Predigt im Festgottesdienst anlässlich 300 Jahre lutherischer Gottesdienst in Genf (1. Mose 28, 10-19a)

Wolfgang Huber

I.

Für Jakob wird ein Traum wahr. Dieser Traum ist in das Gedächtnis der Menschheit eingegangen. Unzählige Male wurde er erzählt; ungezählte Maler haben ihn zum Thema gemacht. Dabei träumt Jakob nur von einer Leiter, einer schlichten Leiter. Doch auf dieser steigen Engel auf und nieder. Und Gott spricht zu Jakob. Er wiederholt ihm die Verheißung, die er schon seinem Großvater Abraham gegeben hatte. Er verspricht Jakob sein Geleit.

Jakob, der Betrüger, der durch falschen Ehrgeiz zum Flüchtling geworden ist, darf sich auf Gott verlassen. Wie kann ein Mensch mit einem solchen Register moralischer Untaten die Verheißung Israels weitertragen? Doch an diesem heiklen Punkt in Jakobs Lebensgeschichte bricht der Himmel auf. Dadurch wird er zu einem entscheidenden Punkt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk.

 Eine dramatische Biographie nimmt eine Wendung eigener Art. Denn dramatisch muss man Jakobs Biographie schon nennen. Dass so einer zu den Erzvätern des Volkes Israel gezählt werden kann, ist mehr als erstaunlich.

Ja, Jakobs Lebensgeschichte gehört zu den dramatischen Biographien der Bibel. Sie ist reich an Überraschungen, eindringlich und bildkräftig zugleich. Jakob ist Isaaks Sohn und der Zwillingsbruder Esaus. Den Kampf mit seinem älteren Bruder beginnt er schon im Leib seiner Mutter Rebekka. An der Ferse des älteren Bruders hält er sich fest und kommt so zur Welt; der „Fersenhalter“ wird er deshalb genannt. Von Jakob, dem Listenreichen, wird erzählt, wie er für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht erwirbt und sich mit Hilfe der Mutter Rebekka den väterlichen Sterbesegen erschleicht: mit Tierfell täuscht er die behaarte Haut seines Bruders vor, so dass der im Alter blind gewordene Isaak den Falschen segnet. Jakob, der arme Flüchtling, tritt uns vor Augen, der den erschlichenen Sterbesegen in die Fremde rettet und bei Laban sieben Jahre um die schöne Rahel dient, die er zur Frau haben will. In der Hochzeitsnacht wird ihm jedoch deren hässliche Schwester Lea ins Bett geschmuggelt; sieben weitere Jahre kostet ihn die Liebe zu der schönen Rahel. Der Schriftsteller Thomas Mann hat von Jakob gesagt, er habe überhaupt nur zwei Leidenschaften gehabt: Gott und Rahel. Insgesamt 21 Jahre hat er in der Fremde zugebracht, bis er mit den beiden Frauen, zwei Nebenfrauen und zwölf Kindern den Weg zurück in die Heimat antreten kann. Wohlhabend ist er in der Fremde geworden; viele Listen hat er dafür aufgewandt. Der Jüngste ist er nicht mehr, als er endlich in das Land seiner Väter zurückkehrt.

Dass ein solcher Betrüger in der Geschichte Gottes mit seinem Volk eine herausragende Rolle spielt, ist alles andere als selbstverständlich. Aber tröstlich ist es auch. Wenn es für so einen Betrüger Segen gibt, dann vielleicht ja auch für uns. Jedenfalls liegt es nicht an ihm und seinen Verdiensten vor Gott; es liegt an Gottes Beziehung zu ihm. Diese Gottesbeziehung nimmt in zwei nächtlichen Geschehnissen Gestalt an, in einem Traum und in einem Kampf. Die eine Gotteserfahrung steht am Anfang, die andere am Ende seiner großen Wanderschaft. Die erste dieser beiden entscheidenden Gottesbegegnungen ist heute unser Thema.

Auf dem Weg in die Fremde nach Haran am oberen Euphrat, wo sein Onkel Laban lebt, unterbricht der junge Jakob die Reise zur Nacht und legt seinen Kopf auf einen merkwürdigen, offenbar an diesem Ort geheiligten Stein. Im Traum sieht er eine von der Erde bis zum Himmel reichende Leiter, auf der die Engel auf- und niedersteigen. Dies ist also ein Ort, an dem der Himmel offen steht. Als er erwacht, richtet Jakob den Stein, auf dem er schlief, auf, gießt Öl darüber und nennt den Ort Gotteshaus, Beth-El.

Aber auf seinen weiteren Weg nimmt er eine Verheißung mit, die mit nichts anderem aufzuwiegen ist, die Verheißung, dass Gott mit ihm geht: „Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“

II.

Das gibt es, dass Träume wahr werden! Mitunter aber sind es Alpträume.

Als am 13. Oktober 1685 der französische König, Ludwig XIV. mit dem Edikt von Fontainebleau das Toleranzedikt für die Christen protestantischen Glaubens in seinem Staatsgebiet widerrief, musste dies wie die Wiederkehr eines längst überwunden geglaubten Alptraums wirken. Tausende Protestanten verließen Frankreich in nahezu alle Himmelsrichtungen. Der preußische Große Kurfürst ermöglichte mit dem Edikt von Potsdam den Zuzug von etwa 15.000 Protestanten ins Land Brandenburg; sein Sohn, der erste preußische König Friedrich I., setzte sich dafür ein, dass deutsche Kaufleute aus Lyon in Genf lutherische Gottesdienste abhalten konnten.

Nach Genf kamen damals keine Jakobiner, in dem Sinne, in dem einhundert Jahre später die Republikaner der Französischen Revolution „Jakobiner“ genannt wurden. In Genf suchen „Jakobiner“ in einem biblischen, in einem auf die Jakobserfahrung bezogenen Sinne Zuflucht. Sie sind auf der Flucht. Sie erhalten im calvinistischen Genf die Möglichkeit, lutherische Gottesdienste abzuhalten. Am 28. August 1707 hält Magister Anton Schulz so den ersten lutherischen Gottesdienst in Genf. Der Saal ist lediglich angemietet. Aber das tut dem Gottesdienst keinen Abbruch. Aus Albträumen werden Träume. Und die Träume werden wahr

III.

Die Himmelsleiter ist eines der Urbilder der Verbindung zwischen Gott und Mensch. Der Blick hinauf zu Gott erhält in diesem Bild genauso Nahrung wie die Sehnsucht danach, dass Gott sein Volk „besucht und erlöst“ (Lukas 1, 68). Wenn sich beim Anstieg auf einen Berg plötzlich ein Weg abzeichnet, der in den Himmel zu führen scheint; wird dieses Bild lebendig; selbst dann wird es wachgerufen, wenn man in einer Stadt wie Stuttgart die U-Bahn an der Station „Himmelsleiter“ verlässt. Doch viel mehr noch als die Erfahrungen im Alltäglichen sind unsere Gottesdienste Orte, die an diesen Traum rühren – und das nicht unbedingt in Gestalt eines Traums während der Predigt. Sie Gottesdienste geben der Begegnung mit Gott und der Verheißung seines Segens Form und Gestalt. Unsere Kirchen werden dann zu Orten, zu denen wir sagen: Beth-El, Gotteshaus. So haben auch die Menschen, die vor dreihundert Jahren in Genf nicht nur Geschäfte machen, sondern auch Gottesdienst feiern wollten, ihr Beth-El gefunden: den Stein, auf dem ihr Traum der Begegnung mit Gott wahr wurde, ihr Gotteshaus.

IV.

Nicht von einer Leiter, wohl aber von einer Brücke spricht das Motto für Ihr Festjahr. „Aus Vertrauen Brücken bauen“ – mit diesem Motto weisen Sie darauf hin, wie das Kreuz Jesu Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und Herkunft miteinander verbindet.

Gemeinden bauen aus Vertrauen brücken. Diesem Motiv denken wir heute aus der Perspektive Jakobs nach, des Flüchtlings. Diese Perspektive macht uns auf die Lage von Menschen aufmerksam, die eine neue Heimat suchen. Viele suchen diese Heimat in Europa. Deshalb hat uns in den letzten Jahrzehnten die Lage von Migranten und Flüchtlingen besonders beschäftigt. In der Schweiz ist das nicht anders als in Deutschland. Dabei haben wir gemerkt: Es gibt nicht nur die Migranten, die begehrte und willkommene Arbeitskräfte sind. Es gibt auch diejenigen, die einen neuen Anfang suchen, weil ihnen dort, wo sie herkommen, jede Perspektive fehlt. Und es gibt diejenigen, die vor unmenschlichen Bedingungen, vor unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben fliehen. Die Flucht derer, die zu uns nach Europa kommen, ist oft begründet in einem Traum von einer besseren Welt, den wir ihnen gar nicht erfüllen können. Doch noch stärker bewegt sie die Aussichtslosigkeit der Lage in ihrem Herkunftsland. Die Jakobsleiter steht dafür, dass Gott seine Gegenwart und sein Geleit einem Flüchtenden verspricht. Das ist für Christen eine besondere Motivation dafür, sich Flüchtlingen zuzuwenden und ihr Geschick zu bedenken.

V.

Das ist nur eine der Aufgaben, die wir gegenwärtig in der Gemeinschaft der Kirchen zu bedenken haben. An Aufgaben, die wir gemeinsam anpacken können, fehlt es wahrlich nicht. Die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen trägt nicht nur aus Gründen des Glaubens einen verpflichtenden Charakter; schließlich bekennen sich alle Christen zu Jesus Christus als dem einen Herrn. Dafür sprechen vielmehr zugleich starke Gründe der praktischen Vernunft. Gesellschaftliche Verantwortung gelingt in der Gemeinschaft der Kirchen besser.

Heute erinnern wir uns dankbar daran, dass das calvinistische Genf den Lutheranern vor drei Jahrhunderten die Möglichkeit zum Gottesdienst eröffnet hat. Wir freuen uns darüber, dass sich daraus eine stabile lutherische Gemeinde entwickelte. Auch eine Kirche dufte sie auf den Grundmauern des Chateau de Coudré errichten, auch wenn der Bau nicht wie ein Kirchengebäude aussehen durfte.

Heute schauen wir weiter. Wir haben mit der Leuenberger Konkordie von 1973 eine gemeinsame Grundlage für die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen geschaffen – in ganz Europa wie in der Schweiz. Fröhlich blicken wir Protestanten auf unsere katholische Schwesterkirche und schauen neidlos auf die Bilder, die der heutige Besuch von Papst Benedikt im benachbarten Österreich hervorruft. Wir schämen uns des Evangelisch-Seins nicht. Dass wir Kirche Jesu Christi sind, kann uns niemand absprechen. Darum, Kirche im eigentlichen Sinn zu sein, bemühen wir uns wieder und wieder neu. Darum wir sind gut beraten, unsere eigenen Wurzeln in Ehren zu halten und unserem Auftrag Treue zu erweisen. Allein Christus wollen wir bezeugen, allein die heilige Schrift zum Maßstab nehmen, allein auf Gottes Gnade vertrauen, allein aus Glauben unser Heil erhoffen.

Ein solches evangelisches Selbstbewusstsein ist es auch, was in der ökumenischen Gemeinschaft gegenwärtig von uns erwartet wird. Dass es unseren römisch-katholischen wie unseren orthodoxen Geschwistern an solchem Selbstbewusstsein nicht fehlt, dürfen wir getrost voraussetzen. Auch bei der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung im rumänischen Hermannstadt war das in den letzten Tagen deutlich zu spüren; das steht mir wie anderen unter uns, die an dieser Versammlung teilgenommen haben, noch deutlich vor Augen. Aus der Verwurzelung im eigenen Glaubensverständnis wächst die Kraft, gemeinsam zu tun, was die Welt heute von uns erwartet und erhofft: ein Zeugnis dafür, dass diese Welt nicht in Eigensucht und Gewalt zu versinken braucht, sondern ihre Zukunft in Frieden und Solidarität hat. In diesem Gottesdienst wissen wir uns mit denen verbunden, die zu dieser Stunde in Hermannstadt den Abschluss der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung feiern.

VI.

Dass Träume wahr werden, wünsche ich Ihrer Gemeinde wie der Christenheit in Europa. Denn der Segenswunsch gilt auch noch heute, mit dem Jesus selbst an Jakobs Traum anknüpft: „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn“ (Johannes 1, 51).

Amen.