Predigt im Festgottesdienst zur Eröffnung der Haupttagung der Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland im Berliner Dom (Sprüche 12,28)

Wolfgang Huber

I.

Ein Weg ist kein Signal für Stillstand. Er lädt zur Bewegung ein. Wer einen „Fahrweg“ überquert, darf nicht zu lange zögen, wenn er nicht überfahren werden will. Wer an einen „Wegweiser“ gerät, sieht sich zu einer inneren Entscheidung genötigt, die er dann äußerlich in eine gezielte Bewegung umsetzt. Wer einen „Berufsweg“ hinter sich hat, war in mehreren Aufgabenbereichen oder an unterschiedlichen Orten tätig.

Wer dem Bild des Weges vom Alten Testament her nachdenkt, wird rasch auf den Zusammenhang von Weg und Segen stoßen. Abraham zog aus unter der Segensverheißung vielfältiger Nachkommenschaft. Die Wolken- und Feuersäule wies Israel den Weg in die Freiheit. „Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben“ – so heißt das biblische Leitwort für diesen Gottesdienst.

II.

Das Jahresthema 2007 der Männerarbeit der EKD ist dabei in der bemerkenswerten Form wiedergegeben: „Auf dem Weg der Gerechtigkeit ...“ Das Ende des Bibelzitats ist durch drei Punkte ersetzt. Grammatikalisch können diese eigentümlichen Zeichen auf zweifache Weise verstanden werden:

Entweder eröffnen drei Punkte dem Leser bzw. der Leserin einen Raum des Nachdenkens. Sie zeigen ein Staunen oder eine Sprachlosigkeit an. Sollten drei in die Nachdenklichkeit führende Punkte charakteristisch sein für die Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland? Ich kann das am ehesten dann gelten lassen, wenn der Blick sich auf das Tempo in der Weiterentwicklung des Verbandes und auf die intensive Diskussion um die Ausrichtung der Männerarbeit richtet. Die drei Punkte zeigen, dass etwas in Bewegung geraten ist.

Die andere Möglichkeit, drei Punkte zu verstehen, liegt in der Einladung, einen Satz selbständig zu Ende zu führen. Die Auflösung liegt dann sehr nahe „Auf dem Weg der Gerechtigkeit befindet sich die Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland.“ So enthält dieser Satz ein Bekenntnis dazu, wem sich die Männerarbeit verdankt, was ihre Grundsätze sind, und worauf sie sich verpflichtet weiß.

III.

„Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben; aber böser Weg führt zum Tode“ heißt es im Buch der Sprüche. Wo Gerechtigkeit fehlt, nimmt das Todesverhängnis seinen Lauf. Anschaulich wird mir diese Seite Woche für Woche an der Situation in Afrika. Wo die Gerechtigkeit nicht einmal so weit reicht, dass AIDS-Kranke Zugang zu den heute verfügbaren Medikamenten haben, dort öffnet sich ein böser Weg, der zum Tode führt. Wo aber Gerechtigkeit das Verhalten bestimmt, da ist das Leben nicht weit. Da kann Leben gerettet und Beteiligung ermöglicht werden. Da wird dem Ausschluss vom Leben Paroli geboten.

Gerechtigkeit ist aber nicht einfach eine menschliche Errungenschaft. Auch der kluge Satz, Gerechtigkeit sei die Tugend der Institutionen, reicht nicht zu. Die Kraft der Gerechtigkeit hat ihren Ort bei Gott. Denn er achtet uns Menschen ohne Ansehen der Person. Er ruft uns ins Dasein, eine jede und einen jeden als sein Ebenbild. Wann immer uns das Wunder neu geborenen Lebens begegnet, tritt uns diese Gerechtigkeit vor Augen. Sie hat ihren Grund in Gottes schöpferischem Handeln. Sie leitet uns zum Segen. Sie bringt uns in Bewegung. Sie „führet uns auf rechter Straße“ um seines Namens willen. Gottes Gerechtigkeit ist eine befreiende Macht. Sie öffnet Lebensräume und sie schafft Leben.

Die Osterzeit kann diesen Hymnus in vielfältiger Weise variieren. Denn Ostern ist das Fest, das vom Sieg der Gerechtigkeit Gottes kündet; und die Osterzeit ist erfüllt vom Freudengesang über das Geschenk des Lebens, das stärker ist als der Tod.

Gottes Gerechtigkeit führt in die Gemeinschaft. Den Osterjubel kann niemand für sich behalten. Vom ersten Osterruf an – „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden“ – drängt die Osterfreude darauf, sich anderen mitzuteilen. Gerade auch denen gilt sie, die der Osterfreude noch nicht begegnen konnten oder denen ihre Begegnung mit der biblischen Botschaft in Vergessenheit geriet. Heute haben wir es vielfach – keineswegs nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands – mit Menschen zu tun, die nicht nur Gott vergessen haben, sondern die sogar vergessen haben, dass sie ihn vergessen haben. Menschen sind das also, die gar nicht wissen, was ihnen fehlt, wenn Gott in ihrem Leben keine Rolle spielt.

Gestern Abend ist mir einer von ihnen begegnet. Achtzehn Jahre lang sei er, so berichtete er mir, unter den Bedingungen der DDR aufgewachsen. Leicht ließ sich ausrechnen, dass das genau die Hälfte seines Lebens war. Die zweite Hälfte seiner bisher 36 Lebensjahre hat er unter den Bedingungen der Freiheit verbracht. Und trotzdem sagte er mir: „Wie soll ich als Mann von Mitte Dreißig heute noch Zugang zum Glauben finden? Das habe ich verpasst. Die Prägung der ersten achtzehn Jahre ist zu stark.“ Ich widersprach ihm und lud ihn ein, die Gemeinschaft mit anderen Menschen zu wagen, die doch alle, wenn vielleicht auch anders als er, Suchende sind. Doch auf dem Nachhauseweg von dieser eindrücklichen Begegnung fragte ich mich: Wäre das eine Aufgabe für Männerarbeit in unserer Zeit: eine einladende Gemeinschaft zu sein für Männer auf der Suche nach dem Glauben – für Menschen, die zwar über lange Zeit Gott vergessen haben, denen aber doch dämmert, wie wichtig auch für sie sein könnte, was sie vergessen haben?

Wenn in zahlreichen unserer Kirchengemeinden, Werke und Verbände achtzig Prozent des durchaus beeindruckenden Engagements dafür aufgewendet werden, das kirchliche Leben für zwanzig Prozent der Mitglieder zu gestalten, dann scheint mir angesichts des beschriebenen doppelten Vergessens ein Perspektivenwandel an der Zeit zu sein. Denn heute ist es unsere Aufgabe, auf neuen Wegen Menschen die Begegnung mit dem Osterjubel zu ermöglichen und ihnen die Gerechtigkeit Gottes vor Augen zu stellen. Das Zeugnis von Gottes Gerechtigkeit drängt über den engen Kreis der Eingeweihten hinaus in alle Welt. Es macht an herkömmlichen Grenzen nicht Halt, es eilt von Frau zu Mann und von Mann zu Frau.

IV.

Die Berufung auf Gottes Gerechtigkeit führt in das klare Bekenntnis zum Einsatz für das Leben. In unseren Tagen verbindet sich dieses Bekenntnis mit der bedrückenden Einsicht in die Fähigkeit des Menschen, Gottes Schöpfung empfindlichen Schaden zuzufügen. Die Einsicht, dass der globale Klimawandel durch menschliches Handeln verursacht ist, gewinnt von Tag zu Tag mehr an Wahrscheinlichkeit. Die Möglichkeiten für Kirchen, Verbände und Gemeinden, hier in einem prägenden Sinne zu wirken, sind längst noch nicht ausgeschöpft. Vielen ist die Dringlichkeit noch gar nicht bewusst. Doch es will mir nicht einleuchten, dass menschliches Verhalten sich Gottes Verheißung in den Weg stellt, dass „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8, 22) nicht aufhören werden. Die Berufung auf Gottes Gerechtigkeit bedeutet, diese Verheißung Gottes in Wort zu Tat zu bezeugen.

Denn die, die „auf dem Weg der Gerechtigkeit“ unterwegs sind, richten ihren Blick auch auf das Verhältnis der Generationen zueinander. Es sind gleichsam die Bäume am Rande des Weges, die hier unmittelbare Anschauung vermitteln können. So weiß jeder Forstwirt, dass Bäume, die er heute fällt, von den Großeltern gepflanzt wurden, und Bäume, die er selbst heute pflanzt, für die Enkel bestimmt sind. Die Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit unseres Handelns, für die Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens, ist seit Jahrhunderten in der Forst- wie in der Landwirtschaft fest verankert. Für diese Bereiche wurde auch zuerst der Gedanke der Nachhaltigkeit formuliert; auf einen sächsischen Forstwirt des 18. Jahrhunderts geht das Wort „Nachhaltigkeit“ ursprünglich zurück. Heute müssen wir uns dieses Wissen oft mühsam wieder aneignen; doch der „Weg der Gerechtigkeit“ führt in die direkte Begegnung mit diesem Wissen.

Zu solchen Überlegungen gehört auch die besondere Verantwortung für die zunehmende Zahl von Älteren und Alten in unserer Gesellschaft und ebenso auch das Eintreten für die Möglichkeit der Jüngeren, an der Gestaltung unserer Gesellschaft beteiligt zu sein.

V.

Denn auf dem „Weg der Gerechtigkeit“ unterwegs zu sein, bedeutet, dass allen Menschen Anerkennung und Würde zukommen und dass dies gegen alle Widerstände immer wieder durchgesetzt wird. Zur Gerechtigkeit gehört es, Armut zu bekämpfen und Reichtum in die Pflicht zu nehmen. In Gottes Schöpfung hat jeder Mensch um seiner Würde willen das Recht, seine Gaben zu entfalten, mit ihrer Hilfe sein Leben zu gestalten und seinen Beitrag zum gemeinsamen Besten zu leisten.

Einem solchen Bild von der Person entspricht eine menschliche Freiheit, die mehr ist nur individuelle Selbstbestimmung. Das hohe Gut der Freiheit bestimmt erst dann wirklich unser Leben, wenn wir bedenken, dass wir für die Wahrnehmung unserer Freiheit auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Aus diesem Grund aber ist jeder Mensch zugleich dazu verpflichtet, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Verantwortung wahrzunehmen. Zwar ist jedem Menschen die Fähigkeit angeboren, um des eigenen Überlebens willen an den Eigennutz zu denken. Doch gemeinsames Leben entsteht erst, wenn sich dieser Eigennutz mit der Bereitschaft zur Solidarität verbindet. Deshalb ist es auch verkürzend, wenn in vielen politischen Debatten der Begriff der Verantwortung nur noch in der verengten Betrachtung als “Eigenverantwortung” in den Blick tritt. Es ist vielmehr höchste Zeit, Eigenverantwortung und Verantwortung für andere wieder in ihrer Zusammengehörigkeit zu sehen. Der Berufung auf „Gottes Gerechtigkeit“ entspricht es, einzutreten für eine Freiheit in Verantwortung vor Gott und den Menschen.

VI.

„Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben.“ Die Gefährten auf diesem Weg sind Zeugen der österlichen Hoffnung in Wort und Tat. Von Gott erbitten sie Weisung und Orientierung. Im Lichte österlicher Gewissheit hat Paul Gerhardt das wohl bekannteste Lied vom Weg gedichtet. „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt / der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt.“ Intensiv haben sich Generationen die dichten Sprachbilder dieses Liedes wie von selbst eingeprägt: “Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.” Sprachliche Meisterschaft zeigt sich in den beiden Gruppen von jeweils drei Substantiven – Wolken, Luft und Winde; Wege, Lauf und Bahn. Aber die künstlerische Leichtigkeit ist kein Selbstzweck. Sie vermittelt Vertrauen zu Gottes Güte. Am Ende dieses Vertrauens stehen nicht drei Punkte; an seinem Ende steht die Gewissheit, dass Gottes Gerechtigkeit sich in, mit und unter all unserem Tun und Handeln ereignet. Sie bringt uns in Bewegung. Sie führt uns auf den Weg des Lebens.

Amen.