Predigt zum Reformationsfest in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Ich lebe gern in Berlin. In unserer Stadt kann man sich wohl fühlen. Doch jedes Jahr im Oktober überfällt mich eine gewisse Wehmut. Am 31. Oktober wäre ich lieber ein Bürger Brandenburgs. Denn Brandenburg achtet den Reformationstag; er ist als arbeitsfreier Feiertag gesetzlich geschützt. Die Berlinerinnen und Berliner müssen dagegen an diesem Tag arbeiten. Umso größer ist meine Freude über die gut gefüllten Berliner Kirchen am Reformationstag. Aber noch größer wäre meine Freude, wenn die Berlinerinnen und Berliner am Vormittag wie am Abend des Reformationstags den Gottesdienst besuchen könnten, ohne mit ihren beruflichen Pflichten in Konflikt zu geraten.

Aber der erste und wichtigste Schritt dazu liegt bei uns selbst. Es ist an uns, die Glaubensglut wieder zu entdecken, die durch Martin Luther und die Reformation geweckt wurde. Es ist an uns, neu zu würdigen, worin die ökumenische Bedeutung der Reformation besteht. Es ist an uns, evangelisch Kirche zu sein und dadurch unseren Beitrag zum gemeinsamen Zeugnis der Christenheit zu leisten. Dadurch nämlich gewinnt der Reformationstag Gehalt und Leuchtkraft.

Dazu werden wir heutzutage aufgefordert durch Menschen, von denen wir das gar nicht erwartet hätten. Einer, der neudeutsch als Comedian bezeichnet wird, spricht solche Erwartungen aus, indem er von seinen Reisen berichtet. „Ich bin dann mal weg“ heißt sein Reisetagebuch, in dem er von seinen Erfahrungen auf dem Jakobsweg erzählt.  In diesem Buch schreibt er uns Christen Folgendes ins Stammbuch: „Gott ist für mich so eine Art hervorragender Film wie ‚Ghandi’, mehrfach preisgekrönt und großartig! Und die Amtskirche ist lediglich das Dorfkino, in dem das Meisterwerk gezeigt wird. Die Projektionsfläche für Gott.“ Ich gebe zu, das ist ein ungewohntes Kirchenverständnis; in den Perspektivpapieren unserer Kirche habe ich das so plastisch noch nicht gelesen. Ungewohnt, freilich auch ein bisschen ernüchternd ist die Beschreibung dieses „Dorfkinos“, als das unser reisender Autor die „Amtskirche“ sieht. „Die Leinwand hängt leider schief, ist verknittert, vergilbt und hat Löcher. Die Lautsprecher knistern, manchmal fallen sie ganz aus oder man muss irgendwelche nervigen Durchsagen während der Vorführung anhören. ... Kein Vergnügen wahrscheinlich, sich einen Kassenknüller unter solchen Umständen ansehen zu müssen. Viele werden rausgehen und sagen: ‚Ein schlechter Film’. Wer aber genau hinsieht, erahnt, dass es sich doch um ein einzigartiges Meisterwerk handelt. ... Leinwand und Lautsprecher geben nur das wieder, wozu sie in der Lage sind. Das ist menschlich. Gott ist der Film und die Kirche ist das Kino, in dem er läuft. ... Und vielleicht spielen wir ja mit!“

Hape Kerkeling – er ist der Autor dieses religiösen Bestsellers – sagt: Ihr habt einen grandiosen Schatz, ein einzigartiges Meisterwerk. Er bestätigt uns, dass wir auf der richtigen Spur sind und, um in seinem Bild zu bleiben, den richtigen Film in unseren „Dorfkinos“ zeigen. Ja, er weist uns auch auf Qualitätsmängel in der Wiedergabe hin und erbittet von uns mehr Professionalität, damit die uns anvertraute Meistererzählung mehr Menschen erreicht und begeistert.

Dabei brauchen wir uns nicht zu verstecken. Wir haben starke Ausdrucksformen für das, was in der Reformation neu entdeckt wurde: die verwandelnde Kraft der Gnade Gottes. Große Lieder sind eine dieser Ausdrucksformen. Wieder und wieder werden sie gesungen. Ein feste Burg ist unser Gott bleibt ein unvergleichliches Beispiel dafür – das Reformationslied Martin Luthers. Nahezu in jedem Reformationsgottesdienst singen wir es. Nur in diesem nicht. Was ist der Grund?

In diesem Jahr richten wir unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Lied, das durchaus auch ein Reformationslied genannt werden kann. Die ersten Strophen dieses Liedes sind schon erklungen: Ist Gott für mich, so trete / gleich alles wider mich; / so oft ich ruf und bete, / weicht alles hinter sich. Paul Gerhardt verdanken wir dieses Lied, in dem die Freiheit eines Christenmenschen einen so starken und überzeugenden Ausdruck findet. Wie in vielen seiner Lieder hält der Dichter sich ganz eng an einen zentralen biblischen Abschnitt. Er stammt aus dem Römerbrief des Apostels Paulus, den man mit Fug und Recht als den biblischen Grundtext der Reformation überhaupt bezeichnen kann. Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wir haben diese Sätze aus dem Römerbrief vorhin gehört.

Viele Jahre hat Martin Luther der Auslegung dieses Briefs gewidmet. An ihm hat er die entscheidende reformatorische Entdeckung gemacht: Nicht wir erwerben uns die Gerechtigkeit vor Gott; sondern Gott selbst lässt uns an seiner Gerechtigkeit teilhaben, weil er uns durch das Opfer seines Sohnes alles schenkt, was wir brauchen – allein aus Gnade, die wir niemals aus eigener Kraft erwerben und erlangen können.

Aus diesem Geist des Römerbriefs bezieht die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens ihre Kraft. Aus diesem Geist veröffentlichte Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen. Er wollte die Kirche zu ihrem Ursprung rufen. Denn die Kirche Jesu Christi hat nicht etwa die Aufgabe, auf sich selbst aufmerksam zu machen, sondern auf das Ereignis, in dem Gott sich selbst ins Spiel bringt und durch das wir „Erlöste des Herrn“ genannt werden.

Damals verweigerte sich Rom der Erneuerung. Auch durch die Androhung des päpstlichen Banns ließ Luther sich nicht von seinen Überzeugungen abbringen. Dafür sei Gott gedankt. Was wahr ist, muss auch gesagt werden dürfen. Viele erinnern sich an Luthers Sätze wenige Jahre später in Worms: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Und wir erinnern uns auch daran, dass Martin Luther die Synchronisierung des „Films“, für den wir als Kirche immer wieder die Projektionsfläche sein wollen, ermöglicht hat. Er hat die Heilige Schrift in die deutsche Sprache übertragen und dadurch dem Inhalt der Bibel alle Autorität zuerkannt: Sola scriptura – allein die Schrift.

Der Harlekin und TV-Moderator unserer Tage und Martin Luther sagen es uns je auf ihre Weise: Bleibt dran! Besinnt euch auf den Kern eurer Botschaft, auf die tragende Wurzel. Alles kommt darauf an, dass wir am Wort bleiben, auch wenn es sich als sperrig erweist, selbst dann, wenn wir uns einige Zeit mühen, bis es wieder zum Klingen kommt. Nur so bleiben wir eine reformatorische Kirche, eine katholische Kirche, die durch die Reformation gegangen ist, eine Kirche des Evangeliums. Beharrlichkeit zeigt Wirkung. Wer sich gemeinsam mit anderen über die Heilige Schrift beugt, wird spüren, dass Gottes Geist uns in sein Kraftfeld zieht, überrascht und begeistert. Die Worte von einst sind wieder da – alt vertraut und doch ganz neu.

Paul Gerhardt war ein leidenschaftlicher Anhänger Martin Luthers. In Gräfenhainichen, ganz nah bei Martin Luthers Wittenberg, wurde er vor vierhundert Jahren geboren. Als die evangelische Kirche das einhundertste Jubiläum des Thesenanschlags an der Wittenberger Schlosskirche feierte, war Paul Gerhardt ein zehnjähriger Junge. Ein Jahr später brach der dreißigjährige Krieg aus, in dem auch die ungeklärten Konfessionsfragen eine bedrückende, ja unselige Rolle spielten. Immer wieder stand auch Paul Gerhardt vor der Frage, die schon Martin Luther umgetrieben hatte: „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ Er durchlitt auf seine Weise die große Spannung zwischen der Zusage des Glaubens und den gnadenlosen Lebenserfahrungen seiner Generation.

Auf einmalige und unvergleichliche Weise brachte er die Gnade Gottes zum Leuchten, die uns aufrichtet. Unvergesslich besang er Jesus Christus als die Sonne, die Licht in unser Leben bringt. Der Rechtfertigung allein aus Gnade, die Martin Luther wieder entdeckt hatte, hauchte er auf diese Weise Leben ein. Niemand, der sich an Paul Gerhardt hält, kann in dem Vertrauen auf Gottes zurechtbringende Gnade eine trockene „Rechtfertigungslehre“ sehen; vielmehr begegnet dieses Vertrauen als eine Kraft, die unserem Leben eine klare Richtung weist. Sie besingt er in unserem Lied mit folgenden Worten:

Mein Jesus ist mein  Ehre, / mein Glanz und schönes Licht. / Wenn der nicht in mir wäre, / so dürft und könnt ich nicht / vor Gottes Augen stehen / und vor dem Sternensitz; / ich müsste stracks vergehen / wie Wachs in Feuershitz.

Wer so singt, atmet auf. Du bist befreit. Satan und Hölle – oder wie immer man die gottlosen Gewalten nennen will – haben keine Macht mehr über Dich. Jetzt zählt nur noch die Gemeinschaft mit Gott, zu der Christus den Weg bahnt. Deshalb kannst Du aufatmen. Trotz deiner Schuld spricht Gott dich gerecht. So unannehmbar auch ist, was du tust oder was dir widerfährt: Gott nimmt dich an. Deshalb können wir bekennen:

Der, der hat ausgelöschet, / was mit sich führt den Tod; / der ist's, der mich rein wäschet, / macht schneeweiß, was ist rot. / In ihm kann ich mich freuen, / hab einen Heldenmut, / darf kein Gerichte scheuen, / wie sonst ein Sünder tut. // Nichts, nichts kann mich verdammen, / nichts nimmt mir meinen Mut: / Die Höll und ihre Flammen / löscht meines Heilands Blut. / Kein Urteil mich erschrecket, / kein Unheil mich betrübt, / weil mich mit Flügeln decket / mein Heiland, der mich liebt.

Welch ein Wechsel wird da beschrieben. Als ein Auslöschen, als ein Reinwaschen wird er dargestellt. Das Rot des Feuers wird durch Jesu Blut gelöscht; und es wandelt sich dabei in das Schneeweiß der Gnade. Die Zuversicht eines Lebens aus Glauben wird hier geschildert, bildkräftig und klar. Nicht selbstgemacht ist der Mut dieses Glaubens; sondern in Christus hat er einen festen Grund. Seine Ohnmacht am Kreuz befreit aus Höllenangst und aus der Übermacht des Unheils. Ich werde hineingenommen in diesen großen Atem des Glaubens.

Unerwartetes Leid kann ich ebenso zur Sprache bringen wie ungeahntes Glück. Das Lied des Glaubens wird so zur ersten Hilfe, im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn wir uns auf diese Hilfe einlassen, lernen wir wieder, Gott zu loben und ihm Lieder zu singen. Wir wagen den Schritt hinaus aus den Tretmühlen unseres Lebens – hinein in Gottes Gegenwart, hinein in die Freiheit der Kinder Gottes. Wir erfahren die Rettung allein durch Glauben, allein durchs Bibelwort, allein durch Gottes Erlösungstat in Christus. Unser Singen sagt Ja dazu. Ich lege alles andere aus den Händen und weiß mich in Gottes Güte geborgen. So erfahre ich gelebte Rechtfertigung.

Sein Geist wohnt mir im Herzen, / regieret meinen Sinn, / vertreibet Sorg und Schmerzen, / nimmt allen Kummer hin; /  gibt Segen und Gedeihen / dem, was er in mir schafft, / hilft mir das Abba schreien, / aus aller meiner Kraft.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.