Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, Heiliggeistkirche, Heidelberg (Jesaja 43, 1-7)

Wolfgang Huber

I.
Ein Urlaubsreisender hatte sich vorgenommen, während seiner Sommerreise in einem Kloster Station zu machen. Freundlich wurde er aufgenommen. Als Schlafquartier bot man ihm eine freie Mönchszelle an. Darin standen ein Bett und ein Stuhl. Noch in der Tür stehend  fragte er den Mönch, der ihn begleitete, voller Erstaunen: Und wo sind Ihre Möbel? – Ja, wo sind denn Ihre? erwiderte der. Verwirrt antwortete der Tourist: Ich bin doch bloß auf der Durchreise. Der Mönch lächelte: Wir doch auch.

Jetzt ist die Zeit der Durchreisenden. Hier um die Heiliggeistkirche gilt das zwar für das ganze Jahr. Aber von der nächsten Woche an gilt es auch für die, die hier wohnen. Die Menschen machen sich auf, um in die Ferien zu fahren. In manchen Bundesländern werden dazu noch die letzten Tage bis zum Sommerurlaub gezählt; in anderen richten sich die Gedanken bereits wieder voraus auf die Zeit, die den Sommerferien folgt.

Die Ferienzeit ist von Abwechslungen voll. Aber sie konzentriert uns zugleich auf die elementaren Lebensvollzüge. Was brauchen Sie im Urlaub? wurden Passanten von einem Radioreporter gefragt. Die Antworten waren von erstaunlicher Schlichtheit: ein Buch, sagte die eine. Einfach nur Ruhe, sagte ein anderer. Es scheint, als werde durch das Abstreifen der vielen Wichtigkeiten des Alltags der Blick für das Wesentliche frei: ein gastfreies Haus, ein Bett, ein Stuhl, eine Begegnung mit Tiefgang. Die Urlaubszeit richtet unseren Blick auf die Straße unseres Lebens. Oft gehen wir einfach auf ihr weiter, ohne darüber nachzudenken, wohin sie führt. Wenn wir Zeit haben, Abstand zu nehmen, fragen wir uns: Ist es gar keine Straße? Trittst du bei allem hektischen Vorwärtslaufen in Wahrheit auf der Stelle? Bist du denn nur ein Hamster im Hamsterrad? Und gibt es für dein Leben auch einen Weg, der weiterführt? Wohin willst du? Wohin ruft dich Gott?


II.
Der Mensch ist auf der Durchreise. Das Volk Israel, dem wir das Alte Testament verdanken, hat diese Erfahrung auf eine alles andere als touristische Weise gemacht. Hunger trieb die zwölf Stämme Israel nach Ägypten in die Sklaverei. Politische Fremdherrschaft trieb sie Jahrhunderte später nach Babylon ins Exil. Nicht nur um die Reise eines einzelnen Menschen geht es, sondern um die Reise eines ganzen Volkes. Im Buch des Propheten Jesaja finden wir eine Anrede Gottes an die, die auf der Reise sind und nicht sicher wissen, wo sie hingehören.

Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner Statt, weil du in meinen Augen so wertgeachtet und auch herrlich bist und weil ich dich liebhabe. Ich gebe Menschen an deiner Statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.

Was für ein Bekenntnis! Gott sagt seine Gegenwart zu. Gott verspricht sich dem Volk, das sich eher als gottverlassen vorkommt. Fern der Heimat fristet es sein Dasein im Exil; die Sorge vor den neuen Herren in Babylon droht die Sehnsucht nach Gott zu überlagern; die Gebete zu dem Gott, zu dem man im Tempel von Jerusalem Zuflucht nahm, verstummen. In diese Situation ergeht Gottes Wort: Du bist mein! Gott bekennt sich zu seinem Volk. Er geht mit ihm. Israel wird darin vergewissert, dass Gott mit ihm unterwegs ist: es bekommt keinen Talisman ins Handgepäck gelegt; doch Gottes Zuspruch erstrahlt wie ein Regenbogen über dem Weg seines Volkes.


III.
Es liegt deshalb nahe, dieses Prophetenwort an dem Sonntag zu bedenken, der wie kein anderer im Kirchenjahr die Taufe eines Christen in den Mittelpunkt rückt. In der christlichen Taufe vertrauen wir einen Menschen Gottes Gnade an in der Gewissheit, dass Gott sich zu diesem Menschen bekehrt. Du hast zu deinem Kind und Erben, mein lieber Vater, mich erklärt ... haben wir eben vor der Predigt gesungen. Wir wissen: Der Lebensweg eines Menschen ist vom Moment der Taufe an unwiderruflich mit Gott verbunden; nichts kann ihn scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

In diesem Gottesdienst konnten wir das erleben, als wir Justus und Anna Elisabeth Post tauften. Über die Taufe brauchen wir nicht theoretisch nachzudenken, wir haben sie praktisch vollzogen. Dem Auftrag Jesu gemäß haben wir das getan, wie wir seiner Einsetzung gemäß nachher das Herrenmahl feiern und wie wir jetzt auf sein Wort hören. Und dabei dürfen wir gewiss sein: Wo immer das geschieht, dass das Evangelium verkündet, im Namen des dreieinigen Gottes getauft und das Abendmahl der Einsetzung durch Jesus Christus gemäß gefeiert wird, wo immer Menschen die Gnade Gottes zur Geltung kommen lassen und der Liebe zum Nächsten Raum geben, dort ist Kirche. Ja, nicht nur kirchliche Gemeinschaft ist da, sondern Kirche. Auch nach dem vatikanischen Dokument aus der vergangenen Woche können wir deshalb als evangelische Kirche gar nichts Besseres tun, als auf diese Weise Kirche im eigentlichen Sinn zu sein.

Kirche ist da, wo Gottes Zusage einen Menschen erreicht: du bist mein! Kirche ist da, wo in der Taufe Gottes Liebe bezeugt wird, ungeteilt und ohne jeden Vorbehalt. In der Taufe, die wir gerade gefeiert haben, wurden wir alle daran erinnert, dass Gottes Liebe jeder und jedem von uns zugewandt ist. Sie ist eine Wegzehrung, die wir während unserer ganzen Lebensreise, während der lebenslangen Reisezeit dringend brauchen.


IV.
Jesaja führt uns darum zunächst ganz an den Beginn der Reise eines jeden Menschen, er erinnert an den Moment des Entstehens unseres Lebens. Es spricht der Herr, der dich geschaffen hat ... und dich gemacht hat. Jesaja erinnert uns an eine Wahrheit, die anche in unserer Zeit verdunkeln, weil sie den Schöpfungsglauben wie eine wissenschaftliche Welterklärung verstehen und umgekehrt die Einsichten der Evolutionstheorie zu einem Glaubensartikel machen. Dabei ist das eine so falsch wie das andere. Gott ist nicht eine berechenbare Weltursache. Und wer an die Wissenschaft glaubt, statt sich auf ihre kritische Prüfung einzulassen, macht die Wissenschaft zur Ideologie. Alles, was wir über die Anfänge der Welt und des Lebens wissen können, braucht uns nicht daran zu hindern, unseren Dank für das Leben vor Gott zu bringen, den Anfänger und Vollender unserer Lebensreise und der ganzen Welt.

Es spricht der Herr, der dich geschaffen hat ... und dich gemacht hat. Wir staunen heute darüber, was die Kunst der Medizin im Blick auf den Anfang des Lebens alles kann. Galt es noch vor wenigen Jahrzehnten als nahezu unmöglich, einem allzu früh geborenen Kind das Leben zu retten, so wurde seitdem diese Grenze mit Hilfe der medizinischen Kunst immer weiter nach vorne verlegt. Auch die erweiterten Möglichkeiten der Empfängnis außerhalb des Mutterleibes können rasch zu dem Trugschluss verleiten, dass der Beginn des menschlichen Lebens unter die Überschriften des Machens und Gestaltens zu stehen kommt. Aber so ist es nicht. Wie viel ärztliche Kunst einem einzelnen Leben auch immer zugewandt worden ist oder wie natürlich es auch immer zur Welt gekommen sein mag - im einen wie im andern Fall bleibt es ein Geschenk Gottes. All unserem Machen und Gestalten gegenüber bleibt es unverfügbar wie jeder kommende Tag unseres Lebens, über den auch keiner von uns verfügt. Gott ist es, der uns geschaffen und gemacht hat.

Was für jedes einzelne Leben gilt, gilt auch für unsere ganze Welt. Auch ihrer wollen wir uns bemächtigen, mit allen Mitteln, die Wissenschaft und Technik uns dafür zur Verfügung stellen. Aber sie bleibt uns entzogen, weil wir niemals alle Auswirkungen unseres Handelns übersehen und unter Kontrolle halten können. Gegenwärtig erleben wir das beispielhaft und mit einer besonderen Dramatik am Klimawandel auf unserer Erde. Allmählich wird uns klar: Niemand kann ausschließen, dass sich dieser Klimawandel zu einer Klimakatastrophe auswächst. Niemand kann sich darauf herausreden, das sei ohnehin nur ein natürlicher Vorgang, an dem niemand etwas ändern kann. Wir alle müssen uns vielmehr fragen, was wir selbst dazu beitragen können, um die globale Erwärmung mindestens zu begrenzen.

Unsere Antwort auf diese Entwicklung kann aber nicht in einer Fortschreibung des Machbarkeitswahn bestehen. Sie hat Gottes Bekenntnis zu seiner Schöpfung ernst zu nehmen: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Diese Verheißung Gottes haben wir der kommenden Generation in Wort und Tat zu bezeugen. An dem Sonntag, der der Taufe gewidmet ist, fragen wir uns, welche Erde wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen wollen. Es soll eine lebenswerte Erde sein. Denn wir bekennen uns zu Gott, der uns ins Leben ruft und uns damit beauftragt, das Leben zu bewahren.


V.
Jesaja fragt, wie der Weg weitergeht. Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Der Prophet nimmt in besonderer Weise die Gefahren in den Blick. Wasser und Feuer erinnern an die Bedrohung des Lebens durch unbändige Kräfte. Sie signalisieren: Gottes Bekenntnis zu einem Menschen in der Taufe schließt den Abschluss einer Krankenversicherung nicht aus; dass Gottes Verheißung auf dem Leben eines Menschen ruht, bedeutet nicht das Versprechen lebenslanger Urlaubszeit. Nein, Jesaja setzt die Bedrohung des Lebens in das richtige Verhältnis zu seiner Bejahung. Du stellst meine Füße auf weiten Raum; dieses Dankgebet, das mit dem Leben von Justus von heute an untrennbar verbunden ist, wäre sinnlos, würde es den Gefährdungen größeres Gewicht beimessen als den Verheißungen des Lebens. Ein durch Sorgen geprägter Lebensraum ist nicht weit; er ist verengt auf die eigene Vorstellungskraft. Auch er folgt letztlich dem Ideal der Beherrschbarkeit menschlichen Lebens: Sorgen beginnen in der Regel dort zu blühen, wo die Grenzen der eigenen Möglichkeiten in den Blick treten. Das Vertrauen, das den Kern des Taufspruches von Anna Elisabeth bietet, vermag nur der nachzusprechen, der dem lebendigen Gott vertraut.  Harre des Herrn! Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn!


VI.
Gottes Bekenntnis zu einem Menschen bildet den tragenden Lebensgrund jenseits aller Machbarkeit. Die Ausrichtung auf den lebendigen Gott bewahrt vor einer Überbetonung der Sorgen und stärkt den unverzagten Lebensmut. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Jesaja stellt einen Wegweiser an das Ende der Gottesrede. Du brauchst dich nicht zu fürchten; du bist ein Mensch auf Reisen, ein Mensch unterwegs, dem Gott zur Seite geht. Amen.