Predigt im Festgottesdienst zum 850jährigen Jubiläum der Mark Brandenburg im Brandenburger Dom

Wolfgang Huber

Matthäus 13, 24-30

Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. So, liebe Festgemeinde, ermahnt uns die Bibel im fünften Buch Mose. Und sie plädiert für einen guten Schuss ungebremster Neugier: Frage deinen Vater – und ich ergänze: Damit du wirklich erfährst, was los war: frage auch deine Mutter - , die werden dir's verkünden, deine Ältesten, die werden dir's sagen.

Erinnere dich an deine Kindheit, als du noch barfuß unterwegs warst. Erinnere dich an die Unendlichkeit eines Sommertages, so wie sie wohl nur von Kindern empfunden werden kann. Und vergiss nicht die Tanten und Onkel, die Großeltern und die Nachbarn. Steig mit hinab in den Brunnen der Vergangenheit, bis wir auf das klare Wasser stoßen, das über den Kies fließt.

Frage nach, unter welchem Stern deine Geburt stand und welche Lieder dir gesungen wurden, als du noch neu warst hier auf Erden. Erinnere dich an die Farbe des Sees, an den Sonnenuntergang über dem Maisfeld und an den Tag, an dem du zum ersten Mal einen Angehörigen zu Grabe trugst. Und denke an die Kinder und Enkel, die leiblichen oder an die, für die Du gerne da sein willst. Welche Lieder willst du ihnen singen? Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht.

Für solches Gedenken haben unsere Vorfahren auf der Dominsel ein Erinnerungszeichen in die Havellandschaft gesetzt und Stein auf Stein geschichtet. Einen lebendigen Erinnerungsraum haben sie uns anvertraut, an dem wir immer wieder fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen.

So zu fragen, ist unumgänglich. Denn wir erfinden uns nicht selbst; wir bauen unser Leben nicht von innen nach außen. Wir stehen auf den Schultern anderer. Und unser Leben wird von außen nach innen gebaut. Was nicht eine äußere Gestalt annimmt, nicht Form, nicht Figur oder Haus wird, bleibt flüchtig und ist vom Untergang bedroht. Der Geist, der Zeit und Ort nicht findet, ist wie eine Musik, die Partitur bleibt, ohne aufgeführt zu werden. Wie die Generationen vor uns wollen auch wir unsere Lieder singen und unsere Musik aufführen. Wie unsere Vorfahren wollen auch wir in der Woche hart arbeiten, aber hoffentlich auch weiterhin an den Sonn-und Feiertagen ruhen und feiern. Heute feiern, singen und beten wir im Brandenburger Dom.

Wir feiern das 850jährige Jubiläum der Mark Brandenburg. Wir stellen unser dankbares Erinnern unter die wunderbare Verheißung des Evangeliums, dass Gott den Weizen auch inmitten von Unkraut bewahrt.

Beides gibt es in ausreichender Fülle in unserer Welt und auch im Brandenburgischen: Unkraut und Weizen. Mal ist das gemischte Feld dezentral konzentriert, mal ballt es sich in Wachstumskernen ganz besonders dicht. Und hin und wieder schießt alles dort ins Kraut, wo wir es nicht haben wollen. Die Mischung von Unkraut und Weizen unterliegt offensichtlich keinem demografischen Wandel. Die Symbiose zwischen beidem scheint unauflöslich zu sein. Sie bahnt sich in jeder Generation ihren Weg. Und sie fordert immer wieder neu zum Handeln heraus.

Aber wie sieht das richtige Handeln aus? Der rabiate Weg, das Unkraut mit Stumpf und Stiel auszurotten, ist verwehrt. Denn damit würde man – so jedenfalls ist die landwirtschaftliche Einschätzung Jesu – den Weizen mit ausreißen. Beides muss zusammen wachsen, ob man das will oder nicht.

Schon die frühen Christen sahen darin ein Sinnbild für die christliche Kirche. Auch in ihr gibt es Unkraut unter dem Weizen. Auch in ihr ist nicht alles Gold, was glänzt. Ein „gemischter Körper“ sei sie, so sagte der große Kirchenvater Augustin und spielte damit auf unser Gleichnis an; auf die Scheidung zwischen Unkraut und Weizen müsse auch die Kirche warten bis ans Ende der Zeit.

Darf man dieses Gleichnis auch auf die Weltgeschichte im Großen oder auf die Geschichte der Mark Brandenburg  im etwas Kleineren anwenden? Das 850jährige Jubiläum, das wir heute begehen, ist mit den Ereignissen des 11. Juni 1157 verbunden. An diesem Tag gelang es Albrecht dem Bären, nach langen Kämpfen, ausgiebiger Belagerung und blutigen Auseinandersetzungen die Brennaburg wieder den Händen der Slaven zu entringen. Was mehr als zwei Jahrhunderte vorher unter Otto I. begonnen hatte, konnte nun wieder aufgenommen und fortgeführt werden. Das Bistum Brandenburg wurde wieder errichtet; hier in Brandenburg wurden Alt- und Neustadt gegründet. Das Domstift wurde mit Prämonstratensern besetzt. Dieser Seelsorgeorden begleitete die Siedler in den Missionsgebieten des Reiches. Das machte die Mission glaubhafter.

Trotzdem müssen wir eingestehen, dass die Mark Brandenburg nicht nur mit dem Spaten missioniert wurde. Das Antlitz des Christentums war nicht nur von Zuwendung und Nächstenliebe geprägt; insbesondere während der Ostexpansion des 10. Jahrhunderts trug es den Harnisch einer Besatzerreligion und scheiterte kläglich. Es war wie in dem Gleichnis: Die Knechte des Hausherrn meinen, dass Unkraut immer vom Feind in der Nacht gesät wird und am Tag klar auszumachen ist. Sie sind ungeduldig und wollen handeln. Dabei reißen sie den Weizen mit aus. Das kann verheerende Folgen haben.

Stellen wir uns nur für einen Augenblick vor, Jesus hätte den Zöllner Matthäus, statt ihn zum Jünger zu berufen, verdammt, weil dieser sich auf Kosten des einfachen Volkes persönlich bereichert hatte. Malen wir uns aus, er hätte mit Petrus gebrochen, weil der ihn dreimal verleugnete. Denken wir einen Augenblick, Jesus hätte in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn davon erzählt, wie der Vater den missratenen Sohn um der Familienehre willen ausgestoßen hat. Hätte Jesus sich so verhalten und so geredet, wäre die christliche Mission nie in Brandenburg angekommen; wir würden heute nicht auf tausend Jahre Christentum in Brandenburg zurückblicken. Aber es kam anders: Jesus hat Matthäus berufen; er hat Petrus nicht verworfen; er hat unsere Welt durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn verwandelt.

Gott traut uns Menschen zu, dass wir uns ändern können, dass wir neu beginnen. Aus dem geldgierigen Zöllner wird ein Jünger Jesu; aus dem strauchelnden Petrus wird ein Fels;  der verlorene Sohn ist beim Vater willkommen. Auch das Unkraut braucht nicht für alle Zeit Unkraut zu bleiben. Vielleicht erfüllt es doch noch eine so gute Funktion wie die Kornblumen am Weizenfeld, in denen wir alle weit mehr als nur ein Unkraut sehen.

Man braucht nur die Jahrhunderte an sich vorbeiziehen zu lassen, um zu wissen, wie sehr wir auf Gottes gnädigen Blick angewiesen sind. In Brandenburg weiß man zu erzählen vom Dreißigjährigen Krieg, der als Religionskrieg begann und als Eroberungskrieg endete. In der heute religiös gemäßigten Zone der Mark weiß man, wohin es führt, wenn die Landsknechte kommen, um auszureißen und zu verbrennen.

Die Menschen können sich auch noch allzu gut an den Wahn Hitlers erinnern, der befahl, auszureißen und zu vernichten. Ravensbrück, Sachsenhausen und Brandenburg-Göhren erinnern uns.

Es gibt noch genügend Zeitzeugen, die erlebt haben, wie die Stalinbilder zu neuen Ikonen wurden, wie Todesstreifen in den märkischen Sand eingegraben wurden und wie die Staatssicherheit Menschen erniedrigte. In Reih und Glied sollte der Weizen auf den LPG-Feldern wachsen. Die konterrevolutionären Elemente wurden bekämpft und ausgemerzt. Schließlich lag ein giftiger Hauch von DDT über dem gesamten Acker. In den Kirchen und um sie herum wuchs der Widerstand gegen das Unrechtsregime. Und die Gebete um einen grundstürzenden Wandel wurden erhöht, über alles Bitten und Verstehen hinaus.

Gott ließ den Weizen wachsen und schenkte unserem Land einen Neubeginn. Dass dieser Neubeginn Erfolg hatte, kann niemand leugnen, der durch unser schönes Brandenburger Land fährt. Sein Boden mag hier oder da karg sein, schlecht ist er nicht. Und die Brandenburgerinnen und Brandenburger sind tapfere und fleißige Leute. Was wir so kurz hintereinander am Deich der Oder und der Elbe erlebt haben, zeigt, wozu dieses Land fähig ist. Es kann zusammenstehen, wenn es darauf ankommt.

Aber auch das muss man einmal sagen: Die flotten und pfiffigen Landestöchter sehnen sich nach einer Charme-Offensive der Brandenburger Männer. Die müssen aufwachen, sonst sind die hübschen Mädchen weg. Und dann wird über den Frauenmangel geklagt. Unsere Kirche ist gern bereit, den jungen Männern zu helfen. Gern richten wir im ganzen Land Brandenburg Traumhochzeiten aus. Mit den Brautpaaren bitten wir um Gottes Segen. Unsere Kindergärten und Schulen haben nicht den schlechtesten Ruf; Diakonie und Seelsorge sind da, wenn Lebensgewissheiten zersplittern. Und andere tun das Ihre. Gemeinsam stehen wir auf dem Deich, bereit anzupacken, damit auch zukünftig Unkraut und Weizen aufwachsen können. Wir vertrauen mit großer Festigkeit darauf, dass Gott es gut mit uns meint. Wir vertrauen darauf, dass erwachsene Menschen mit Gottes Hilfe neu beginnen können. Deshalb danken wir Gott dafür, dass er uns neu beginnen lässt.

Zwischen dem Weizen und dem Unkraut zu unterscheiden, kann wichtig sein. Aber über den einen den Stab zu brechen und nur die anderen zu akzeptieren, ist kein Weg. Es geht vielmehr darum, dass wir uns zu aufrichtigen Absichten durchringen. Es geht um gute Absichten für die Zukunft. Christen nehmen solche guten Absichten ins Gebet. Dadurch verwandeln sie sich selbst. Sie wenden sich ab vom Unrecht und lassen die Gleichgültigkeit hinter sich. Gott ist für aufrichtige Absichten ansprechbar. Er legt uns nicht ein für allemal darauf fest, ob wir Weizen oder Unkraut sind. Er fesselt uns auch nicht an die dunklen Seiten unserer Geschichte. Er hilft uns beten. Wer betet, erlernt das Wünschen, er wächst in die Gabe des Zorns gegen das Unrecht, er verliert seine Gleichgültigkeit. Wer betet, weiß sich der Welt in Gottes Namen verantwortlich.

Das haben wir im Sinn, wenn wir heute die Zukunft Brandenburgs ins Gebet nehmen. Wir wünschen für dieses Land, dass es stets genug Menschen gibt, die für es beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten. Sie sind bereit, das Ihre für die Gerechtigkeit zu tun. Aber sie warten auf Gottes Zukunft und erwarten vom eigenen Unkrautjäten nicht das Heil.

Wir stehen auf den Schultern derer, die vor uns waren. Für die Zukunft dieses Landes setzen wir uns nach Kräften ein. Wir tun es nach bestem Wissen und Gewissen. Aber das Ziel liegt nicht in unserer Hand, es liegt bei Gott.

Amen.