Predigt im Gottesdienst am Sonntag Estomihi im Berliner Dom (Jesaja 58,1-9a)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Immer wieder diese Erfahrung: Etwas ist klar und doch nicht vorhanden. Oder etwas ist irreal und doch höchst gegenwärtig. Du schaust durch etwas hindurch und es ist doch spürbar wie das Wasser eines sauberen Sees. Du siehst auf die Ereignisse wie der Regisseur Deines eigenen Traums.

Vor Dir siehst Du die kunstvoll gestalteten Buchstaben aus der Schriftrolle des Propheten Jesaja. Deine Augen folgen dem Verlauf der Worte. Linie für Linie haben sie sich in das Pergament eingeprägt. In den Buchstaben sind Menschenschicksale aufbewahrt. Die Buchstaben scheinen sich zu bewegen, weil Du Menschen in Bewegung siehst.  Und plötzlich bist Du mitten unter ihnen. Du schaust in die Gesichter der einzelnen Personen, du hörst, was sie erzählen; Du siehst die Spuren, die das Schicksal in ihr Gesicht gezeichnet hast, und kannst die Sehnsucht in ihren Augen erkennen: die Sehnsucht nach Liebe und Glück, nach Frieden und Gerechtigkeit.

Auf den Straßen Jerusalems bewegst Du Dich bei den Menschen, deren Schicksal die Schriftrolle aufbewahrt. Erst vor kurzem sind sie aus Babylon zurückgekehrt, wo sie zwei Menschenalter lang in Gefangenschaft gewesen waren. Nun liegt es bald zwanzig Jahre zurück, dass der Perserkönig Kyros die Barrieren aufhob und die Grenzen öffnete. Euphorisch brachen sie damals aus der Verbannung auf, um hinauf nach Jerusalem zu ziehen. Wie im Rausch hatten sie getanzt und die Zukunft herbeigejubelt. In ihrem eigenen kleinen Schicksal hatten sie ein Abbild für die Erneuerung der gesamten Schöpfung erkannt; kühn hatten sie vom Ende der Geschichte gesprochen; sie sahen sich selbst barfuß durch ehemalige Todesstreifen laufen. Gott war auf ihrer Seite, spürbar griff er in ihr Leben ein: ein neuer Auszug, wie damals aus Ägypten, hinauf nach Jerusalem.

Zwanzig Jahre liegt das nun zurück. Wie Du ihnen zuhörst, kannst Du sie verstehen. Denn Du hast Vergleichbares erlebt. Auch vor kaum zwanzig Jahren. Das waren die Tage der großen Freiheit, unvergesslich. Nun sei der Frieden endgültig eingekehrt, träumtest Du. Vom Ende der Geschichte sprach man auch. Umso aufmerksamer schaust Du auf die Spuren, die das Schicksal in ihr Gesicht gezeichnet hat, und in ihren Augen erkennst Du: Die Sehnsucht ist noch nicht gestillt.

Zwanzig Jahre. Sicher, sie leben in Freiheit. Jerusalem ist zu guten Teilen wieder aufgebaut. Es gibt nur noch vereinzelt Disteln und Dornen. Aber der Weg war schwerer als erwartet. Die Mühen der Ebene zogen sich in die Länge. Ganz ehrlich: sie hatten das unterschätzt. Sie vergaßen regelmäßig, was ihnen bereits gelungen war, und neue Wolken tauchten am Himmel auf. Das Leben in Jerusalem hat etwas Fragmentarisches, auch nach zwanzig Jahren. Auch das kennst Du aus eigener Erfahrung nur zu gut.

Aus den Lebenswegen der Jerusalemer, aus ihren Hoffnungsbögen und Lebenslinien werden mit Sorgfalt Schriftzeichen aufs Pergament gebracht – Schriftzeichen, die uns heute als Predigttext entgegentreten. Hören wir auf die Worte aus dem 58. Kapitel des Jesajabuches:

Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volke seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen; als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe. "Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst es nicht wissen?" Siehe, an dem Tag, an dem ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr es jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!  Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen; und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der Herr wird antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich!

Das Jesajabuch redet von der einen großen Sehnsucht. Es spricht von der Sehnsucht nach einer Begegnung mit Gott. Diese Sehnsucht ist noch ungestillt. Die Jerusalemer suchen Gott täglich; sie wollen die Wege Gottes verstehen. Aber zugleich gehen sie ihren eigenen Weg, plagen sich ab mit der täglichen Mühe, richten sich ein im täglichen Trott.

Den Berlinern geht es nicht anders. Sie würden ja, wenn’s etwas bringt und nicht zu lange dauert, ja dann würden sie auf Gottes Rat hören. Denn auch bei einem Leben im Berliner Tempo, geprägt von Arbeit, gestalteter Freizeit und vielen Möglichkeiten, bleibt ja die bedrängende Frage, inwieweit sich mein Lebensentwurf verwirklichen lässt. Und ob von allem, womit ich meine Tage zubringe, etwas bleibt. Es muss ja nicht gleich die Begegnung mit Gott sein. Aber doch – etwas, das bleibt. Was bleibt, wenn Krankheit in Deinen engsten Lebenskreis einbricht? Was bleibt von dem beruflichen Erfolg, der eindeutig auf Kosten eines Kollegen ging? Was bleibt, wenn wieder einmal der Geduldsfaden riss? Was bleibt?

Vielleicht ist es doch besser, nach der Begegnung mit Gott zu fragen. Vielleicht bekommt es unserem Leben nicht, wenn wir Gott aus ihm verdrängen. Wir verlieren die Proportionen. So wie in unserem Land – in dem man uns plötzlich mit zwei Arten von Armut konfrontiert. Die einen sind arm, weil sie mit dem Essen nicht aufhören können, die anderen, weil sie nichts zu essen haben. Eine Gesellschaft, in der es einerseits zu viel Dicke und andererseits zu viel Hungrige gibt. Ein Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung an Übergewicht leidet und in dem zugleich die Suppenküchen Hochkonjunktur haben. Da brauchen wir einen Ruf, der uns wachrüttelt. Wir brauchen wieder den Sinn für Proportion, eine Vorstellung von Maß und Gerechtigkeit.

Gott legt seinem Propheten durchdringende Worte in den Mund. Sie haben etwas vom Ruf einer Posaune. Hat der Prophet nicht Recht, wenn er meine Vorstellungen als viel zu selbstbezogen kritisiert? Was nützt mir die großzügig geschnittene Eigentumswohnung, wenn niemand zu Besuch kommt und ich in meinem Leben nicht heimisch werde? Was hast du von deinem neuen Auto, wenn du weiterhin so stur und unbeweglich bleibst? Spürst du, dass dein Leben ohne die anderen eisig wird?

Aber in den hämmernden Fragen erklingt auch ein anderer Ton. Dem Kältestrom der Kritik folgt ein Wärmestrom der Einladung: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!  Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

Das geht über alles hinaus, was ich bisher getan habe. Aber unmöglich ist es nicht. Der Blick auf Menschen, die zu Unrecht in Gefangenschaft gehalten werden, ist möglich. Für sie einzutreten, wie Amnesty International das seit Jahrzehnten tut, ist nicht sinnlos. Bedrückung aber gibt es auch im eigenen Alltag. Warum sucht sich der Ehemann in der Nachbarschaft nicht endlich Hilfe, um die Unbeherrschtheit zu zähmen, mit der er seine Frau immer wieder anschreit? Muss ich den Mut aufbringen, es ihm zu sagen? Warum verliert die Kollegin im übernächsten Büro allen Glanz aus den Augen? Fühlt sie sich bedrückt durch Missachtung und Unverständnis? Bin ich es, der das Joch von ihrer Schulter nehmen muss? Hungrig, ohne Obdach und nackt – in den Notunterkünften unserer Stadt weiß man, wie oft es das gibt. Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Dreiundvierzig Ausgabestellen der Aktion „Laib und Seele“ mit sechshundert ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern versorgen inzwischen in Berlin wöchentlich 40.000 Menschen mit Lebensmitteln. Brich dem Hungrigen Dein Brot. Ein Anfang ist gemacht. Es gibt Bundesgenossen bei dem Versuch, für Menschlichkeit und Maß einzutreten. Denn das bleibt.

Am kommenden Mittwoch ist Aschermittwoch. Wir treten in die Passionszeit ein. Bis zum Ostersonntag wird sie dauern. Noch drei Tage Zeit um zu überlegen, welche Fastenaktion in diesem Jahr die eigene sein soll. „Sieben Wochen ohne Geiz“ schlägt die Fastenaktion unserer evangelischen Kirche vor. Kein schlechtes Motto. Was der Prophet vorschlägt, ist auch eine Alternative zum Geiz: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

Es ist eine alte Tradition, sich zum Beginn der Fastenzeit ein Aschekreuz auf die Stirn zeichnen zu lassen. Die Finger eines anderen Menschen werden das Aschekreuz auf meine Stirn auftragen. Er wird mich anschauen und zu mir sagen: Kehr um und glaub an das Evangelium. Im Gespräch mit anderen will ich in diesen vierzig Tagen herausfinden, worauf es wirklich ankommt. Und am Ende, am Auferstehungsmorgen werde ich die anderen hören, wie sie singen: Christus ist auferstanden; er ist wahrhaftig auferstanden. Und dann will ich einstimmen.

Das Wort des lebendigen Gottes sucht uns. Denn in uns muss brennen, was in anderen Funken schlagen soll. Gemeinsam suchen wir Gewissheit darüber, wozu das Fragment unseres Lebens gut ist. Wir können die Erfahrung machen, dass Buchstaben lebendig werden, dass wir bei der Suche nicht einfach auf uns selbst stoßen, sondern Gott begegnen.

Unsere Umkehr, unser Mentalitätswechsel, unser Ankommen bei Gott wird ein Leben lang nicht zu Ende sein. Aber auf Gottes Wort zu hören, heißt, auf dem Weg der Begegnung mit Gott zu bleiben – und zwar nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen. Diesen Weg können wir gehen, weil er unter Gottes Segen steht: Du wirst rufen und Gott wird antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich!

Amen.