Juli 1944: Es kommen “Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen lässt. Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages ... und man kehrt zu den schönen Paul Gerhardtliedern zurück und ist froh über diesen Besitz.”

Bonhoeffer steht mit dieser Erfahrung nicht allein. Viele andere können sie bestätigen. Über die Generationen und Jahrhunderte hinweg ist Paul Gerhardt, der Pfarrer an St. Nikolai hier in der Nachbarschaft, für viele Menschen zum sprachmächtigen Interpreten der elementarsten Glaubenserfahrungen geworden. Er kann bis zum heutigen Tag als der fruchtbarste und schöpferischste Dichter geistlicher Lieder in deutscher Sprache gelten. Viele Menschen richten sich an wichtigen Wendepunkten des Lebens zwischen Geburt und Tod immer wieder an einem bestimmten Lied von Paul Gerhardt aus: “Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.”

“So ein ‚Befiehl du deine Wege‘ zum Exempel, das man in der Jugend in Fällen, wo es nicht so war, wie’s sein sollte, oft und andächtig mit der Mutter gesungen hat, ist wie ein alter Freund im Hause, dem man vertraut und bei dem man in ähnlichen Fällen Rat und Trost sucht.” Matthias Claudius hat so über dieses Lied geurteilt. Es gibt einer elementaren Glaubenserfahrung Gestalt: “Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn. Er wird’s wohl machen.” So heißt es im 37. Psalm.

Paul Gerhardt hat eine ungleich umfangreichere Dichtung aus diesem einen Psalmvers von dreizehn Wörtern entwickelt. Er macht Gebrauch von der Kunstform des Akrostichons und lässt die zwölf Strophen des Lieds der Reihe nach mit den einzelnen Worten des Psalmverses beginnen – nur die beiden Worte “dem Herren” lässt er als Beginn der zweiten Strophe zusammen stehen. Diese kunstvolle Liedform ist zugleich besonders einprägsam. Viele haben deshalb das ganze Lied in ihrer Schulzeit gelernt; weil man den Anfang jeder Strophe leicht erinnern kann, merkt sich auch das Ganze leichter. Viele haben deshalb alle zwölf Strophen bis ins Alter behalten. Man wünschte sich, dass das Lernen solcher Lieder auch heute wieder erlaubt – und nicht als mechanisches Auswendiglernen verpönt – wird.

Aber auch denen, die das Lied nicht im Ganzen behalten, prägen sich die dichtesten Sprachbilder aus ihm wie von selber ein: “Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.” Welche sprachliche Meisterschaft zeigt sich in den beiden Gruppen von jeweils drei Substantiven – Wolken, Luft und Winde; Wege, Lauf und Bahn. Aber die künstlerische Leichtigkeit ist kein Selbstzweck. Ein Vertrauen zu Gottes Güte wird vermittelt, das an der Kränkung, die jedes menschliche Herz erfährt, nicht zerschellt.

Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer. Kein menschliches Schicksal ist von Enttäuschungen frei; uns allen widerfährt, was mit unseren Vorstellungen von uns selbst und vom gelingenden Leben nicht zusammenpasst. Die größte Enttäuschung ist der unzeitige Tod. Paul Gerhardt hat ihn an vier seiner fünf Kinder und an der eigenen Ehefrau schmerzlich erlebt. Sein Gottvertrauen ist aus der Tiefe eigener Leiderfahrung geboren. Das spürt man seinem Lied an. “Mit Sorgen und mit Grämen / und mit selbsteigner Pein / lässt Gott sich gar nichts nehmen, / es muss erbeten sein.”

Solches Gottvertrauen weckt natürlich Widerspruch. Kein Geringerer als Bertolt Brecht hat den Versuch unternommen, in einer Imitation von Paul Gerhardts Sprachform dessen Gottvertrauen durch das Vertrauen des Menschen auf sich selbst zu überbieten. Eine der drei Strophen seines “Lobgesangs” heißt so: “Es kann dir nichts geschehen / Solang du nicht entfliehst / Im Guten wie im Wehen / Den gleichen Himmel siehst / Und Wolken, Luft und Winden / Hast du ja nichts getan / Es wird sich niemand finden / Der dich verstoßen kann.”

Der Glaube an die Unangreifbarkeit des Menschen tritt hier der Erfahrung menschlicher Verletzlichkeit entgegen. Das Bild eines Menschen, der auf Gott nicht angewiesen ist, wird zynisch und mit Bitterkeit dem Vertrauen entgegengestellt, dass allein Gottes Güte unser Leben in Segen verwandelt. Aber noch einmal: Ein oberflächliches Vertrauen ist das nicht. Es ist widrigen Erfahrungen abgerungen.

Doch in seinem Testament dankt Paul Gerhardt Gott “zuvörderst für alle seine Güte und Treue, die er mir von meiner Mutter Leibe an bis auf jetzige Stunde an Leib und Seele und an allem, was er mir gegeben, erwiesen hat.”

 So Gott will und wir leben, werden Sie gemeinsam mit ihren Gemeinden Sommerfeste feiern, Kinder taufen, junge Paare segnen und im Alter verstorbene Menschen zu Grabe tragen. Vielleicht aber wird ihre Gemeinde gemeinsam mit Ihnen auch stürmischer See ausgesetzt sein. Im einen wie im anderen Fall wünsche ich Ihnen, dass in Ihrem Rucksack neben dem MP3-Player mit den neuesten Titeln, neben dem Handy mit den Nummern ihrer Freunde, neben Brot und Wein ein Gesangbuch und eine Bibel ihren Platz haben.

Dass Sie Menschen dabei helfen, Gott anzurufen und seine Barmherzigkeit zu preisen: das ist Ihr Amt. Darin stehen Sie in der Nachfolge Jesu Christi, auf dessen Stimme die christliche Gemeinde hört. Dass wir auf ihn hören, ist die entscheidende Kraftquelle: für uns selbst, für die Gemeinden, für unsere Gesellschaft insgesamt. Aus seinem Wort speist sich alles, was wir mit gutem Grunde die Prägekraft des christlichen Glaubens nennen können. Dieses Wort sollen und wollen wir denen nicht verschweigen, denen es fremd und unbekannt geworden ist. So und nur so erneuert sich die Prägekraft des christlichen Glaubens.

Wie gut, dass Sie nicht alle Lasten selbst schultern müssen. Wie gut, dass Sie von dem wissen, der uns kennt und uns bei unserem Namen ruft. Ihm, dem Herrn wollen wir unsere Lebenswege anvertrauen, denn er wird’s wohl machen.

Amen.