Predigt im Festgottesdienst „150 Jahre Evangelischer Gottesdienst im Altenberger Dom“ (Haggai 2, 9)

Wolfgang Huber

„Es soll die Herrlichkeit dieses neuen Hauses größer werden, als die des ersten gewesen ist, spricht der HERR Zebaoth; und ich will Frieden geben an dieser Stätte, spricht der HERR Zebaoth.“

I.

Unter diesem biblischen Wort ist vor 150 Jahren die erste evangelische Predigt im wiedererbauten Altenberger Dom von Pfarrer Schütz aus Bergisch Gladbach gehalten worden. Den evangelischen Christen, die sich damals in dieser Kirche versammelten, mag dieser Satz des Propheten Haggai aus ganz eigenen Gründen eingeleuchtet haben. Zu der Gemeinde des Jahres 1857 werden einige Menschen gehört haben, die noch den Brand von Kloster und Dom im Jahr 1815 selbst miterlebt hatten; bekannt war dieses Ereignis aber allen, die sich im wieder erbauten Dom versammelten. Und ebenso auch die Geschichte, die dem vorausging.

Denn nachdem das Kloster im Jahr 1803 säkularisiert und damit seiner ursprünglichen Bestimmung entzogen worden war, hatte man die Klostergebäude zu einer chemischen Fabrik umgewandelt; der Dom nahm großen Schaden und geriet mit den Jahren zu einem Sinnbild des Verfalls. Der engagierten Initiative der katholischen Gemeinde samt dem Kölner Erzbischof Ferdinand August Graf von Spiegel ist es zu verdanken, dass der Dom wieder aufgebaut werden konnte. Der katholische Kardinal gewann den evangelischen König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., dafür, erhebliche Gelder für den Wiederaufbau der Kirche bereitzustellen. „Es soll die Herrlichkeit dieses neuen Hauses größer werden, als die des ersten gewesen ist, spricht der HERR Zebaoth ...“ Vernachlässigte und verfallende Kirche sind wie vernachlässigte Manieren. Ihr Wiedererstehen ist eine Wiederkehr von Form und Gestalt. Das Leben scheint wieder Halt zu gewinnen. Wie groß mag der Jubel der Altenberger über die Wiederherstellung ihres Gotteshaus gewesen sein!

In einem ganz eigenen Sinn werden die Protestanten damals in den Dank und den Jubel mit eingestimmt und sich die Zuversicht Haggais zu eigen gemacht haben, dass „die Herrlichkeit dieses neuen Hauses größer“ werde als zuvor. Auf Beschluss des Königs war die Bereitstellung der Wiederaufbaukosten an die Bedingung geknüpft, „dass die Kirche zum Simultangebrauch auch für das Bedürfnis der in der Umgebung wohnenden Evangelischen gewidmet wird“. Die Verständigung zwischen dem katholischen Kardinal und dem evangelischen König hatte für die Protestanten zur Folge, dass nun auch für sie der Altenberger Dom zur Feier der Gottesdienste geöffnet wurde. Die Kirche Jesu Christi wurde nun in der Vielfalt ihrer Gestalten in diesem Haus erkennbar; so wurde sie auf eine besondere Weise im „neuen Haus größer“.

Die konkrete Regelung war für die nicht allzu zahlreichen Evangelischen der damaligen Zeit ausgesprochen großzügig bemessen: Täglich stand der Dom von nun an von acht bis zehn Uhr und von dreizehn bis fünfzehn Uhr für evangelische Gottesdienste zur Verfügung. Es ist eine ausgesprochen freudige Nachricht, dass diese Zeiten jetzt längst nicht mehr ausreichen.

Mit der Vielfalt der Gottesdienste, die hier gefeiert werden, haben meine Frau und ich eine durchaus persönliche Erfahrung gemacht. Denn genau vor 41 Jahren wurden wir hier im Altenberger Dom getraut. So freuen wir uns sehr darüber, dass wir an diesem Tag das weit bedeutendere Jubiläum – 150 Jahre evangelischer Gottesdienst im Altenberger Dom – mit Ihnen begehen dürfen. Wir erinnern uns auch noch gut daran, dass der Dom damals zu großen Teilen eine Baustelle war; so groß war damals der Erneuerungsbedarf. Deshalb empfinde ich es als ein besonderes Glück, heute zu erleben, in welchem Glanz dieses Gotteshaus erstrahlt.

II.

Wir stimmen heute erneut in die Verheißung des Propheten Haggai ein. „Ich will Frieden geben an dieser Stätte.“ Die Friedensverheißung gilt der evangelischen Gemeinde hier in Altenberg. Sie gilt dem ökumenischen Miteinander. Sie gilt jedem einzelnen, der hier Gottesdienst feiert oder dieses Gotteshaus zur persönlichen Betrachtung und zur Besinnung im Gebet aufsucht.

Zur Zeit des Propheten Haggai war dem Tempel in Jerusalem, auf den sich sein Wort ursprünglich richtet, offenbar keine gute Pflege zu Teil geworden. Diejenigen, die aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem zurückgekehrt waren, hatten den Auftrag, den zerstörten Tempel aufzubauen. Doch noch immer zeigte dieser sich als Ruine; bei weitem war er nicht als Symbol des verheißenen Friedens zu erkennen. „Achtet darauf“, ruft Haggai den Israeliten zu (2,18), wie es euch erst ergehen wird, wenn ihr wieder Gottesdienst feiern könnt. Eine Aufforderung von höchst aktuellem Charakter!

Sogar dem zerstörten Tempel wird diese Funktion zugesprochen: Er ist ein Ort des Friedens. Wie viel mehr gilt das für Gotteshäuser, deren Gebrauch nichts im Wege steht: Sie sind Orte des Friedens. Sie erinnern uns an den Gottesfrieden, der höher ist alle menschliche Vernunft. Unsere Kirchengebäude sind Freiräume zum Atemschöpfen, Orte zum Einkehren bei sich selbst, zum Ankommen bei Gott und zum Aufmerken auf den Nächsten. Kirchen beherbergen das Wort Gottes und die Geschichte der Menschen in einem. Sie sind Räume für Zeit und Ewigkeit, nicht nur, weil das Wort Gottes hier gesprochen wird, sondern auch, weil durch Gebet und Gesang, durch Dank und Fürbitte, durch Taufe, Trauung und Beerdigung Menschen ihre Seele vor Gott öffnen und so Mauern, Boden und Gewölbe mit einer unsichtbaren Patina des Glaubens überziehen. Kirchenräume haben eine starke spirituelle Kraft, sie legen einen heiligen, heilenden Verband um die Seele des Menschen, damit sie sich erholen kann. Sie verhelfen zur Stille, damit die Stimme des barmherzigen Gottes deutlich zu hören ist. Sie setzen in der Melodie des Alltags Kontrapunkte des Gottesfriedens.

III.

Unter die Verheißung des Friedens tritt in einem Simultaneum wie in Altenberg nun in ganz besonderer Weise das ökumenische Miteinander der Kirchen. Der simultane Gebrauch dieser Kirche ist durch eine preußisch-königliche Verfügung zu Stande gekommen. In den anderthalb Jahrhunderten, die seitdem vergangen sind, hat sich daraus eine bemerkenswerte Art geregelter Lebensgemeinschaft entwickelt. Die Gemeinden suchen miteinander Wege und lernen voneinander, was es heißt, im Sinne des Evangeliums „Friedensstifter“ zu sein.

Es gibt ja unterschiedliche Simultaneen. Ich habe in jüngster Zeit wieder Kirchen besucht, die durch eine Mauer in der Mitte aufgeteilt wurden, so dass die eine Gemeinde im hohen Chor, die andere im Kirchenschiff Gottesdienst feiern konnte, ohne dass man voneinander Notiz nehmen musste oder sich stören konnte. Einer solchen durch Mauern voneinander getrennten Ökumene tritt ein ganz anderes Bild entgegen, wenn es der eine, ungeteilte Kirchenraum ist, der beiden Konfessionen zum Gottesdienst zur Verfügung steht, aus dem sich dann, gebe Gott, aus besonderen Anlässen auch immer vielfältigere Formen ökumenischer Gottesdienste entwickeln. An solchen Orten ist die Hoffnung lebendig, dass unseren Kirchen eines nicht zu fernen Tages auch die Kraft geschenkt wird, der Einladung Jesu Christi an seinen Tisch auch gemeinsam Folge zu leisten und das Mahl des Herrn gemeinsam zu feiern. An solchen Orten findet auch die Gemeinschaft ein besonderes Echo, die wir als christliche Kirchen in Deutschland in diesem Jahr feierlich bekräftigt haben: die Gemeinschaft nämlich in der einen Taufe, die wir, im Namen des dreeieinigen Gottes vollzogen, wechselseitig anerkennen.

An Orten so intensiver ökumenischer Gemeinschaft werden freilich auch ökumenische Irritationen sensibler registriert als dort, wo das ökumenisches Miteinander nicht alltäglich geübt wird. Denn an solchen Orten steht auch das Wissen um den ökumenischen Weggefährten auf einer breiteren Basis. Es ist eben etwas anderes, einander bei Gelegenheit zu besuchen oder dasselbe Haus miteinander zu bewohnen – und so Ökumene in dem ganz ursprünglichen Sinne des Worts zu leben. Denn das Wort Ökumene bezeichnet ja im Wortsinn das Haus, in dem wir gemeinsam wohnen. Sein weitester Sinn besagt, dass es der Erdkreis ist, den wir als Kinder Gottes gemeinsam bewohnen. Aber es lässt sich anwenden auf jeden Ort, den Christen in der Vielfalt ihrer kirchlichen Zugehörigkeit miteinander teilen, berufen zum gemeinsamen Zeugnis, verbunden durch die Einheit, die Jesus Christus selber stiftet. Ökumene lebt dort, wo sich dieses gemeinsame Wohnen in einem gemeinsamen Engagement für das Evangelium Ausdruck verschafft. Viele Gemeinden praktizieren das in überzeugender Weise.

Doch Reichtum und Qualität des ökumenischen Miteinanders, wie es gerade auch in Deutschland, im Land der Reformation, Gott sei Dank erreicht wurde, werden immer wieder verdunkelt. Verdunkelt werden sie, wenn unserem Bekenntnis zu Christus die nötige Klarheit fehlt. Verdunkelt werden sie, wenn wir unsere kirchlichen Besonderheiten wichtiger nehmen als das eine Evangelium. Verdunkelt werden sie, wenn wir unsere unterschiedlichen Traditionen gegeneinander stellen, statt sie im Dienst an der Botschaft von Gottes Gnade zum Leuchten zu bringen.

Jede unserer Kirchen sollte sich immer wieder selbst fragen, ob sie in zureichender Weise „Kirche im eigentlichen Sinn ist“: in der Art, in der sie das Gotteslob feiert, das Evangelium verkündigt und die Liebe zum Nächsten übt – in der Art also, in der sie den Frieden Gottes bei sich wohnen lässt. An diesem Auftrag gemessen führt eine Debatte, in der die eine Kirche der anderen abspricht, „Kirche im eigentlichen Sinn“ zu sein, in die Irre. Denn nicht wir als Kirchen sprechen uns wechselseitig das Kirchesein zu. Das tut der Herr der Kirche, Jesus Christus selbst; er will in unserer Mitte sein, wann immer wir uns in seinem Namen versammeln. Dass wir ihm die Ehre geben und uns wechselseitig als Gemeinschaften achten, die seinen Namen tragen, darauf kommt es an.

Betrachtet man dagegen die Auseinandersetzung darüber, wer „Kirche im eigentlichen Sinn“ ist, im Licht des Evangeliums, fällt einem unwillkürlich der Anspruch der beiden Jünger Jakobus und Johannes ein, im Himmel die besten Plätze zu erhalten. Jesus gab ihnen zu bedenken: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ Im Licht des Evangeliums ist es peinlich, wenn wir darüber streiten, ob die römisch-katholische oder die evangelische Kirche näher bei Christus sitzen darf.

Die evangelische Kirche ist die katholische Kirche, die durch die Reformation hindurchgegangen ist. Evangelische und katholische Christen teilen die ersten anderthalb Jahrtausende in der Geschichte der Christenheit genauso, wie sie in der Zeit seit der Reformation wie Zwillinge aneinander gebunden bleiben. Der Reformation Martin Luthers ging es nicht um die Gründung einer neuen Kirche, sondern darum, das Evangelium in aller Klarheit zum Leuchten zu bringen. Dieser reformatorische Auftrag ist auch heute aktuell. Wenn wir in seinen Dienst treten, sind wir „Kirche im eigentlichen Sinn“. Dass wir die ökumenische Gemeinschaft suchen und pflegen, gehört zu diesem Auftrag unlöslich hinzu. Wir wollen die Güte Gottes von ganzem Herzen rühmen und gemeinsam Zeugnis geben von dem Gott des Friedens.

IV.

Dieses Gotteshaus hat Zeiten des Friedens ebenso erlebt wie Zeiten des Krieges, Zeiten der Zerstörung ebenso wie Zeiten des Wiederaufbaus. Menschen versammelten sich hier in der Sehnsucht nach einer Zeit, in der „Frieden und Gerechtigkeit sich küssen“ (Psalm 85,11). Und sie kamen zusammen im Dank dafür, dass Frieden und Versöhnung wirklich werden. Das Zusammentreffen dieses Altenberger Jubiläums mit einem anderen Jubiläum in diesem Jahr macht das auf besondere Weise sinnenfällig.

Vor wenigen Monaten haben wir mit den fünfzigsten Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert; mit ihnen wurde die europäische Gemeinschaft gegründet, die wir heute Europäische Union nennen. Wir können Gott nicht genug danken für die Geschichte der Versöhnung, die uns in diesem Jubiläum vor Augen tritt. Denn die Ansätze zu einer wirtschaftlichen Kooperation in der Nachkriegszeit waren von Anfang an mit der Idee verbunden, ein Europa des Friedens und der Versöhnung zu schaffen. Damit aber geschah nichts Geringeres, als dass ein Impuls der Bergpredigt Jesu aufgenommen wurde. Trotz aller Schrecken von Krieg und Gewalt trat Vergebung an die Stelle von Vergeltung. Ein gemeinsames Leben begann. Dieses Beispiel habe ich immer vor Augen, wenn wieder einmal jemand behauptet, mit der Bergpredigt lasse sich keine Politik gestalten. Wir haben es erlebt, dass das geht. Wir zehren nicht nur davon; es ist zugleich unsere Zukunft.

An die Bergpredigt und an die Verheißung Haggais halte ich mich auch, wenn ich an die besonderen Herausforderungen denke, mit denen wir es bei dem Mühen um den Frieden heute zu tun haben. Auch die fortdauernde Friedlosigkeit im Nahen Osten oder die bedrängende Situation im Sudan tritt für uns Christen in das Licht möglicher Versöhnung. Und wir werden nicht aufhören, für diese Versöhnung zu beten und zu arbeiten. Alles politische Handeln speist sich auch aus den Gebeten, die an den Orten des Gottesfriedens gesprochen werden.

„Es soll die Herrlichkeit dieses neuen Hauses größer werden, als die des ersten gewesen ist, spricht der HERR Zebaoth; und ich will Frieden geben an dieser Stätte, spricht der HERR Zebaoth.“ Dass sich diese Verheißung des Friedens vom Altenberger Dom aus immer wieder von neuem erfüllt, ist mein herzlicher Segenswunsch an diesem Jubiläumstag.

Amen.