Predigt im Festgottesdienst zum 50. Jubiläum des Kirchenkreises Tempelhof (Matthäus 13,31-32)

Wolfgang Huber

Liebe Festgemeinde, wenn aus einem kleinen Senfkorn ein großer Baum wird, wenn die Zuversicht in unserer Seele Wurzeln schlägt, wenn wir zu Gott beten, und dann gestärkt auf unsere Mitmenschen zugehen, dann fällt unser Blick und Augenmerk auf den, der uns im Leben und im Sterben sein Geleit versprochen hat. An ihn wollen wir uns halten. Denn in Jesus Christus tritt uns die Fülle des Lebens entgegen. Das gibt unserer Hoffnung ein festes Fundament. Oder, wie es der Kirchenkreis Tempelhof vor fünf Jahren für sich bekannt hat. Unsere Hoffnung ist, dass unser Leben und unsere Arbeit, auch unsere Unvollkommenheit, durch Gott einen Sinn bekommt.

Diesen Sinn weiterzugeben, ist die Aufgabe der Kirche. Dafür werden Kirchen gebaut und kirchliche Strukturen entwickelt. An diesen Auftrag erinnern wir uns, wenn wir Jubiläen feiern. Nicht die Asche zu hüten, sondern die Flamme weiterzutragen, ist der Sinn solcher Feste.

Der Kirchenkreis Tempelhof feiert heute ein solches Fest. Die Ehrlichkeit gebietet zu sagen: Fünfzig Jahre sind in der Geschichte der Kirche keine besonders lange Zeit. Der Kirchenkreis Tempelhof ist ein junger Kirchenkreis. Aber fünfzig Jahre müssen gefeiert werden. Es ist ein Grund, dankbar innezuhalten und nach der Verheißung auszuspähen, die vor uns liegt.

Das jugendliche Alter dieses Kirchenkreises zeigt: Die Kirche Jesu Christi ist eine lebendige Gemeinschaft; sie ist auf dem Weg; sie wagt Neues. Denn sie vertraut auf die in Christus aufleuchtende Güte Gottes und dankt ihm für die Fülle des Lebens. Wir denken an die Aufbruchszeit vor fünfzig Jahren, gerade hier im Süden Berlins, wo Menschen sich nach einer Völkerwanderungszeit ohne gleichen – dann das waren die Nachkriegsjahre auch – in großer Zahl niederließen und nach geistlicher Begleitung hungerten. Wir feiern einen Kirchenkreis, der von sich sagen kann: „Begeistert, kompetent und mittendrin“. Musik, Bühnenprogramm, Spiel und Bewegung gehören zu diesem Fest genauso wie dieser Gottesdienst.

Ich freue mich, dass ich an diesem Beisammensein von Jung und Alt teilnehmen kann. Für unsere ganze Kirche gratuliere ich diesem Kirchenkreis, der seit fünfzig Jahren im Verbund der Tempelhofer Kirchengemeinden viele Fäden zusammen hält –  „begeistert, kompetent und mittendrin“. Auf dieses Profil wollen Sie sich ansprechen lassen – als begeisterte Sängerinnen und Sänger in den Chören wie als Engagierte in der Jugendarbeit. Von den Kindertagesstätten spannt sich der Bogen kompetenter Arbeit über die Diakoniestationen bis zur Seniorenarbeit. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind mittendrin im Tempelhofer Alltag und lassen sich gern auf ihren Glauben und ihre Hoffnung ansprechen. Sie geben unserer Kirche Gesicht und Stimme.

Auch in diesem Stadtteil verweisen die Kirchengebäude auf den ungeteilten Himmel und damit auf Gottes Güte. Die Glocken läuten zur Ehre Gottes. Die Autos der Diakonie sind rollende Zeichen der Fürsorge. Diejenigen, die Kindergruppen leiten, schauen gemeinsam mit den Erwachsenen von Morgen über den Horizont des Tages hinaus.
Dazu gehören viel Fantasie, Vorstellungskraft und Gottvertrauen. Unsere Augen lernen nur schwer, dass im Licht des Evangeliums alles auf die Senfkörner ankommt. Auf ihnen ruht die Verheißung. Die tagesaktuellen Strohfeuer verbreiten viel Rauch und Qualm. Es entsteht heiße Luft ohne Ende. So steigen ganze Fesselballone hinauf in den Himmel. Sie ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, obwohl sie doch bald wieder in der Versenkung verschwinden werden – denn heiße Luft kühlt bekanntlich schnell wieder ab.

Die Zukunft ist unter uns gegenwärtig, unspektakulär versteckt in kleinen Senfkörnern. Wir können sie mit Geduld und Ruhe anschauen, um eine Ahnung davon zu erhalten, was in ihnen steckt. Und dennoch bleibt uns die Zukunft entzogen. Aber wir können Senfkörner säen, jede und jeder von uns. Und wir können sie wachsen und reifen lassen. Das wird unser Leben mehr verändern, als eine hektische Betriebsamkeit dies je vermag.

Die Tempelhoferinnen und Tempelhofer wissen es: Alles ändert sich; was gleich bleibt, ist der Wandel. Manchmal wächst die Saat auf, manchmal verdorrt die Hoffnung, weil sie keine Wurzeln schlagen kann. Im Wechsel der Jahrhunderte war es Tempelhof nicht von Anfang verheißen, dass es einmal ein blühender Bezirk Berlins sein würde. Die Bevölkerung Berlins wuchs nicht in allen Jahrhunderten so stetig wie in der Zeit seit der Industrialisierung. Auch in dieser Hinsicht hatte der dreißigjährige Krieg eine unübersehbare Zäsur gesetzt. Im Jahr 1800 zählte Tempelhof ganze 241 Einwohner. Noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird Tempelhof von den Berlinern am ehesten als Ausflugsort geschätzt. Aber schon in dieser Zeit beginnt der rasante Wandel vom Dorf zur Großstadt. Tempelhof erlebt eine wundersame Bevölkerungsvermehrung: innerhalb von hundert Jahren werden aus den 241 Tempelhoferinnen und Tempelhofern des Jahres 1800 sage und schreibe 9991 Einwohner im Jahr 1900. 

Ein Kirchbauverein arbeitet zielstrebig an dem Ziel, der zu klein gewordenen Dorfkirche ein größeres Kirchengebäude an die Seite zu stellen. Die Einweihung der Glaubenskirche vollzog Generalsuperintendent Haendler vor einer aus Frauen, Kindern und alten Männern bestehenden Gemeinde im August 1915, während die jüngeren Männer an der Front sind. Auch noch das Altarbild der Glaubenskirche lässt uns seine Entstehung in einer Zeit des Krieges spüren. Es stellt uns einen „Helden des Glaubens“ vor Augen. Der Hauptmann von Kapernaum, ein Soldat, steht für ein Gottvertrauen, das nicht die Größe eines Senfkornes zu haben scheint, sondern das Format eines Fesselballons. So lädt das Altarbild noch heute ein zum Meditieren darüber, was Glaubensstärke wohl wirklich ausmacht.

Heute distanziert sich die Kirchengemeinde von der Entwicklung in der Zeit des Dritten Reiches. Der Gedanke, noch einmal an die Rede von „entarteter Kunst“ anzuknüpfen, käme uns in der Erinnerung an jene Zeit nicht in den Sinn. Der Preis, den unschuldige Kinder, Frauen und Männer zahlen mussten, war ohnehin viel zu hoch. Es schmerzt im Blick zurück, dass aus der Brauthalle dieser Kirche eine „Adolf-Hitler-Halle“ gemacht und dass sie sogar mit einer Bronzebüste Hitlers ausgestattet wurde. Es erfüllt uns zugleich mit Stolz, dass sich einzelne Glieder unserer Kirche mit aller Entschiedenheit gegen Hitler zur Wehr gesetzt haben. Das Widerstehen der Wenigen  hatte das Gewicht eines Senfkorns – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Doch die Glaubensgewissheit dieser Zeugen Gottes fiel auf fruchtbaren Boden. Aus diesen Senfkörnern erwuchs uns das Geschenk eines Neubeginns.

Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; das ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, so dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.

Neuanfänge, so scheint es, haben in Tempelhof Tradition. Niemand konnte ahnen, dass dieser Teil Berlins nach 1945 sogar zur berühmtesten Adresse der Stadt werden konnte – das Ziel der „Rosinenbomber“, mit denen der Blockade der Stadt ihre Wirksamkeit genommen wurde. Zum Symbol des Lebenswillens in der Zeit der Teilung wurde Tempelhof; Jahr für Jahr wird daran erinnert. Seitdem die Berliner Mauer abgetragen wurde, weht es hin und wieder neue Senfkörner in den Westen hinüber, so wie umgekehrt Senfkörner, die zur Tempelhofer Sorte gehören, in den Ostteil Berlins und nach Brandenburg, ja auch in die schlesische Oberlausitz hinüberwandern. Dieser Austausch tut uns gut, weil er uns bereichert.

Und natürlich freut es mich, dass sich besondere Gäste zum fünfzigsten Geburtstag haben einladen lassen. Ihre Anwesenheit ehrt uns. Sie ist uns ein gewichtiges Geburtstagsgeschenk.

Bei einem Fest zugegen zu sein, gehört nämlich zu den wichtigsten Geschenken, die wir einander machen können. Das Leben Jesu enthält dafür anschauliche Beispiele. Wenn er sich beispielsweise in das Haus eines Zöllners zu einem Festessen einladen ließ, dann war die ungeteilte Form seiner Zuwendung das kostbarste Gastgeschenk. In diesen Gesprächen bestärkte Jesus sein Gegenüber darin, die eigenen Hoffnungen und Träume ernst zu nehmen, auch wenn sie vielleicht erst Senfkorngröße hatten. Durch seine Gegenwart rückten auch die kleinen Hoffnungen in den Lichtkegel von Gottes Güte. Auch unser Leben erscheint dadurch in einem neuen Licht. Das hilft uns dabei, neu auf unser Leben zu schauen, ja mit dem Leben neu zu beginnen. .

Gottes Zusage befreit uns von der Sorge vor dem, was vor uns liegt. In allem, was sich wandelt, bleibt Gottes Nähe der verlässliche Bezugspunkt. Jesus hat so gern in Gleichnissen gesprochen, weil er die Welt, in der wir leben, durchscheinend machen wollte für die Welt, die kommt.

Im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums findet sich eine ganze Sammlung derartiger Gleichnisse. Das Unkraut unter dem Weizen, der Sämann, das Senfkorn und der Sauerteig werden ebenso zu Bildern für Gottes Nähe wie ein Fischernetz. Es sind durchweg Alltagsgeschichten, die da zu Gleichnissen für Gottes Nähe werden. Warum sollten wir dann nicht so verwegen sein, auch unsere Alltagsgeschichten ins Licht dieser Verheißung zu rücken und in ihnen Gleichnisse für Gottes Nähe zu entdecken? Ich denke an das tiefgehende Gespräch im Auto, an die gemeinsamen Erlebnisse von Erzieherinnen und Kindern an einem Kita-Morgen, an die Gastfreundschaft, die wir erfahren und weitergeben können, an die Klarheit, mit der uns jemand vor einem faulen Kompromiss bewahrt und dadurch im Glauben stärkt.

Senfkörner sind nicht besonders groß. Doch was ist schon von Anfang an groß? Wahrscheinlich hat das ganze Universum im Anfang dessen, was wir Zeit nennen, auf einer Nadelspitze Platz gehabt. Verglichen damit verlangt uns das Gleichnis vom Senfkorn ungleich weniger an Vorstellungskraft ab.

Es sind die kleinen Zeichen, die uns an die Kraft erinnern, mit der unser Glaube die Wirklichkeit deutet und ihr Sinn verleiht. Das kleine Senfkorn erinnert daran. Eine Kastanie, die Sie aufheben und sich in die Tasche stecken, kann diesen Erinnerungsdienst ebenfalls übernehmen. Der aus Bronze gegossene Engel, den ich dann und wann einem Menschen schenke, der einen langen und schwierigen Weg vor sich hat, erfüllt diese Aufgabe auch. Unsere Wirklichkeit wird zu Gott in Beziehung gesetzt. So wird sie zum Geschenk Gottes, zur Schöpfung. Dank und Freude an allem, was Gott uns geschenkt hat, geben den Ton an. Mit diesem freudigen Bekenntnis beginnen unsere Andachten, unsere Gottesdienste  und unser Beten. Mit ihm beginnt auch ein neuer Abschnitt auf dem Weg des Kirchenkreises Tempelhof: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat, der Bund und Treue hält ewiglich und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände. Amen.