Predigt im Gottesdienst in der St. Moritz-Kirche zu Mittenwalde

Wolfgang Huber

I.

Gipfeltreffen haben heute Konjunktur. Gleich die Spitzen von acht Staaten trafen sich im vergangenen Sommer in Heiligendamm. Ein Gipfeltreffen folgt dem anderen, wenn die Bundeskanzlerin in diesen Tagen durch Afrika reist. Und wenn die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York zusammentritt, geben sich Spitzenpolitiker die Türklinken in die Hand.

Ein Gipfeltreffen ganz anderer Art führt uns heute in Mittenwalde zusammen. Paul Gerhardt trifft Johann Sebastian Bach. Paul Gerhardt, der größte Kirchenliederdichter deutscher Sprache, trifft Johann Sebastian Bach, den fünften Evangelisten. Der Künstler der Worte trifft auf den Künstler der Töne. Und der eine wie der andere wollte niemals selbst auf dem Gipfel stehen; beide wollten sie vielmehr Gott preisen. Der eine wie der andere wollte niemals selbst der Größte sein; was sie schufen, war vielmehr der größeren Ehre Gottes geweiht.

Heute würde der eine wie der andere als Popstar gefeiert – und das zu Recht. Von Johann Sebastian Bach gibt es Melodien, die sich in jedes Ohr graben; ich nenne nur die Choralvertonung von Wachet auf, ruft uns die Stimme als Beispiel. Und von Paul Gerhardt gibt es Texte, die sich jedem ins Herz senken, der sie einmal gehört hat: Befiehl du deine Wege / und was dein Herze kränkt / der allertreusten Pflege / des, der den Himmel lenkt. / Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.

Ein Glaubensbote der Sprache trifft einen Glaubensboten der Musik. Das bestimmt unseren heutigen Gottesdienst. Zu diesem Treffen wäre es wohl nicht ohne die besondere Wendung gekommen, die der Lebenslauf Johann Sebastian Bachs wie derjenige Paul Gerhardts genommen hat. In Bachs Fall trägt diese Wendung den Namen Leipzig: dort wurde er Thomaskantor – und widmete sich fortan der geistlichen Musik. In Paul Gerhardts Fall trägt diese Wendung den Namen Mittenwalde: hier wurde er Propst – und damit nahm sein klägliches Hauslehrerdasein ein Ende. Gewiss: Bachs Leipziger Wirken dauerte 27 Jahre; Paul Gerhardt dagegen hielt sich nur sechs Jahre in Mittenwalde auf. Doch für sein dichterisches Wirken sollte die Mittenwalder Zeit von herausragender Bedeutung sein. Geh aus, mein Herz, und suche Freud will ich nur als Beispiel dafür nennen, welchen inneren Aufschwung ihm diese Jahre beschert haben – neben dem schweren Leid, von dem auch gleich die Rede sein muss. Es ist kein Zufall, dass Theodor Fontane das Wirken von Paul Gerhardt als den „Glanzpunkt in der Geschichte Mittenwaldes“ bezeichnet. Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass Mittenwalde dem protestantischen Geburtstagskind dieses Jahres, dem zeitweiligen Mittenwalder Propst, in diesem Jahr ein so intensives Gedenken widmet.

Paul Gerhardt in Mittenwalde, Johann Sebastian Bach in Leipzig – mit ein paar Strichen will ich beschreiben, was den einen hierhin und den anderen dorthin geführt hat.

II.

Erinnern wir uns an die Zeit, in der Paul Gerhardt lebte: die Zeit des dreißigjährigen Krieges. Die kriegsbedingte  desolate Lage in Brandenburg kommt in einem zeitgenössischen Schreiben aus dem Jahre 1640 so zum Ausdruck: „Aus solchem Totalruin und Verderb, wie es der Krieg herbeiführt, entspringt zuvorderst dieses Unheil, dass bei so gänzlicher Verwüstung der Städte und Dörfer fast keine Mittel mehr vorhanden...[sind], woraus dann weiter entstehet, dass der größte Teil der Prediger fast vor Hunger verschmachten.“

Auch in Mittenwalde waren die Verhältnisse jammervoll. Das an der Heerstraße nach Dresden gelegene Städtchen war durch Besetzung und Brandschatzung, Plünderung und Pest, Vergewaltigung und Hunger schwer geschädigt. Mittenwalde hatte während des Krieges drei Viertel der Einwohner verloren und war auf 250 Personen gesunken. Von den 242 Haushalten vor dem Krieg bestanden im Jahr 1645 nur noch 42. Als Paul Gerhardt 1651, drei Jahre nach Kriegsende, nach Mittenwalde kam, gab es allerdings schon wieder 700 bis 800 Einwohner.

Obwohl die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges sehr lange zurückliegen, berühren uns die Schilderungen dieser Zeit unmittelbar. Heute und hier müssen wir uns mit einem Rückgang der Bevölkerung aus ganz anderen Gründen auseinandersetzen. Manche vergleichen das dennoch mit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges – zu Unrecht, wie ich finde. Aber dass in einer älter werdenden Gesellschaft noch immer so wenige Kinder geboren werden, macht uns unruhig. Wenn wir zurückblicken, kommen auch uns die verheerenden Auswirkungen von Krieg und Diktatur in den Sinn. Hinzu kommt ein Gefühl, dass die Gegenwart unsicherer geworden ist. Das plötzliche Hereinbrechen von Naturkatastrophen und der unterschwellig befürchtete Zusammenbruch  unserer Normalität – etwa durch einen Terroranschlag – beunruhigen viele Menschen. Doch wir wissen: Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie macht unfrei und hindert uns, aufrecht zu gehen. Wenn wir ängstlich auf mögliche Gefahren schielen, dann übersehen wir die großartigen Möglichkeiten, die wir zum Wohle aller ergreifen können.

Dafür, sich nicht von dunklen Gedanken gefangen nehmen zu lassen, gibt Paul Gerhardt ein großartiges Beispiel – auch in dem Lied, das unseren heutigen Gottesdienst prägt. 44 Jahre ist er alt, als sich ihm zum ersten Mal in seinem Leben die Möglichkeit einer festen Anstellung eröffnet. Am 28. September 1651 hält er in Mittenwalde seine Probepredigt und bleibt noch zwei Tage in der Stadt. Seine Präsentation muss auf Zustimmung gestoßen sein. Von einem Zeitgenossen Gerhardts gibt es folgende Schilderung seiner Predigtweise: „Sie bot vornehmlich diejenigen Eigenschaften, die das Wahrheitszeugnis dem gemeinen Manne, der nicht der täglichen Geistesarbeit gewohnt ist, allein nahe zu bringen vermögen: eine volkstümliche, gegenständliche Sprache, eine dem Einfachen und Naheliegenden zugewandte Gedankenwahl und ein behagliches, alles Sprunghafte vermeidendes Verweilen im einzelnen – Vorzüge, denen wir auch in seinen Liedern immer wieder begegnen.“

Nachdem Paul Gerhardt am 18. November 1651 in der Berliner Nikolaikirche zum Pfarrer ordiniert wurde, geht er, wie gesagt: im Alter von 44 Jahren, nach Mittenwalde, um von dort aus das Amt des Propstes auszuüben. Zur Propstei gehörten elf Pfarrstellen. Neben Mittenwalde zählen beispielsweise Gräbendorf, Teupitz und das heutige Königs Wusterhausen zu dem Bereich, in dem Paul Gerhardt geistliche Beratung zu geben hat und, was er weniger gern tut, die Verwaltung im Blick behalten soll. Im Mittenwalder Kirchenbuch finden sich Eintragungen von Gerhardts Hand, die am 1. Januar 1652 beginnen und bis zum 31. Dezember 1656 reichen.

Weil Paul Gerhardt nun endlich über einen gesicherten Lebensunterhalt verfügt, kann er um die Hand von Anna Maria Berthold, der jüngsten Tochter eines Berliner Kammergerichtsadvokaten, anhalten, die er als Hauslehrer der Familie kennen gelernt hat. Im Februar 1655 lassen sich die beiden in Berlin trauen. Ihre Tochter Maria Elisabeth erblickt das Licht der Welt im Mai 1656; doch sie stirbt schon bald. Die Trauer der Eltern ist groß; die noch heute im rechten Seitenschiff dieser Kirche auffindbare Gedächtnistafel für das im ersten Lebensjahr verstorbene Töchterlein trägt die bittere biblische Widmung: Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens. Dieses Bibelwort deutet an, wie schmerzlich es für das Ehepaar gewesen sein muss, das geliebte Kind zu verlieren. Vielleicht trägt diese Erfahrung dazu bei, dass Paul Gerhardt sich im Mai des für ihn so schrecklich begonnenen Jahres nach Berlin an die St. Nikolaikirche rufen lässt. Aber er hinterlässt viele Zeichen eines ungebrochenen Vertrauens zu Gott. Ihm hat er ganz besonders an den Tiefpunkten seines Lebens einen unvergesslichen Ausdruck gegeben.

III.

Paul Gerhardt in Mittenwalde – Johann Sebastian Bach in Leipzig. Wir schreiben das Jahr 1723: Der alte Thomaskantor Johann Kuhnau ist bereits im Sommer des vorangehenden Jahres gestorben; seitdem ist das Amt unbesetzt. Die Benennung eines neuen Thomaskantors ist Sache des Rates der Stadt. Die Herren Bürgermeister sind zwar alle studiert, weise und weltgewandt, verstehen aber nicht viel von Musik. Sie hätten am liebsten einen Leipziger, oder wenigstens einen, den man in Leipzig kennt. Für die Stelle wird schließlich jemand favorisiert, der zwar nicht aus Leipzig stammt, sich aber doch auch schon in dieser Stadt einen Namen gemacht hat: der Komponist Georg Philipp Telemann, Kantor und Musikdirektor der vier Hauptkirchen in Hamburg, „weil er nun wegen seiner Music in der Welt bekant wäre“, so das Ratsprotokoll. Doch Telemann sagt kurzfristig ab, da seine Entlohnung in Hamburg um 400 Taler erhöht wird. Also wird das Amt einer Reihe weiterer Kandidaten angeboten, die ich hier nicht im einzelnen aufzählen will. Schließlich landet man mit diesen Bemühungen bei dem hochfürstlichen Kapellmeister zu Köthen, Johann Sebastian Bach. Gern wird dazu der Kommentar eines Ratsherrn zitiert: „da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müße man mittlere nehmen.“ Die Äußerung zeigt, dass sich die Begeisterung des Rates über diese Entwicklung, aber eben auch seine Urteilskraft in musikalischen Fragen in Grenzen hält.

Am 19. April 1723 unterschreibt Bach einen Revers, in dem er sich bereit erklärt, im Fall seiner Wahl einen Entlassungsschein aus seiner alten Stelle mitzubringen, seine Lehrtätigkeit an der Thomasschule gewissenhaft zu verrichten, nach Bedarf Gesangsunterricht zu erteilen, kein zusätzliches Geld zu fordern, sollte er sich beim Lateinunterricht vertreten lassen, kein Universitätsamt anzunehmen, und Leipzig nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis des Rates zu verlassen. Außerdem erteilt der Rat die Auflage: „zu Beybehaltung guter Ordnung in den Kirchen die Music dergestalt ein(zu)richten, daß sie nicht zulang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskomme, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.“

Drei Tage später wählt der Rat Bach einstimmig zum Thomaskantor; am 5. Mai 1723 wird er schließlich, im Alter von 38 Jahren, in der großen Schulstube in sein neues Amt eingeführt. Zuvor musste sich der neue Kantor in einer Glaubensprüfung als firm in orthodoxer Theologie erweisen.

Die Thomasschule ist eine Armenschule mit Internat, und gerade vor Bachs Dienstantritt in erbärmlichem Zustand. Schon sein Vorgänger klagte, dass alle Schüler die Krätze hätten und der Chorgesang darunter leiden müsse. Seit über 200 Jahren wurde an dem Gebäude nichts gemacht - der Rat überlässt es seinem langsamen Verfall. Bachs Kollege, der Magister Pezold weist darauf hin, dass Ratten und Mäuse in solcher Menge auf der Thomas-Schule angetroffen werden, dass sie auch am hellen Tage hervor kämen, ja um 1 Uhr Nachmittags mitten auf der Schultreppe zu betrachten seien.

IV.

Unter solchen Bedingungen entsteht Bachs wunderbare Musik; unter solchen Bedingungen verleiht er Paul Gerhardts Worten Töne. Weithin bekannt ist, wie das in der Matthäus-Passion geschieht: O Haupt voll Blut und Wunden, / voll Schmerz und voller Hohn, / o Haupt, zum Spott gebunden / mit einer Dornenkron. Weniger bekannt ist, wie Johann Sebastian Bach einer ganzen Kantate ein Lied Paul Gerhardts zu Grunde gelegt hat. Deren ersten Teil haben wir vor der Predigt gehört. Die Kantate wurde für den 28. Januar 1725 komponiert. Sie stammt aus der Zeit der Ratten und Mäuse auf der Schultreppe. Sie gehört zu dem von Bach 1724/1725 geschaffenen Leipziger Jahrgang von Choralkantaten, die wohl das umfassendste Projekt im Werk des Komponisten überhaupt darstellen. Es ist die einzige Kantate Johann Sebastian Bachs, die in ihrem gesamten Text von einem Lied Paul Gerhardts bestimmt ist. Ich hab in Gottes Herz und Sinn / mein Herz und Sinn ergeben; / was böse scheint, ist mir Gewinn, / der Tod selbst ist mein Leben. Da dieses Lied in unserem Gesangbuch nicht enthalten ist, ist es ein umso größeres Geschenk, ihm in der Vertonung von Johann Sebastian Bach zu begegnen, der die Melodie des Liedes Was mein Gott will, gescheh allzeit zu Grunde liegt.

Ein unbekannter Zeitgenosse Bachs hat Paul Gerhardts Worte mit eigenen Worten verschränkt. In besonderer Weise geschieht das in der zweiten Strophe. Paul Gerhardts Text für diese Strophe heißt: Das kann mir fehlen nimmermehr, / mein Vater muss mich lieben. / Wenn er mich auch gleich wirft ins Meer, / so will er mich nur üben / und mein Gemüt / in seiner Güt / gewöhnen, fest zu stehen. / Halt ich dann stand, / weiß seine Hand / mich wieder zu erhöhen.

 Dicht sind die Bilder, wie wir das nur von Paul Gerhardt kennen. Ausweglos wird das Schicksal geschildert; immer wieder gilt ihm die Tiefe des Meers dafür als Beispiel. Denn dieses Bild macht besonders deutlich, dass wir uns nicht selber retten können, sondern allein von einer anderen Hand, von der Hand Gottes Rettung erhoffen können. Inhaltlich und musikalisch stehen diese Worte wie Felsen des Vertrauens in den Wirbeln der Anfechtung, die durch die kommentierende Musik aufbranden.

Ein Grundthema christlicher Frömmigkeit kommt in Wort und Musik zu einem unnachahmlichen Ausdruck. Der Weg aus den Tiefen des Glaubenszweifels ins Freie einer unerschütterlichen Hoffnung wird gezeichnet. Inmitten noch so tosender Wasser wird der Anker des Gottvertrauens ausgeworfen. Dietrich Bonhoeffer wird später diese Gewissheit wieder aufnehmen, wenn er bekennt: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“

Das ist der Grundton schon bei Paul Gerhardt. Dass Gottvertrauen uns in den Höhen wie in den Tiefen unseres Lebens, in seiner Mitte wie an seinen Grenzen trägt, lässt sich bei ihm lernen und durch seine Lieder einüben. Dieser Ton prägt das ganze Lied Paul Gerhardts – bis hin zu seiner Schlussstrophe, mit der auch Johann Sebastian Bachs Kantate endet: Soll ich denn auch des Todes Weg / und finstre Straße reisen, / wohlan, so tret ich Bahn und Steg, / den mir dein Augen weisen. / Du bist mein Hirt, / der alles wird / zu solchem Ende kehren, / dass ich einmal / in deinem Saal / dich ewig möge ehren.

Amen.