Predigt im Festgottesdienst zum 125jährigen Jubiläum des Schwesternverbandes des Deutschen Roten Kreuzes im Berliner Dom

Wolfgang Huber

Apostelgeschichte 16,9-10

I.

„Tutti fratelli!“ erklang als Ruf zur Geburtsstunde des Roten Kreuzes. „Tutti fratelli! Alle sind Brüder“ riefen die Frauen von Castiglione einander zu, als sie auf dem Schlachtfeld bei Solferino am Johannistag 1859 die verwundeten Soldaten versorgten. „Alle sind Brüder!“ – dies war der Ruf spontaner Hilfsbereitschaft und unparteilicher Zuwendung. Hunderttausende sind seitdem diesem Ruf gefolgt und sind unter dem Zeichen des Roten Kreuzes wie des Roten Halbmonds durch die Jahrzehnte tätig gewesen. Jede und jeder einzelne aus der Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes steht dafür, dass „Menschlichkeit ... lebt“.

Heute, am Festtag zum 125jährigen Jubiläum des Verbandes der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz, sind Sie hier nach Berlin gekommen – vor allem Frauen, Rotkreuzschwestern aus allen Ecken der Republik. In diesen Festtagen Ihres Verbandes könnte also der Ruf erklingen: „Tutte sorelle!“ – „Alle sind Schwestern!“ Im Lob und im Dank vor Gott beginnen wir diese Festtage.

II.

Wer sich der Rotkreuzbewegung angeschlossen hat, folgt dem Ruf der Bedürftigen und Kranken; einem Ruf, den Henri Dunant als erster in solcher Dringlichkeit vernahm und mit solcher Intensität nachging, dass daraus ein weltumspannendes Netz der Menschlichkeit geworden ist. Wer sich an der Rotkreuzbewegung beteiligt, stellt sich diesem Ruf in professioneller Hilfsbereitschaft.

Von welch grundlegender Wichtigkeit es sein kann, wenn ein Mensch einem Ruf der Hilfe folgt, das schildert im Neuen Testament eine nur scheinbar beiläufige Begebenheit. Sie findet sich in der Apostelgeschichte des Lukas.

Dieses biblische Buch schildert die Anfänge der Christenheit. Es erzählt insbesondere vom Engagement des Apostels Paulus. Drei Reisen unternahm er: Die erste führte ihn in die heutige Türkei – und zwar in den südlichen Teil ihrer Mittelmeerküste. Dort, wo Christen heute um ihre Religionsfreiheit bangen müssen, hörten damals schon Menschen die christliche Botschaft der Freiheit; Gemeinden entstanden und bildeten sozusagen die Fußstapfen des Apostels. Die zweite Reise führte Paulus zusammen mit seinen Mitarbeiter mitten durch das Gebiet der heutigen Türkei bis an die Westküste des Landes. Hier schien sein Weg zunächst an ein Ende gekommen zu sein: vor ihm lag das Meer. Da heißt es im 16. Kapitel der Apostelgeschichte:

Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.

Es sind vier Elemente, die diese Erzählung in ihrer erstaunlichen Kürze miteinander verbindet: Eine Erscheinung bei Nacht. Ein Hilferuf. Ein Entschluss, der Gewissheit schafft. Ein Handeln aus Berufung. Es sind vier Elemente eines Handelns, das sich von der Sehnsucht der Menschen nach Heil anrühren lässt. Dieses Handeln wagt, dem Ruf der Not zu folgen. Es lässt sich hineinnehmen in Gottes Segenshandeln mit uns Menschen.

III.

Die Begegnung mit jener „Erscheinung“ überrascht Paulus. So wie viele Menschen von Begegnungen überrascht sind. Darunter sind, Gott sei Dank, nicht nur unangenehme Begegnungen. Überraschend sind vielmehr vor allem die Situationen, in denen Menschen Hilfe brauchen und Hilfe empfangen, in denen Menschen Hilfe gewähren und damit auf Dankbarkeit stoßen. Obwohl davon in unserer Erzählung nicht ausdrücklich die Rede ist, denkt man unwillkürlich, der Mann, der Paulus entgegentritt, sei ein Engel.

Engel sind Boten Gottes. Sie überbringen seinen Ruf. Sie öffnen uns den Blick für eine andere, tiefere Wirklichkeit unseres Lebens. Kein Engel kündigt sich im Vorhinein formell an. Er kommt unangemeldet und ist nicht leicht zu erkennen. Aus dieser Undeutlichkeit entsteht Klarheit; aus dieser Unsicherheit wächst Ermutigung.

Engel sind Boten Gottes. Die Berufung auf sie ersetzt den Glauben an Gott nicht. Dazu, das zu betonen, gibt es gute Gründe. Früher gab es Menschen, die glaubten zwar an Gott, zweifelten aber daran, ob es Engel gebe. Heute hat sich das auf merkwürdige Weise umgekehrt. In Deutschland jedenfalls glauben mehr Menschen an Engel als an Gott. So sagen es Meinungsumfragen. Das verblüfft zunächst. Aber bei einigem Nachdenken kann man erklären, warum. Engel, so denken die Menschen, verlangen nichts. Sie meinen es gut mit uns und gewähren Schutz. Bei ihnen kann man himmlischen Schutz finden, ohne mit göttlichen Forderungen konfrontiert zu sein. Dem Gebot Gottes kann man sich entziehen, dem Bekenntnis zu Gott kann man ausweichen – und trotzdem einen Schutzengel in Anspruch nehmen.

Biblisch ist das nicht. Der Engel aus Mazedonien erwartet etwas: „Komm herüber und hilf uns!“ Er macht sich zum Anwalt der Menschen, die Hilfe und Beistand brauchen. Er ist der Bote Gottes – und Gott ist ein Freund der Menschen, ein Freund des Lebens, ein Anwalt der Bedrückten. Wer mit Engeln rechnet, muss auf Überraschungen gefasst sein.

Deshalb reicht es nicht, Engel auf bloße Mitmenschlichkeit zu reduzieren. Dass jemand einem anderen zum „Engel“ geworden ist, wird oft in Situationen gesagt, in denen die Wirklichkeit Gottes selbst durch ein alltägliches Handeln oder nur durch einen Ratschlag hindurch aufscheint. Solche menschlichen Engel sind Wegweiser zu Gott. Sie lassen nach Gott fragen, sie geben einer inneren Sehnsucht Raum. Sie wecken die Bitte um Gottes Schutz und Geleit.

IV.

An Paulus ergeht ein Ruf: „Komm herüber und hilf uns!“ Wie oft verhallt dieser Ruf ungehört. Wie oft droht er unterzugehen im Alltag professioneller Geschäftigkeit. Wie oft muss er erneuert werden! Der Ruf kommt über das Meer. Ein solcher Ruf erreicht auch uns.  Mit dem Mann aus Mazedonien ruft ein ganzer Kontinent um Hilfe – so wie heute an uns der Ruf des afrikanischen Kontinents ergeht, auf dem die Kirchen und die Rotkreuzbewegung mit zahlreichen Projekten tätig sind. Doch unsere Aufmerksamkeit für unsere afrikanischen Nachbarn muss noch weit stärker werden.

Das Hören auf den Ruf des anderen ist der Beginn der Mitmenschlichkeit. Niemand kann sich dem anderen zuwenden, so lange er ihn überhört, übersieht oder übergeht. In den berufsethischen Grundsätzen der Schwesternschaften des Deutschen Roten Kreuzes steht deshalb völlig zu Recht das Streben danach voran, „Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen.“

Die Würde des Menschen ist für Christen der entscheidende Bezugspunkt allen Handelns. Wie das gemeint ist, will ich an einer kleinen Begebenheit verdeutlichen, die mich nicht mehr loslässt, seit ich sie zuerst hörte. Sie handelt von einem Mann, der im Pariser Gare du Nord eine Obdachlosenzeitung verkauft. Ein Reporter kommt des Weges und sagt: "Nicht wahr, diese Aufgabe gibt Ihnen die Würde zurück." Der Mann schüttelt den Kopf, lächelt und sagt: "Meine Würde? Die habe ich nie verloren."

Die Schilderung dieser kurzen Begebenheit am Gare du Nord fasst die beiden entscheidenden Gegenpositionen für den Umgang mit der Würde des Menschen in eindrucksvoller Kürze zusammen. Während der Reporter die Menschenwürde wie eine Ausstattung ansieht, die verloren gehen und wieder erworben werden kann, hat der Obdachlose in all seiner Armut den Sinn dafür bewahrt, dass niemand ihm die Menschenwürde rauben kann. Während der eine nach einer Würde fragt, die der Mensch durch menschliche Leistung erwirbt, weiß der Obdachlose, der Zeitungen verkauft, darum, dass seine Würde nicht verloren gehen kann. Wenn Gott einen Menschen ins Leben ruft, schenkt er ihm eine unzerstörbare Würde. Wo immer ein Mensch um Hilfe fleht und der andere Hilfe gewährt, ist die Würde das verbindende Band der Menschheit.

V.

Nachdem Paulus den Ruf gehört hat, so heißt es lapidar, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte. Wer sich dem Ruf stellt, der von Gott ausgeht und uns an den hilfsbedürftigen Nächsten weist, der erhält Gewissheit. Ohne solche Gewissheit kann unser Leben nicht gelingen. Das gilt auch in unserer Zeit.

Gewissheiten gelten heute freilich eher als verdächtig. Die einen übertreiben es damit, indem sie ihre Gewissheiten mit Gewalt durchzusetzen suchen. Und die anderen wollen nichts damit zu tun haben, weil Gewissheit nicht zu der Art von Toleranz passt, die unsere multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft von uns verlangt. Fundamentalismus hier – multikulturelle Gleichgültigkeit dort: gibt es wirklich nichts anderes? Die Zeit persönlicher Gewissheit und des Muts zu persönlicher Stellungnahme ist offenkundig noch nicht vorbei.  Sehr konsequent formulieren die Leitsätze der Schwesternschaften: „Gegen Inhumanität ist nicht Neutralität, sondern Stellungnahme erforderlich.“ Nötig ist eine überzeugte Toleranz, eine Toleranz, die ihre Gewissheit nicht verleugnet, sondern die ihren Grund sucht und sie beim anderen einfordert. Christen wissen, dass jeder Mensch zum Bild Gottes erschaffen ist. Er wird von Gott – all seinen Verfehlungen zum Trotz – geliebt. In diesem Wissen gründet jede Zuwendung zum Nächsten. In dieser Gewissheit des Glaubens können Christen es wagen, dem Ruf der Not zu folgen. Ihr Respekt vor anderen Menschen, Kulturen und Religionen gründet in dieser christlichen Sichtweise. Sie fußt nicht auf religiöser Indifferenz, sondern gründet in der Gewissheit des Glaubens. Denn tolerant kann nur sein, wer in einer eigenen Glaubensgewissheit beheimatet ist.

VI.

Das Wagnis, dem Ruf der Not zu folgen, führt zur Gewissheit. Aber es führt zugleich auf ungeplante Wege und eröffnet ungeahnte Perspektiven. Vor Paulus und seinen Mitarbeitern erstreckt sich ein weites Aufgabenfeld. So wie der Ruf der Not nie verhallt, solange nicht Gottes Reich seine Schöpfung gänzlich umfangen und durchdrungen hat, so ist die Aufgabe, Gottes Verheißungen zu bezeugen, nie am Ende.

Der Schritt von Paulus hinüber über den Bosporus markiert einen kulturgeschichtlichen Einschnitt: Erstmals breitet sich die Botschaft Jesu Christi auf europäischem Boden aus. Die erste europäische Christin ist eine Purpurhändlerin aus Thyatira namens Lydia. Morgen- und Abendland sind durch die Verkündigung von Gottes Wort miteinander verbunden. Orte, an denen heute Brücken gebaut und Tunnels geplant werden, wurden zu allererst durch den Ruf der Hilfe miteinander verbunden. Dieser Ruf wird auch heute laut; und er wird gehört. Das verbindet die Initiativen von Rotem Kreuz, Caritas und Diakonie.

Der christliche Glaube hat einen Weg gebahnt, den die Rotkreuzbewegung ihrerseits in umgekehrter Richtung gegangen ist. Der christliche Glaube nahm im Nahen Osten seinen Anfang. Dann kam er nach Europa – und von hier aus in die ganze Welt. Das Rote Kreuz nahm in Europa seinen Anfang. In Solferino wurde der Ruf zur Hilfe gehört. Dann nahm er seinen Lauf – rund um den ganzen Erdball. „Tutti fratelli! Tutte sorelle!“ - dieser Geist geschwisterlicher Zusammengehörigkeit prägt das Engagement des Roten Kreuzes ebenso wie den Geist der christlichen Kirchen. Ihnen, den Profis der Hilfsbereitschaft, wünsche ich Gottes reichen Segen in all Ihrem Tun. Immer wieder werden Sie auf den Ruf hören, nicht nur bei Nacht, sondern auch bei Tag: „Komm herüber und hilf uns!“

Amen.