Predigt im Festgottesdiest zum Neuen Jahr Im Berliner Dom (Philipper 4, 10-13)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Mit diesem Tag, liebe Gemeinde, öffnen sich die Pforten des Neuen Jahres; unverstellt liegen die Tage dieses Jahres vor uns. Vor unseren Augen erstreckt sich das Panorama einer offenen Landschaft. Weit ist der Blick. Einzelne Orte kennen wir schon, zu denen uns die Wege dieses Jahres führen werden. Zaghafte oder mutige Ideen für Verabredungen und Verpflichtungen bilden das Bett, durch das der Strom dieses Jahres fließen wird, gemächlich bald, bald lebhaft bewegt. Der Blick auf das Neue Jahr lässt Berge der Hoffnung und Täler von Befürchtungen vor Augen treten.

Auch diese Jahreswende ist von Gewalt überschattet. Wie im Brennspiegel eines einzelnen Ereignisses steht uns vor Augen, wozu unsere Welt fähig ist. Wie eine Wiederholung des Brudermords, von dem in den ersten Kapiteln der Bibel berichtet wird, erscheint uns das, was in Pakistan geschehen ist. Wer findet den Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt? So fragen wir und wissen: Ein einzelner kann es nicht sein. Die Überwindung der Gewalt ist eine Aufgabe der Völkergemeinschaft. Aber jeder einzelne muss seinen Beitrag leisten, auch hier in unserem eigenen Land.

Nicht nur mit Hoffnungen, sondern auch mit Sorgen gehen wir auf das Neue zu. Auch unser persönliches Leben ist von Ungewissheiten nicht frei. Auch scheinbar bekanntes Terrain enthält unerforschte Teile. Manchmal wünschten wir uns, wir könnten erst einmal einen Erkundungstrupp in das Land von Morgen schicken, bevor wir uns selbst auf den Weg machen. Doch das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Vertraut ist uns nur, was schon war. Vertrauen brauchen wir für das, was kommt. Jeder Tag erwartet uns so, wie Gott ihn uns schenkt.

Viele haben sich in der vergangenen Nacht über ihre Vorhaben und Vorsätze für das neue Jahr ausgetauscht. Mit diesem Silvesterbrauch wollen wir dem neuen Jahr zumindest eine Überschrift geben; wir wollen es so früh wie möglich mit einem eigenen Akzent versehen. Am liebsten wäre uns, wir hätten für den Weg durch das neue Jahr ein Navigationssystem, nach unseren eigenen Vorstellungen programmiert, das uns mit freundlicher Stimme auch durch unwegsames Gelände sicher hindurchleitet.

Doch die entscheidende Gewissheit für das neue Jahr gewinnen wir durch solche Vorstellungen nicht. Sie wächst aus der Zuversicht des Glaubens. Er hält sich an das Wort Jesu, das uns durch dieses Jahr leitet. Jesus sagt: Ich lebe, und ihr sollt auch leben.

Auch biblische Texte liefern keine detaillierte Karte von dem, was vor uns liegt. Sie bieten etwas anderes: die Gewissheit, dass Gott im Morgen wartet. Die Orientierung, die wir in Jesus Christus finden, geht über alle noch so sinnvollen technischen Errungenschaften unserer Zeit hinaus. Sie stellt unseren Weg unter eine besondere Verheißung. Heute begegnet uns ein Beispiel dafür, wie einer seinem persönlichen Leben aus dieser Verheißung heraus Gestalt gibt. Dieser einzelne ist der Apostel Paulus. Er schreibt gegen Ende seines Briefs an die Gemeinde in Philippi Folgendes:

Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat's nicht zugelassen. Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Und dann, ganz am Schluss: Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist!

Da wird eine konkrete Hilfe zum Spiegel des ganzen Lebens. Da wird der Beistand anderer Christen zum Träger der Botschaft: Ich lebe und ihr sollt auch leben.

Was war geschehen? Paulus, der Apostel der Heiden, war mit der Gemeinde in Philippi besonders verbunden, jener makedonischen Hafenstadt, die Paulus als erste Gemeinde auf europäischem Boden gegründet hatte. Aller Zwist, den es auch in dieser Gemeinde gab, konnte an der Zuneigung zwischen Paulus, dem Gemeindegründer, und seiner Lieblingsgemeinde nichts ändern. Die Verbindung bewährte sich auch in harten Zeiten. In Ephesus, auf kleinasiatischem Boden, wurde der unermüdliche Missionar festgesetzt. Auf unbestimmte und auch unbekannte Zeit wurde er gefangen gesetzt. Doch die Kunde von seiner Gefangenschaft gelangte nach Philippi. Dort suchte man nach einer Möglichkeit der Hilfe. Epaphroditos wird als Bote der Gemeinde mit einer ansehnlichen Summe Geldes auf den Weg geschickt. Das Geld erreicht den Adressaten; das Leben in Gefängnismauern wird für Paulus, der ohnehin schon von schwerer, chronischer Krankheit geplagt ist, auf diese Weise wenigstens erträglicher.

Überschwänglich preist der Apostel die Gunst, die ihm auf diese Weise widerfahren ist: Ich habe alles erhalten und habe Überfluss. Ich habe in Fülle ..., ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig.

Von einem, der ohne eigenes Verschulden, nur wegen seines Einsatzes für das Evangelium, im Gefängnis sitzt, sind das kühne Worte. Sie sind nur vorstellbar bei einem Menschen, der aus einer Grundhaltung der Dankbarkeit lebt. Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin. So heißt diese paulinische Grundhaltung. Beschwerliche Reisen, Enttäuschungen durch die Vergeblichkeit seiner Predigt, Krankheiten ohne Ende, die tägliche Mühe um den eigenen Lebensunterhalt und schließlich auch noch die Inhaftierung: nichts von alledem kann ihn davon abhalten, Gott zu danken: für das Leben, das er ihm geschenkt, und vor allem für das Licht der Wahrheit, in das er ihn geführt hat.

An Gottes Gnade lässt Paulus sich genügen. Daraus empfängt er die Kraft, den Umständen standzuhalten, in die er gestellt wird. Er lernt, mit Mangel umzugehen und sich am Überfluss zu freuen. Hungern und Sattsein nimmt er in gleicher Weise hin. Alles und jedes ist ihm vertraut.

Doch er bleibt offen für unerwartete Freude. Die Dankbarkeit, die den Grundton seines Lebens bildet, kann immer wieder einen neuen Aufschwung erleben. Diese Dankbarkeit wird neu gekräftigt durch die Fürsorge der Gemeinde in Philippi. Sie weckt in ihm Freude in dem Herrn. Das besondere Ereignis des Besuchs und der Gabe aus Philippi macht das Zentrum seines Lebens wieder auf kraftvolle Weise lebendig, das Leben aus Gnade, das Leben in Dankbarkeit.

Ein kurzes Dankschreiben wird uns hier überliefert. Doch wer diesen Worten nachgeht, wer sich auf sie einlässt, der entdeckt eine Gewissheit, die nicht vergeht. Fragend, getrost und unverzagt betreten wir den Weg in das Neue Jahr. Das Navigationsgerät dieser kurzen Episode ist die Zuversicht. Diese Zuversicht macht uns bewusst, was unser Leben prägen kann. Es ist ein Leben aus Gnade, ein Leben in Dankbarkeit.

Diese Haltung der Zuversicht wird uns für das neue Jahr mitgegeben. Sie hat ihren Grund in der Zusage Jesu Christi: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Diese Gewissheit hilft uns dabei, die Höhepunkte dieses Jahres wahrzunehmen und der Freude darüber Raum zu geben. Und sie kann uns auch dann tragen, wenn wir durch Täler der Sorge und durch Schluchten der Traurigkeit geführt werden.

Diese Haltung der Zuversicht wischt Zweifel nicht weg. Sie lässt auch den Fragen Raum. Denn wer mit dem Fragen aufhört, verfängt sich leicht in einem selbstgenügsamen Christentum oder in einem selbstgenügsamen Atheismus. Wer aber nach Gott fragt und um ihn ringt, begibt sich auf einen Weg, auf dem ihm Gott selbst entgegen kommt. Ich glaube, dieser Weg hat es heute auch vielen jungen Leuten angetan. Sie wollen nicht auf ausgetretenen Wegen hinterherlaufen, auch nicht auf ausgetretenen Wegen des Glaubens. Sie wollen selbst auskunftsfähig werden über die Zuversicht, die sie trägt. Sie wollen ihre eigene Sprache für die Hoffnung finden, von der sie sich leiten lassen.

Wir brauchen dem Zweifel nicht den Mund zu verbinden. Er darf laut werden. Aber wir dürfen uns in allem Zweifel an die Wahrheit halten, dass Gottes Güte uns trägt. In Gottes Güte ist unser ganzes Leben eingeschlossen. Es wird in das Licht dieser Wahrheit getaucht. Wir lassen dieses Licht hinein in unsere Verhältnisse. Wir finden uns nicht damit ab, dass Menschen gedemütigt, als Fremde verspottet, als Arbeitslose ausgeschlossen werden. In dem Licht dieser Wahrheit haben alle Platz.

Gestern, am letzten Tag des alten Jahres, erreichte mich ein Weihnachtsgeschenk, das mich besonders anrührte. Es stammte von meinem Patensohn Nathan. „Im Namen von Wolfgang und Kara Huber“, so hieß es auf einer kleinen Urkunde, „wurden Becher und Löffel für das Mittagessen in einer Schule in Ruanda bezahlt.“ Nathans Eltern hatten noch zwei Urkunden beigefügt. Sie berichten davon, dass für ein Kind Schulbücher und Schulmahlzeiten bezahlt worden waren. Wikwiheba heißt dieses Projekt in Byumba, einhundert Kilometer nördlich der ruandischen Hauptstadt Kigali. Von den 339 Kindern, die dort betreut werden, konnten zunächst 30 Kinder täglich mit einer warmen Mahlzeit versorgt werden. Nach diesem Weihnachtsfest, nach den Spenden, die Nathan und seine Schulkameraden mit ihren Eltern zusammengelegt haben, werden es deutlich mehr sein.

Es liegt nahe, dass die Bildungschancen von Kindern sich erhöhen, wenn sie täglich eine warme Mahlzeit bekommen. Was für die Kinder gilt, die bei uns in Berlin beispielsweise in der Arche Zuflucht finden, gilt ebenso für die Kinder in Byumba. Dadurch erschließt sich für sie ein Stück Zukunft. „Wikwiheba“ – so heißt der Name dieses Projekts. Das bedeutet auf Deutsch: „Verlier nicht die Hoffnung.“ Ein guter Leitstern für das Jahr 2008. Ein guter Leitstern, dem wir miteinander folgen können. Füreinander können wir Leitsterne der Hoffnung sein, gemeinsam auf dem Weg Jesu, der uns zuruft: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen