Predigt im Rundfunkgottesdienst am Ersten Advent in St. Marien zu Berlin (Hebräer 10,19-25)

Wolfgang Huber

Da hält mir jemand die Tür auf, so voll bepackt wie ich bin mit Reisegepäck, Mantel und Blumen im Arm. Eine freundliche und aufmerksame Geste.

Während der Berlinale öffnet ein junger Mann jeweils die Tür der anrollenden Luxuslimousinen, damit die Stars ohne Mühe auf den roten Teppich hinaus in das Blitzlichtgewitter gleiten können. Eine sehr begehrte Dienstleistung, wenn auch nur für ein paar Tage.

Da hilft eine Hebamme der erschöpften jungen Frau im  Morgengrauen bei der Geburt ihres Kindes. All ihr Können und ihre Erfahrung setzt sich dabei ein und vermeidet so dramatische Komplikationen. Dann ist das Baby da, die Nabelschnur wird durchtrennt und der erlösende Schrei erklingt. Der Weg ist frei für den neuen Anfang.

Da begegnet einem fünfzigjährigen, in all den Jahren zynisch gewordenen Menschen Jesus Christus selbst und die Güte kehrt in sein Antlitz zurück. Alles erhält einen Sinn und fügt sich auf unerwartete Weise zusammen.

Von Jesus Christus sagt der Hebräerbrief, dass er den Vorhang bei Seite schiebt, das größte denkbare Geheimnis lüftet und uns den direkten Zugang zu Gott eröffnet. Hören wir auf den Hebräerbrief:

Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser. Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.

Der Vorhang, um den es geht, ist der berühmte und kostbare Stoff, der vor zweitausend Jahren im Jerusalemer Tempel hing. Dieser Vorhang soll schwer gewesen sein, ein wunderbar gewebtes Stück Stoff: Purpur, Weiß und Scharlachrot waren die Farben; eingewebt sah man zwei geflügelte Wächter, groß und majestätisch. Dieser Vorhang trennte einen besonderen Raum des Tempels vom Rest des heiligen Bezirks. Der Vorhang versperrte den Zugang zum Allerheiligsten, zur Wohnung Gottes. Nur einer durfte den Vorhang zur Seite schieben, und auch das nur einmal im Jahr. Erst nach ausgiebigen Ritualen der Reinigung durfte der Hohepriester diese Grenze überschreiten. Nichts Unheiliges oder Schmutziges, nichts Unangenehmes oder Unreines sollte Gott beleidigen. Gottes Herrlichkeit war zu furchtbar, zu groß, zu verzehrend, als dass ein normal Sterblicher sie aushalten würde.

Die römische Besatzungsmacht nahm die Verehrung des unsichtbaren Gottes im Jerusalemer Tempel nicht ernst. Dafür kannte man in Rom wie im ganzen römischen Reich zu viele Tempel und zu viele Gottheiten. Bereits im Jahre 63 vor Christi Geburt schockierte der römische Feldherr Pompeius die Einwohner Jerusalems, indem er sich Zutritt ins Allerheiligste verschaffte. Er demonstrierte seine Macht, indem er den Tempel entweihte. Als das jüdische Volk mehr als ein Jahrhundert später in einem bewaffneten Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht aufbegehrte, ging der gesamte Tempel in Flammen auf. Bis auf die Grundmauern brannte er nieder. Seit diesen Ereignissen gibt es in Jerusalem weder einen abgesonderten Tempelbezirk noch einen Vorhang, der das Allerheiligste vom Profanen trennt. Aber eine Sehnsucht ist geblieben, die jeder spürt, der heute Jerusalem besucht.

Das alles schwingt mit, wenn Jesus über den Jerusalemer Tempel sagt: Siehst du diese großen Bauten? Nicht ein Stein wird auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde. Und unvergesslich ist es, wie nach dem Bericht des Matthäusevangeliums der Vorhang vor dem Allerheiligsten genau in dem Moment von oben bis unten in zwei Stücke zerreißt, in dem Jesus am Kreuz auf Golgatha stirbt.

Der Vorhang hat sich nicht von selbst beiseite geschoben. Dazu brauchte es die Hingabe Jesu Christi. Dadurch verwandelt sich die Angst vor der Nähe Gottes Schritt für Schritt in Erleichterung und Freude. Es kommt ja kein gnadenloser Scharfrichter, sondern mein Fürsprecher. Ich muss mich nicht zu Tode schämen. Jesus hat sich für mich in den Tod gegeben. Mein Elend und Deine Scham und die Schuld der anderen  hat er mitgenommen ans Kreuz. Dort hat er Gott und Welt zusammen gebracht. Versöhnt hat er sie. Der Vorhang ist weg. Der Weg ist frei. Ich kann Gott finden in meinem Leben, bei Dir und auch dort, wo es eigentlich nicht passt. Um diesen freien Weg geht es im Advent; auf ihn bereiten wir uns vor; staunend stehen wir davor.

Die Wochen des Advent laden uns nicht nur dazu ein, besinnlich zu werden, sondern zur Besinnung zu kommen. Gerade an den Adventssonntagen kann uns deutlich werden, dass unser Weg zu Gott unverstellt ist. Niemand verlangt von uns, dass wir vor unser Herz eine Kette hängen, die uns die Freiheit raubt, den Sonntag zur Begegnung mit Gott zu nutzen. Dass wir nicht auch noch die Sonntage dem Kommerz ausliefern, ist ein Zeichen dafür. Jeder kann dieses Zeichen setzen. Wie also wollen wir Gott begegnen? Der Hebräerbrief antwortet: So lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.

Das sind starke Bilder: Besprengt in unsern Herzen, gewaschen am Leib, wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube. Anspruchsvoll klingt das, aber auch würdig. Gott naht sich, darum diese hohe Sprache. An die Taufe klingt sie an, daran ist kein Zweifel. In ihr verwirklicht sich die Zugehörigkeit zu Gott. Gottes Ja wird in ihr laut, bevor wir irgendein Ja sprechen können. Deshalb taufen wir auch in dieser Kirche, auch am heutigen Tag, und freuen uns, wenn Kinder und Erwachsene das Ja Gottes zu ihrem Leben hören und spüren.

Liebe Gemeinde, in diesen Adventswochen können wir uns prüfen, ob der Geist der Taufe neu in uns lebendig wird: Besprengt in unsern Herzen, gewaschen am Leib, wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube. Ein wahrhaftiges Herz bleibt nicht in sich verschlossen. Es ist für Gott und den Nächsten offen. Es erkennt die Not und die Liebe, die nötig ist. Deshalb ist es gut, dass wir pünktlich zur Adventszeit damit beginnen, mehr als sonst an andere zu denken.

Der Advent Gottes ebnet sich Bahn. Er tut es in vielfältigen Formen. Mit diesem Ersten Advent beginnt zum 49. Mal die Aktion „Brot für die Welt“, die weltweite Hilfsaktion der evangelischen Kirchen. In diesem Jahr treten vor allem die Kleinbauern in den Blick. Mit den Spenden dieses Jahres soll unter anderem in Mittelamerika ein Selbsthilfenetzwerk von Kleinbauern entstehen. Die Bauern stärken sich wechselseitig und lernen voneinander. Sie entwickeln Strategien, um nachhaltig und rentabel für die lokalen Märkte anzubauen. Es geht dabei nicht nur um wirtschaftliche Argumente. Es geht um Gerechtigkeit. Es geht um die Zukunft der Armen; deren Anwalt ist nach christlicher Überzeugung Gott selbst.

Der Advent Gottes ebnet sich seine Bahn. Manchmal kommt er sogar in Uniform und bricht die Wohnungstür auf. Er befreit ein verwahrlostes Mädchen aus den Fängen ihrer eigenen Eltern und beendet die Zeit der Finsternis und der Angst. Der Advent Gottes zieht den Vorhang des Schweigens weg und rettet, was zu retten ist.

Der Advent Gottes war vor einigen Tagen siebzehn Jahre alt und weiblich. Er ereignete sich im sächsischen Mittweida. Eine junge Frau half einem sechsjährigen Spätaussiedlermädchen, das von vier Männern herumgeschubst wurde, und beschützte es durch ihren Mut. Sie forderte die Männer auf, das Kind in Ruhe zu lassen. Daraufhin warfen die Täter die Siebzehnjährige zu Boden. Während drei Täter die Jugendliche festhielten, schnitt der vierte ihr mit einem skalpellähnlichen Gegenstand ein Hakenkreuz in die Hüfte. Zudem versuchte er, der jungen Frau eine Rune in die Wange zu schneiden. Dies habe er jedoch wegen der heftigen Gegenwehr der Siebzehnjährigen nicht geschafft, stellte die Polizei fest.

Der Advent Gottes ist stark und anspruchsvoll. Da gibt es nichts zu verniedlichen. Der Weg ist gebahnt. Nicht wir, nicht ich habe ihn gebahnt. Er ist gebahnt worden. Wir brauchen nur noch hineinzugehen. Doch wehe denen, die sich Gott in den Weg stellen. Wehe den Gewalttätern! Wehe denen, die schweigend hinter den Gardinen zusehen, ohne die Polizei zu rufen! Wehe denen, die den Gewalttätern auch nur einen Zentimeter Boden kampflos überlassen.

Es geht ums Festhalten am Glauben. So wie sich einer festhält, der abzustürzen droht. Festhalten können wir nur, wenn wir uns gegenseitig Halt geben und wenn wir uns gemeinsam an Gottes Wort orientieren.

Wir feiern heute den ersten Advent. Die Tür öffnet sich zu einem neuen Kirchenjahr, zu einem neuen Jahr des Heils. Wir kommen aus den dunklen Novembertagen. Aber nun beginnt etwas Neues. Wir gehen auf Weihnachten zu, auf das Erscheinen Gottes in einem Kind. Schritt für Schritt gehen wir zu dem geöffneten Vorhang. Und wenn wir in den Raum hinein schauen, sehen wir den großen Gott in diesem kleinen Kind. Das Göttliche macht Rast im Normalen, auch in Menschen, die kein Monumentalformat haben. Nicht groß und unnahbar, sondern zart und verletzlich. Klein und zart wie er ist, will er zu mir kommen und bei mir wohnen.

Der Vorhang ist weggezogen; Tür und Tor stehen offen. Gott kündet sein Kommen an. Deshalb wird auch die Welt neu werden. Tretet ein, haltet fest und achtet aufeinander.

Die Adventszeit ist eine Zeit der Achtsamkeit. Da werden sorgsam Adventskalender geöffnet und Geschenke ausgesucht. Die Tage sind voller Festvorbereitungen und Geheimnisse. Eine eigenartige Gespanntheit ergreift uns, Dich und mich. Die Adventszeit ist beispielhaft für das, was möglich ist im wandernden Gottesvolk.

So wie von heute an können wir immer miteinander leben. Dann ist Advent nicht nur im Dezember. Auch in anderen Zeiten des Jahres können wir achtsam miteinander umgehen.

Offenbar gehört es zur Hoffnung, dass man sie mit anderen teilt, dass man andere sieht und nicht ohne sie leben will. Viele Menschen sind auf dem Weg zu den Andern. Sie achten auf ihre Mitmenschen. Sie besuchen einander, sie basteln miteinander, sie beten füreinander. Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.

Amen.