Predigt im Gottesdienst zur Schlüsselübergabe des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (1. Korinther 3, 11)

Wolfgang Huber

I.

Die Schlüsselübergabe gehört zu den festen Riten jeder Hauseinweihung. Vom Architekten über den Bauherrn zu den Nutzern wird der Schlüssel weitergereicht. Es geht darum, dass die Schlüsselgewalt über das fertige Gebäude zu der richtigen Person kommt. Nicht immer kann der Schlüssel, der dabei verwendet wird, auch wirklich benutzt werden; phantasievoll ist er oft gestaltet, nicht selten mit dem Gold, von dem gilt, das nicht alles Gold ist, was glänzt.

Wenn ein Institut, das sich der ökumenischen Forschung und der konfessionskundlichen Beobachtung widmet, eine Schlüsselübergabe begeht, dann ist das allerdings zugleich ein Symbol von weitreichender Bedeutung. Denn die Schlüsselgewalt ist ein zentrales theologisches Motiv. Unweigerlich denkt man an das berühmte Wort Jesu an Petrus aus dem Matthäusevangelium: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Matthäus 16,18f).

Die Wirkungsgeschichte dieses Wortes reicht weit; die Weihe- und Jurisdiktionsgewalt des Papstes wird auf dieses Wort gestützt, ja die Vorstellung von einem Weihesakrament insgesamt hängt mit ihm zusammen. Und auch andere Formen, das kirchliche Amt zu verstehen und zu gestalten, müssen sich an ihrem Verhältnis zu diesem neutestamentlichen Wort ausweisen. Auch wenn evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer als „verordnete Diener der christlichen Kirche“ die Vergebung der Sünden zusprechen, ist diese Schlüsselgewalt im Spiel. Zentrale Unterschiede zwischen den Konfessionen werden unter Berufung auf dieses Wort Jesu an Petrus geltend gemacht. Ohne dieses Wort, so kann man pointiert sagen, würde es wohl ein Konfessionskundliches Institut gar nicht geben.

Blickt man auf die konkrete Geschichte dieses Hauses, treten freilich andere Aspekte in den Vordergrund. Es war dem großen Engagement von Wolfgang Sucker zu verdanken, dass das Konfessionskundliche Institut 1947, vor gut sechzig Jahren, hier in dieser Villa gegründet wurde. Von Anfang an wurde von hier aus in evangelischer Perspektive ein wissenschaftlicher Blick auf die konfessionelle Landschaft gerichtet. Forschungsgegenstand waren und sind das Leben und die Lehre aller christlichen Konfessionen sowohl in historischer als auch in aktueller Perspektive. Als Ziel gilt eine evangelische Vergewisserung in ökumenischer Verantwortung und Verbundenheit. Es geht darum, „den Nächsten zu kennen wie sich selbst“, wie es das Motto des Instituts sagt. Das ist eine Aufgabe von unverminderter Aktualität; angesichts einer weiteren und neuen Etappe in der Geschichte dieses Instituts drängt sich die Frage geradezu auf, wovon ein evangelischer Blick auf die konfessionelle Landschaft sich bestimmen lässt.

II.

„Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Dieses paulinische Wort gehört zu den bewährten biblischen Grundformeln für eine evangelische Perspektive. Aber auch bewährte Formeln müssen immer wieder neu ausgelotet und auf den Prüfstand gestellt werden.

Dieser konzentrierte paulinische Satz führt uns in die Anfangstage der christlichen Gemeinde. Kein konfessioneller Streit, wohl aber eine heftige Auseinandersetzung unter den Mitarbeitern bildet den Hintergrund für die Aussage des Apostels. So heftig sind die Differenzen, dass der Gemeinde ein Zerbrechen in unterschiedliche Parteien droht. Paulus versucht nun, zwischen den verschiedenen Parteien in Korinth zu vermitteln. Das ist nicht einfach; denn offenbar ist er selbst ein Teil des Problems, das er lösen will; denn auch unter seinem Namen hat sich in Korinth eine Partei gebildet.  Trotzdem bemüht er sich darum, den Streit nicht weiter eskalieren zu lassen.

Zwei Perspektiven bringt er in dieser Situation zur Geltung: Zum einen verweist er auf den Grund, der die Gemeinde trägt. Wenn auch jeder sein eigenes Haus errichten mag, so stehen doch alle auf dem gleichen Grundstück, alle sind Mieter und Nutzer von Gottes Eigentum. Für diesen Grund ist niemandem der Schlüssel übergeben; keiner verfügt für ihn über eine ausschließliche Schlüsselgewalt. Es ist Gott allein, der auf diesem Boden Gedeihen und Wachsen schenkt. Diesem Boden hat Gott selbst eine eindeutige Kontur, ja einen Namen und ein Gesicht gegeben. Jesus Christus ist dieser Grund. Er hat sich für alle dahingegeben; aber niemand kann ihn als eigenen Besitz vereinnahmen. Denn keine Partei kann ein Eigentumsrecht an Jesus Christus für sich reklamieren.

Zum andern zieht Paulus eine klare Folgerung für den Dienst der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde. Weil es um diesen einen Grund geht, so unterstreicht er gegenüber den Korinthern, stehen die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu miteinander im Dienst der Sache Gottes. „Wir sind Gottes Mitarbeiter“ (V. 9). Es geht nicht darum, wer die stärkeren Bataillone hinter sich sammelt, oder von wem gesagt wird, er habe gar keine Bataillone. Denn Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sind nicht Mitarbeiter der einen oder der anderen Partei, sie sind Mitarbeiter Gottes.

III.

An beides zu erinnern – an den gemeinsamen Grund des Glaubens wie an die Gemeinschaft im Zeugnis des Glaubens – tut beim Beginn einer neuen Etappe in der Geschichte des Konfessionskundlichen Instituts gut. Denn die ökumenische Situation der Gegenwart stellt sich heute differenziert dar - komplexer noch als beispielsweise zu Zeiten der europäischen Spaltung.  Seit bald zwei Jahrzehnten verändert sich in unserem Land, in Europa und darüber hinaus das Bild.  Auch wenn in Deutschland die evangelischen Landeskirchen und die römisch-katholischen Kirche nach wie vor im Vordergrund stehen, so werden inzwischen doch auch der Reichtum der orthodoxen Traditionen und das Zeugnis der evangelischen Freikirchen intensiver wahrgenommen. Evangelikale Gemeinschaften, pentekostale Neubildungen und charismatische Bewegungen stellen neue Herausforderungen dar. Die Kirchen der Reformation werden durch sie vor die doppelte Frage gestellt, was sie von diesen Strömungen in sich selbst aufnehmen und integrieren können und worin angesichts solcher neuer Strömungen ihr eigenes und unverkennbares Profil besteht.

Dabei bleibt es die erste ökumenische Aufgabe, das Gemeinsame zwischen den christlichen Kirchen zu stärken. Die Wahrnehmung von Differenzen, die es offenkundig gibt, darf deshalb nicht von der Absicht geleitet sein, sich gegen den ökumenischen Partner und in Abgrenzung von ihm zu „profilieren“. Doch es wäre verkehrt, sich den Gründen zu verschließen, aus denen der Dialog über die jeweiligen Prägungen der unterschiedlichen Kirchenfamilien heute an Gewicht gewinnt. Aber es muss darum gehen, dass Gemeinsamkeit auch in der Differenz bewahrt und gelebt werden kann. „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Das Bekenntnis zu diesem Grund ist der Horizont, in dem wir heute nach der Einheit der Kirche fragen. Sie kann nur in der Treue zu dem einen Herrn Jesus Christus gefunden werden. Sie ist deshalb nicht einfach menschliches Werk oder Verdienst, sondern sie ist als Gabe des Heiligen Geistes allen vor- und aufgegeben, die sich zu Christus als ihrem Herrn bekennen: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (Epheser 4,5-6). Mit diesem Bekenntnis verbindet sich der Auftrag an die Kirchen, „in aller Demut und Sanftmut, in Geduld ... einer den anderen in Liebe“ zu ertragen und darauf bedacht zu sein, „zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ (Eph. 4,2-3). Ökumene heißt gerade heute, eine Einheit zu bewahren und zu erneuern, die im Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Herrn vorgegeben ist. Ökumene heißt, gemeinsam den Grund zu bezeugen, auf dem alle Kirchen ohne Unterschied stehen und aus dem heraus sie leben.

IV.

In den christlichen Kirchen verbindet uns mehr miteinander, als uns voneinander trennt. Die Ökumene lebt aus dem gemeinsamen Feiern, Singen und Beten. Sie existiert nicht allein in theologischen Lehrgesprächen. Doch genauso wenig ist sie ohne intensive theologische Arbeit lebensfähig. Wo es keine Vergewisserung des gemeinsamen Glaubensgrundes in der Gemeinschaft des Betens, des Singens, des Studierens der biblischen Texte, in der Feier von Andachten und Gottesdiensten gibt, fehlt ein Ziel – und es droht ein Absturz. Wer sich in gemeinsamer Spiritualität übt, der spürt das Bedürfnis, sich in die eigene Tradition genauso zu vertiefen wie in den spirituellen Schatz der anderen. An dieser Vergewisserung eines gemeinsamen Erbes zu arbeiten, halte ich für eine vorrangige Aufgabe auf der ökumenischen Agenda von heute.

Doch zu dieser Agenda gehört ebenso eine Kultur des wechselseitigen Respekts, die auch angesichts fortbestehender Unterschiede das Gemeinsame bezeugt. Jede christliche Kirche ist nur eine der Kirchen, in denen die eine Kirche Jesu Christi gegenwärtig ist. Eine Kirche, die sich durch einen Ausschließlichkeitsanspruch von den anderen Kirchen separiert, könnte nicht mehr ökumenisch genannt werden. Denn sie würde das Wissen darum, ein Glied am Leib Christi zu sein, preisgeben und sich dem Auftrag zum gemeinsamen Christusbekenntnis auf dem einen, bewohnten Erdkreis verweigern. Der Einheit in Vielfalt dient eine Kirche dadurch, dass sie ihre eigene Glaubenstradition vertieft wahrnimmt, ebenso wie dadurch, dass sie den Glaubenstraditionen anderer Kirchen begegnet und von ihnen lernt. „Den Nächsten kennen wie sich selbst“ ist hier ein gutes ökumenisches Leitwort.

Schließlich müssen wir auf die gemeinsame Verantwortung im Zeugnis und im Dienst in der Gesellschaft achten. Die Kirchen werden in ihrer missionarischen Präsenz wie in ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung in Deutschland gemeinsam wahrgenommen. Wenn die beiden großen Kirchen in Deutschland mit einer Stimme sprechen, können sie den Anliegen des christlichen Glaubens eher Gewicht verschaffen, als wenn sie getrennt agieren. Freilich kann es immer wieder gute Gründe dafür geben, bei bestimmten Themen aus der eigenen Position heraus zu sprechen. In Fragen der Bioethik erleben wir beispielsweise, wie sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Akzentsetzung auf bemerkenswerte Weise überschneiden. Aber viele aktuelle Herausforderungen machen ein gutes ökumenisches Miteinander besonders dringlich; Fragen der Migration oder des Klimawandels, aber auch die Debatte um den neu aufkommenden kämpferischen Atheismus sind Beispiele dafür.

V.

Wir müssen Ökumene heute unter der Voraussetzung gestalten, dass die beteiligten Kirchen nicht nur unterschiedliche Kirchenverständnisse sowie unterschiedliche Vorstellungen von Amt und Ordination, vom Verhältnis zwischen Schrift und Tradition oder von Frauen im geistlichen Amt haben, sondern dass sie unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, was „sichtbare Einheit“ bedeutet. Es wäre ja auch zu verwunderlich, wenn die verschiedenen theologischen Ansätze und die verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen sich nicht auch in unterschiedlichen Auffassungen von der Einheit der Kirche spiegelten. Doch diese Erkenntnis schmälert die Verpflichtung nicht, vom gemeinsamen Grund der Kirche Jesu Christi Zeugnis abzulegen und sich um die gemeinsame Wahrnehmung christlicher Verantwortung in der Welt von heute zu bemühen.

Das Konfessionskundliche Institut Bensheim leistet in dieser ökumenischen Arbeit einen fachkundigen und eigenständigen Beitrag. Der Einzug in der erneuerte alte Heimat  dieses deutschlandweiten Kompetenzzentrums für Ökumene steht für die bleibende Bedeutung der ihm gestellten Aufgabe. Es spielt für uns in der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Schlüsselrolle. Dem Institut und allen Mitarbeitenden wünsche ich Gottes Segen und eine klare Orientierung: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Amen.