Predigt im Gottesdienst in St. Marien zu Berlin (Matthäus 6,1-4)

Wolfgang Huber

Habt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir' s vergelten.

„Almosen verderben die Seele des Gebers wie des Nehmers und verfehlen zu alledem ihren Zweck, denn sie verschlimmern die Armut.“ Diese Aussage wird Fjodor Dostojewski zugeschrieben. Ganz anders beurteilt Elias Canetti das Almosen: „Es heißt, dass die Armen fünfhundert Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen werden. Durch Almosen kauft man den Armen etwas vom Paradies ab.“

In den Religionen jedenfalls hat das Almosen einen festen Platz. Vom Unterhalt buddhistischer Mönche bis zum Potlach der Indianer spannt sich der Bogen. Die Muslime zählen das Almosen zu den fünf Säulen des Islam. Auch in Judentum und Christentum hat es einen festen Platz. 

Etwas altmodisch klingt das Wort Almosen schon. Man spürt ihm die Herkunft aus einer fremden Sprache an. Auf das griechische Wort für Mitleid und Mildtätigkeit geht der Ausdruck zurück. So reden wir heute nicht mehr. Wir wollen den Sozialstaat, nicht Almosen. Wir pochen auf unsere Rechte, wir erwarten nicht Mildtätigkeit. „Arme habt ihr alle Zeit bei euch“ – das gehört zu den Sätzen Jesu, mit denen wir nichts Rechtes anzufangen wissen; denn wir wollen, dass niemand darben muss. 

An die Stelle von Almosen sind heute Sponsoring und Fundraising getreten. Aus einer fremden Sprache kommen diese Worte zwar auch; aber sie klingen modern. Sponsoring und Fundraising erfüllen heute auch tatsächlich die Funktion, die dem Almosen zur Zeit Jesu zukam. Man erweist sich als Wohltäter und macht sich damit einen Namen. „Tue Gutes und rede darüber“ – das ist die Devise. Damals wie heute. Zwar ist der Sozialstaat anonymisiert. Aber ein Raum für Wohltätigkeit bleibt. Für einzelne, für Firmen, für Kirche und Diakonie, auch für den Staat.

Zur Zeit Jesu gab es eine Praxis, Almosen öffentlich zu versprechen. „Tue Gutes und rede darüber.“ Man wollte sich dadurch seines Ruhmes vor Gott und den Menschen sicher sein. Die Rabbiner, die Lehrer des jüdischen Volkes, betonten deshalb eindringlich, man solle seine guten Taten nicht wie eine Krone auf dem Haupt zur Schau stellen. Man spürte auch, dass das Almosen, mit dem sich der Ruhm des Gebers erhöhte, für den Empfänger mit einer Demütigung verbunden war. Der Respekt vor der Selbstachtung der auf Hilfe angewiesenen Personen führte deshalb dazu, dass es im Jerusalemer Tempel eine „Kammer der Verschwiegenen“ gab. Mit Hilfe der dort gesammelten Spenden konnte Bedürftigen Hilfe zuteil werden, ohne dass sie voller Scham in das Gesicht Ihres Gönners blicken mussten. Beschämung und Abhängigkeit sollten auf diese Weise vermieden werden. In der Geschichte der christlichen Kirchen hat sich das im Armenkasten, in den Kollekten für Bedürftige, in den Sammlungen von „Brot für die Welt“ fortgesetzt. Wir kennen das Almosen durchaus noch; auch wir haben unsere „Kammern der Verschwiegenen.“

Und doch kennen wir auch das Andere. Es muss Situationen geben, in denen die Not nicht anonym bleibt. Die Beziehung zwischen dem Bedürftigen und demjenigen, der ihm hilft, braucht auch immer wieder eine persönliche Komponente. Menschen haben Namen. Ein Patenkind in der Dritten Welt ist anschaulicher als eine anonyme Spende. Wer eines der dreihundert Kinder kennt, die in der Arche in Hellersdorf täglich eine warme Mahlzeit bekommen, die ihnen sonst fehlen würde, weiß, warum die Armut in unserer eigenen Stadt uns zum Handeln herausfordert. Menschen in Not wollen mit ihrem Namen angesprochen werden. Und Geber brauchen eine Adresse, damit sie wissen: Ihre Hilfe kommt an. Aber der Missbrauch lauert vor der Tür. Die Warnung Jesu bleibt aktuell: Sei kein Heuchler; tu es nicht, damit du von den Leuten gepriesen wirst.

Aber das Almosen verschleiert die wirkliche Lage, so heißt der Einwand. Es verschlimmert die Armut, sagt Dostojewski. Kein Almosen ändert etwas daran, dass in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich größer wird. Der Gegensatz zwischen denen, die unter den Bedingungen von Hartz IV ihre monatlichen Ausgaben planen müssen, und denen, die Gehälter beziehen, bei deren Höhe vielen schwindlig wird – dieser Gegensatz wird immer krasser. Es geht ja nicht um die dreihundert Kinder in der Arche. Es geht um 2, 6 Millionen Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren, die in Deutschland auf Sozialhilfeniveau oder darunter leben. Und die Zahl steigt. Die neue Armut in unserem Land hat viele Gesichter. Und skandalöse Ausmaße.

Der Absturz in die Armut hat auch viele Gründe. Nur ein Beispiel unter vielen: Lasse und Sophie wohnten mit ihren Eltern in einem Haus am Rande Berlins. Die Vögel zwitscherten abends in den Gärten und die Sonne legte ihren rötlichen Glanz auf die Dächer. Apfelblüten schwebten auf den Rasen hinunter. Ganz hinten im Garten hatten sie ihr Baumhaus, in dem man auf dem Rücken liegend den Wolken nachträumen konnte, solange bis der Vater zum Essen rief. Alles war gut, bis zu dem Tag als Mama und Papa sich einen ganzen Abend lang anschrieen. Danach ging alles sehr schnell. Lasse und Sophie mussten mit ihrer Mutter in eine kleine Neubauwohnung ziehen. Sie wechselten die Schule. Das Haus wurde verkauft und dennoch blieben Schulden. Früher fuhren sie zu viert mit dem Auto in die Sommerferien. Heute holt sie ihr Vater an jedem zweiten Wochenende mit seinem Auto ab. Dann fahren sie zu ihm und seiner neuen Freundin, die sich nur um ihr kleines Baby kümmert. Clara hier und Clara dort. Die Mutter von Lasse und Sophie hat einen Zug im Antlitz, der neu ist. Unter ihre Augen hat sich eine Spur gelegt, die besonders nachts ins Dickicht der Verzweiflung führt. Obwohl sie sparsam lebt und lernen musste, worauf sie um der Kinder willen verzichten kann, läuft ihr das Geld durch die Finger. Neidgefühle nisten sich in der Seele ein. Oh Gott, warum musste das alles so kommen? Manchmal weiß sie nicht aus noch ein.

Wie kann es in einem solchen Fall weitergehen? Wohl nur durch Beistand und Eigenständigkeit zugleich. Gewiss ist die Mutter von Lasse und Sophie auf Menschen angewiesen, die sich ihr zuwenden, sie unterstützen, ihr Mut machen. Aber ihren Weg muss sie selbst finden und eigenständig gehen, das nimmt ihr niemand ab. Zwischen Eigenständigkeit und Solidarität bauen wir oft eine falsche Alternative auf. Dabei wissen wir, dass Solidarität unter uns nur möglich bleibt, wenn alle im Maß des Möglichen für sich selbst sorgen. Erst dann entstehen die Spielräume dafür, anderen beizustehen und mit ihnen zu teilen.

Wer sich heute auf eine Begegnung mit Jesus Christus einlässt, der spürt die  Kraft Gottes, die sich in Jesu Gegenbildern entfaltet. Jesus spricht in der Bergpredigt drei Verhaltensweisen des Glaubens an: das Beten, das Fasten und das Almosen. Das Beten verbindet uns mit Gott, dem wir im Leben und im Sterben vertrauen können. Das Fasten hilft uns dazu, dass wir nicht im Rausch eigener  Wünsche untergehen. Wir erfahren dabei Hilfe, Grenzen zu ziehen. Das Almosen erinnert uns daran, dass der unsichtbare Gott uns unseren sichtbaren Nächsten an die Seite gestellt hat. Jesus zeigt uns den Weg, das Verhältnis zu Gott, zu uns selbst und zu den Mitmenschen in der Balance zu halten. Diese Balance wird uns immer wieder geschenkt. Aber wir müssen auch etwas für sie tun.

Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht in solchen Zusammenhängen davon, wir seien nicht dazu bestimmt, bloß ein „immer-mehr-haben-wollendes Tier“ zu sein. Er weist darauf hin, dass heute „Investoren der anderen Art“ gefragt sind. Sie verweigern sich dem trübsinnigen Verfahren, Vermögen und Kapital ohne Ziel und Ende anzuhäufen. Sie tun Dinge, die anderen zu Gute kommen. Sie sind am gemeinsamen Wohl interessiert. 

Darauf kommt es offenbar an: dass wir uns nicht zum immer-mehr-haben-wollenden Tier entwickeln. Die einen wollen immer mehr Geld. Die anderen wollen immer mehr Anerkennung. Die einen können nicht genug Geld bekommen. Die anderen sind unersättlich nach Anerkennung. Jesus macht dem ein Ende: Ihr sollt keine Heuchler sein.
  Menschlichkeit hängt auch daran, dass es generöse Menschen gibt, die  den Kreislauf des Ab- und Heimzahlens kreativ durchbrechen und ihr Tun nicht ausschließlich unter dem Aspekt des Tauschwerts sehen. Nicht nur die „Investoren der anderen Art“, sondern wir alle können dazu beitragen, dass Tugenden wie Edelmut, Großzügigkeit, Freigiebigkeit, Noblesse und Weitherzigkeit unser Leben prägen.

Im Sinn des Bergpredigers könnte der Weg so aussehen: Gib von dem Deinigen, was der andere gerade braucht! Gib von deinem Geld, von deiner Kraft oder von deiner Zeit. Dass es bei Gott keine Rabattgewinne gibt, ist ohnehin klar. Wie auch immer, gib generös. Großes Gerede und Getue sind dabei nicht gefragt: Das sprichwörtliche „Ausposaunen“ muss nicht sein, aber zugleich muss das Licht nicht unter dem Scheffel stehen. Doch die Linke braucht nicht zu wissen, was die Rechte  tut. Schau nicht auf das, was du zurückbekommst, sondern tu einfach, was dein Herz dir sagt. Probier es aus, wie es ist, gut Mensch zu sein: nobel und spendabel.

Die inneren Beweggründe und wirklichen Motive derer, die etwas von sich hergeben, bleiben uns ja ohnehin verborgen. Wilhelm Busch sagt dazu: „Wie wolltest du dich unterwinden, / kurzweg die Menschen zu ergründen. /  Du kennst sie nur von außenwärts. / Du siehst die Weste, nicht das Herz.“ Amen.