Festgottesdienst zur Wiedereinweihung der Kirche in Mürow (Johannes 15, 9-17)

Wolfgang Huber

I.

Die Notabstützungen sind aus der Kirche verschwunden. Die Orgel wurde wieder ausgepackt. Vorbei ist die Zeit der Ausweichgottesdienste in Gaststätte oder Winterkirche. Die ganze Mürower Dorf- und Kirchengemeinde hat Grund zu großer Freude. Endlich ist die Zeit der Provisorien vorüber. Das Gotteshaus ist wieder angemessen hergerichtet. Die Kirche schmückt den Dorfanger und lädt Groß und Klein zum Eintreten ein.

Dieser Vorgang atmet Geschichte. Die erste Erwähnung des Ortes vor 653 Jahren weist längst nicht auf die wirklichen Anfänge zurück. Diese aus Feldsteinen gebaute Kirche, die wir heute wieder in Gebrauch nehmen, ist weit älter und stammt bereits aus dem 13. Jahrhundert. Mehr als 700 Jahre schauen wir damit zurück. Und im Fall von Mürow wissen wir es genau: Dieser Ort war schon lange besiedelt, bevor die erste Urkunde das festgehalten hat und bevor dieses Kirchengebäude errichtet wurde. Das Großsteingrab, das sich hier erhalten hat, führt uns in die Jungsteinzeit zurück. Damit werden wir einen Zeitraum versetzt, der Jahrtausende vor Christi Geburt liegt. Ich halte immer wieder den Atem an, wenn ich in so große geschichtliche Zeiträume hineingestellt werde. „Bis hierher hat mich Gott gebracht / durch seine große Güte, / bis hierher hat er Tag und Nacht / bewahrt Herz und Gemüte.“ Was das Kirchenlied mit solchen Worten besingt, gilt eben nicht nur für das persönliche Leben; es gilt auch für das Leben der Menschheit, dessen großer Atem uns an einem solchen Tag spürbar umweht.

Deshalb freue ich mich, zusammen mit meiner Frau an diesem wichtigen Tag bei Ihnen zu sein. Gern bringe ich Ihnen die Segenswünsche unserer Kirche und freue mich mit Ihnen darüber, dass die Arbeiten an diesem Kirchengebäude nun zu einem guten Abschluss gekommen sind.

Sagenumwoben ist dieser Kirchenbau bis in die jüngste Vergangenheit. Schon vor der Wende haben die Mürower sich um seine Erhaltung bemüht. Die Wiederherstellung des Kirchturms wurde schon vor 1989 in Gang gebracht. Wie das Gold für die Kirchturmbekrönung nach Mürow kam, konnte ich allerdings nicht herausfinden; sicher wird es mir nachher jemand erklären. Dass den Mürowern ihre Kirche viel wert ist, das kann man jedenfalls spüren, wenn man hierher kommt. So möge es bleiben, über eine lange, von Gott gesegnete Zeit.

Denn diese Kirche bildet mitten im Dorf ab, wozu Jesus Christus uns einlädt. Es geht darum, dass wir als lebendige Steine im Namen Gottes eine Gemeinschaft bauen, die Starke und Schwache trägt. Weil die Erfahrungen mit der Güte Gottes zu den besonders kostbaren Geschenken gehören, die uns in die offenen Hände gelegt werden, ist es verständlich, dass die Mürower Mut zur Kostbarkeit bewiesen haben, als es darum ging, die Kirche wieder herzurichten. Allen, die dabei geholfen haben, sage ich dafür von Herzen Dank.

II.

Ich glaube, für alle Beteiligten ist es ein Gefühl des Glücks, dass dieses Vorhaben nun zu einem guten Abschluss gekommen ist. Glück – wer würde sich danach nicht sehnen. Diese große Sehnsucht ist in unserem Glauben tief verwurzelt. Jesus wusste von dieser Sehnsucht, als er von den Seinen Abschied nahm. Das Johannesevangelium widmet deshalb den Worten große Aufmerksamkeit, mit denen Jesus vor seiner Gefangennahme seinen Jüngern letzte Weisungen gab. Seine Worte wurden zu einem Vermächtnis – zum Vermächtnis dessen, der durch seine Hingabe  ein für alle Mal die Güte Gottes bekräftigt und beglaubigt hat. In diesem Vermächtnis Jesu heißt es:

Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.

Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.

Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.

III.

Für unsere heutigen Ohren sind das unvertraute Worte. Dabei geht es um ein Thema, dem sich kaum jemand entziehen kann. Es geht um Liebe und Freundschaft. Es fällt auf, dass Jesus vor allem diese zwei Werte anspricht. Sie sind uns sehr wohl vertraut. Nach nichts sehnen sich die Menschen mehr. Umfragen bei Jugendlichen bestätigen, dass verlässliche Freundschaft und Liebe, ja sogar Treue bei ihnen ganz hoch im Kurs stehen. Selbst wenn sie bei den Eltern erlebt haben, dass nicht alle Blütenträume reifen, fangen junge Leute doch wieder mit dem Träumen von vorne an. Denn kaum etwas hat im Leben einen höheren Rang.

Natürlich gibt es Menschen, die sich von Liebe und Freundschaft fernzuhalten versuchen. Sie scheuen die Enttäuschung. Gerade lese ich in einem Buch des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell, wie sich jemand auf eine einsame Insel in den schwedischen Schären zurückzog, um in der Einsamkeit nicht nur vor den Verführungen von Liebe und Freundschaft, sondern mehr noch vor ihren Enttäuschungen  bewahrt zu bleiben. Doch sogar in dieser Einsamkeit holt ihn das wirkliche Leben ein. Eine frühere Geliebte findet seinen Aufenthaltsort heraus; schon vom Tode gezeichnet kommt sie, die sich nur noch mit Hilfe eines Rollators bewegen kann, zu seiner Überraschung auf der einsamen Insel an. Wir leben als Menschen in Beziehungen; wir können dem nicht entkommen. Deshalb sind Liebe und Freundschaft die großen Themen unseres Lebens – von der Jugend bis ins hohe Alter.

Von Liebe und Freundschaft ist in Jesu Abschiedsstunden oft und intensiv die Rede: Liebt einander! Dieser Werbung für Güte und Mitmenschlichkeit geht allerdings eine Feststellung voraus: Wie mich der Vater geliebt hat, so liebe ich auch euch. An der ersten Stelle steht nicht die Aufforderung zur Liebe, sondern das Geschenk der Liebe. Jesus bringt eine Erfahrung zum Ausdruck, die auch schon in den zehn Geboten zu finden ist. Denn auch dort ist zuerst vom Handeln Gottes die Rede und erst danach folgen die einzelnen Gebote. Mit einer Zusage beginnen die zehn Gebote: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Daran erst schließen sich die Folgerungen an: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Oder: Du sollst nicht töten.

Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich das verstanden hatte: Mein Leben ist ein Geschenk der Liebe Gottes; dem entspreche ich am besten dadurch, dass ich selbst zur Liebe bereit bin. Mit meiner Geburt hat Gott sich zu meinem Freund erklärt; und er hält mir die Treue, selbst in schwierigen Zeiten – auch dort, wo ich nach seinen Maßstäben versage; dem entspreche ich am besten, indem ich in meiner Freundschaft wenigstens von ferne so großzügig zu sein versuche wie er. Ich habe gelernt, die Freundschaft nicht gleich aufzukündigen, wenn jemand etwas Befremdliches tut. Denn wie befremdlich muss mein Verhalten für Gott sein! Ich habe mit meinen Nächsten wieder neu angefangen, auch in verfahrenen Situationen. Denn Gott fängt mit mir immer wieder neu an; jeder beginnende Morgen ist ein Gleichnis dafür. Meinem Leben gibt das eine große innere Freiheit; ich spüre etwas davon, an Gottes Freiheit teilhaben zu dürfen.

Am Beginn des Lebens, vor allen eigenen Leistungen, steht das Geschenk, von Gott ins Leben gerufen zu sein. Vor allen Gesetzen und Verordnungen steht die Zuwendung Gottes zu uns. Wenn wir uns auf diese Spur begeben, geraten wir mitten hinein in das Kraftzentrum des christlichen Glaubens.

Dass wir mit diesem Kraftzentrum verbunden bleiben, ist der Sinn der Gebote. Jesus erläutert das so: Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Er sagt es ganz einfach. Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Und: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.

Ganz einfach ist das. Die Größe der Liebe besteht darin, dass ich vorbehaltlos für andere da bin. Jesus hat gezeigt, dass das bis zur Hingabe des eigenen Lebens gehen kann. Bei anderen hat sich das wiederholt, bei Dietrich Bonhoeffer, bei Martin Luther King, bei Mutter Teresa. Wir anderen fragen, ob es nicht eine Nummer kleiner geht, so, dass es zu uns passt – in Mürow und Angermünde, in Berlin oder in Görlitz. Manchmal werde ich gefragt, ob ein Dasein „für" andere nicht das eigene Ich entwertet und vernachlässigt. Das Beispiel Jesu zeigt das Gegenteil. Er lebt „für" die Seinen, weil er sich von der Liebe des Vaters getragen weiß. Er weiß, dass er nichts verliert, wenn er sich für andere einsetzt. Denn auch darin noch erfährt er Gottes Liebe. Dasselbe gilt nun für die Seinen. Weil sie von Jesus geliebt sind, können sie einander respektieren und sich mit Güte und Wohlwollen begegnen.

Wir wissen aus dem Evangelium, dass Jesus auch Gefühle der Sympathie und der Zuneigung hatte. Von seinem Lieblingsjünger ist die Rede; auch in diesem Sinn war ihm Freundschaft nicht fremd. Auch für ihn gab es Menschen, mit denen er „auf der gleichen Wellenlänge“ war, und andere, bei denen es vielleicht etwas länger gedauert hat. Aber für alle seine Jünger galt, dass sie nicht abhängige „Knechte“ sein sollten, sondern selbständige Freunde. Denn einem Menschen wirklich mit Liebe und Freundschaft zu begegnen – das bedeutet doch: ihm dabei zu helfen, dass er ganz er selbst sein kann. Jesus hat vor seinen Freunden alles ausgebreitet, was er an Güte empfangen hat. Sie erfahren durch Jesus, wer Gott wirklich ist – von Angesicht zu Angesicht. Er ist für sie da bis zu seiner Lebenshingabe am Kreuz. Er begegnet den trauernden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, als andere ihn längst totgesagt hatten.

IV.

Liebe Festgemeinde in Mürow, das Vermächtnis Jesu aus seiner Abschiedsrede gilt uns. Es ist uns allen, den Gliedern der Kirchengemeinde und denen, die wieder in die Kirche eintreten oder sich taufen lassen wollen, zugesprochen. Es gilt auch denen, die noch unsicher sind und suchen. Wir können ein Freund oder eine Freundin Jesu sein. Diese Freundschaft ist ein Geschenk. Sie ist mehr als ein Zufall und gründet tiefer als auf äußerer Sympathie. Denn Jesus offenbart uns, wer Gott wirklich ist. Er teilt uns mit, was er von seinem Vater erfahren hat. Uns ist seine ganze Liebe und Lebenshingabe gewidmet. Jesus ruft uns zu einem Leben aus Liebe. Als Freunde und Freundinnen Jesu sind wir eingeladen, in seiner Liebe zu bleiben. Es darf uns stolz und fröhlich machen, dass Jesus Christus uns dieses Vermächtnis zugesprochen hat. Es darf uns stolz und fröhlich machen, wenn wir deutliche Zeichen für dieses Vermächtnis errichten und erhalten - so wie die Dorfkirche hier in Mürow. Eine klare Botschaft geht von hier aus: Die Fröhlichkeit Jesu Christi soll die Menschen begeistern; die Freude über Gottes Liebe soll sich immer wieder ausbreiten. Aus Gottes Güte empfangen wir unser Leben. Und wir können darauf vertrauen, dass die Liebe Früchte trägt.

Amen.