Predigt am Sonntag Laetare in der St. Marienkirche zu Berlin (Jesaja 54, 7-10)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

1.

Dieser Sonntag, ich will es frei bekennen, ist mir unter den zweiundfünfzig Sonntagen des Kirchenjahrs besonders lieb. Und wenn er in ein Schaltjahr fällt und so unmittelbar auf den Schalttag folgt, auf den 29. Februar, den es nur alle vier Jahre gibt, wird seine Besonderheit noch zusätzlich herausgestrichen. Laetare: Freut euch – so werden wir aufgefordert, mitten in der Passionszeit. Wir feiern mit diesem Sonntag Laetare ein kleines Ostern mitten in der Erinnerung an Jesu Passion. Wir werden daran erinnert, was es mit jedem Sonntag auch in der Leidenszeit Jesu auf sich hat. Denn auch in der Passionszeit bleibt ja der Sonntag der Tag der Auferstehung Jesu Christi, der Tag der Überwindung des Todes. Aber an diesem Sonntag wird das besonders hervorgehoben: ein kleines Ostern mitten in der Zeit der Passion. Laetare: Freut euch!

Ein solches Ostern mitten in der Passionszeit habe ich mit meiner Frau nun über mehrere Tage erlebt. Ein Urlaub liegt hinter uns. Die diesjährige Losung für die Aktion „Sieben Wochen ohne“ haben wir ganz wörtlich genommen: „Sieben Wochen ohne Geiz“. Wir waren nicht geizig mit unserer Zeit und fanden wieder zu einem gemeinsamen Rhythmus. Wir waren nicht geizig mit dem Geld und haben uns Urlaubstage in den Bergen gegönnt. Wir waren nicht geizig mit einem guten Wort und haben manchen fröhlichen Blick als Antwort gefunden. Laetare: Freut euch. Ich kann das an diesem Tag gut nachvollziehen.

2.

„Freut euch mit Jerusalem!“ Das ist der ursprüngliche Zusammenhang, aus dem der Name dieses Sonntags stammt. Von einer angefochtenen Freude ist da die Rede. Denn in Jerusalem war das Jubeln nie leicht, nahezu seit es die Stadt gibt. Wenn wir heute wahrnehmen, wie umstritten diese Stadt ist, von Grenzlinien durchzogen, von Schutzwällen umgeben, von Mauern geteilt, dann tritt uns der Zwiespalt einer Jahrtausende alten Konfliktgeschichte entgegen. Und doch wurde diese Stadt zum Ort der Gottesbegegnung wie keine andere. Dass Gott rettend eingreift, wurde den Menschen jedes Mal wieder bewusst, wenn diese Stadt buchstäblich aus dem Tod auferstand. Dass Gott sich uns rettend zuwendet, ist uns Christen bewusst, weil Jerusalem der Ort des Todes wie der Auferweckung Jesu ist. Kein Wunder, dass das himmlische Jerusalem zum Symbol für den neuen Himmel und die neue Erde wird, die der Menschheit und der Welt am Ende der Zeit bevorstehen. Dieser große Horizont wird lebendig, wenn wir in die Freude dieses Sonntags hineingenommen werden: „Freut euch mit Jerusalem!“

Unsere Freude als Christen hat eine Vorgeschichte. Sie verbindet uns mit dem Geschick des Volkes Israel, dem Jesus entstammte. In dieses Geschick führt uns auch der Predigttext für den heutigen Sonntag hinein. Wir haben ihn als alttestamentliche Schriftlesung gehört. Aber wir rufen ihn uns noch einmal ins Gedächtnis, eines der dichtesten biblischen Heilsworte, einem Propheten in den Mund gelegt, der in der Tradition des großen Jesaja stand:

„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer."

3.

Ein kühnes Bild wird uns vor Augen gestellt. Als dramatische Liebesgeschichte wird hier das Verhältnis zwischen dem Volk Israel und seinem Gott geschildert. Die Beziehung zwischen Israel und Gott hat den Zauber einer großen Jugendliebe, jener ersten Liebe, von der man sagt, keine spätere sei mit ihr zu vergleichen. Golden nennen die Dichter die Zeit der ersten Liebe. „Das Auge sieht den Himmel offen, es schwelgt das Herz in Seligkeit.“

Aber diese erste Liebe ist auseinander gegangen. Gott hat sich von seiner Geliebten entfernt, hat ihr den Rücken gekehrt. Umstände herrschen, die ganz und gar nicht als golden bezeichnet werden können. „An den Bächen Babylons saßen wir und weinten“: Das ist die Stimmung derer, denen die prophetische Botschaft gilt. Die Angehörigen der Oberschicht Jerusalems, ins Exil nach Babylon verbannt, fühlen sich von Gott verlassen. Von der Heimat, vom Leben, von der Liebe sind sie abgeschnitten. Als verstoßen kommt diese Gruppe sich vor; die erste Liebe, an der ihr Leben hing, scheint zu Ende. Nichts Traurigeres gibt es, als wenn eine erste Liebe zerbricht. Die Lehrer des Volkes Israel notieren deshalb schon in früher Zeit: Wenn jemand seine erste Frau verstößt, dann vergießt sogar der Altar im Tempel Tränen über ihn.

Das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk ist durch eine tiefe Krise gegangen. Aber es ist nicht endgültig zerstört. So wie ein Mann sich aus Enttäuschung über seine Geliebte für kurze Zeit von ihr abgewandt hat, aber doch von der Sehnsucht nach ihr nicht lassen kann, so wie er ihre Trauer wahrnimmt und zu ihr zurückkehrt, so wendet sich auch Gott seinem Volk, seiner Jugendgefährtin wieder zu. Das Volk Israel ist und bleibt Gottes erste Liebe. Die Schuld, die sich zwischen Gott und sein Volk geschoben hat, behält nicht das letzte Wort. Denn Gottes bleibende Treue ist größer. Das hören die Verbannten in Babylon und schöpfen wieder Hoffnung.

Wodurch geschieht eigentlich die dramatische Wende, wodurch findet die Einsamkeit Israels ein Ende? Es geschieht durch eine Wendung Gottes, die als „mütterliches Erbarmen“ bezeichnet wird. Ein hebräischer Ausdruck wird hier verwendet, der dem Wort für den Mutterschoß nachgebildet ist. Gott wird eine Eigenschaft zugesprochen, die sonst am ehesten bei Müttern, bei liebenden Frauen erhofft wird: bergendes Erbarmen. Gott wird eine Kraft zugetraut, die Menschen aus der tiefsten Einsamkeit und Depression befreien kann. Denn Gott legt mich nicht auf meine Schwächen und Lücken fest. Er nimmt mich mit meinen Grenzen an. Dieses Erbarmen allein eröffnet Zukunft.

Für dieses Erbarmen wird eine der stärksten Begründungen aufgeboten, die sich denken lässt. An das Ende der Sintflut wird erinnert. Dass Gottes Erbarmen zu seinem Volk zurückkehrt, ist so verlässlich wie die Zusage, die sich am Ende der Sintflut mit dem Zeichen des Regenbogens verbindet: „So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Was ist ein kleiner Augenblick – verglichen mit einer solchen Zusage? Was ist ein Orkan „Emma“ gerade gestern oder, noch weit gewaltiger, „Kyrill“ vor einem Jahr – verglichen mit dem Ebenmaß von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht? Oder gibt es eine Grenze menschlichen Mutwillens, jenseits deren selbst die große Barmherzigkeit Gottes ins Wanken gerät? Wenn wir den von Menschen verursachten Klimawandel beobachten, begleitet uns diese Frage. Nur zögernd lassen wir sie zu; aber wir dürfen ihr nicht ausweichen. Noch ist es nicht zu spät. Aber eines nicht zu fernen Tages könnte es zu spät sein.

4.

Nirgendwo in der ganzen hebräischen Bibel ist eindringlicher als hier bezeugt, dass Gott sein Erbarmen dem Volk Israel ohne jede Vorbedingung zuwendet. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Viele von uns erreicht dieses Wort aus nächster Nähe. Es wurde uns zugesprochen am Anfang oder in der Mitte unseres Lebens, wir haben es bei den Höhepunkten des Lebens gehört und an seinen Grenzen, im Angesicht des Todes:

„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Für viele von uns steckt die Gewissheit in diesen Worten: Komme, was da wolle, Gott steht auf meiner Seite. Aber auch die anderen sind unter uns, denen der Einwand im Herzen nagt: Das kann ich nicht nachsprechen, an meinem Leben kann man das nicht ablesen, zu groß sind die Rätsel, die Enttäuschungen, die Qualen, die zu meinem Leben gehören. Zu vieles gibt es, woran Gottes Erbarmen gerade nicht zu erkennen ist. Wie soll ich daran glauben, da Gott sich doch verbirgt?

Meine Gnade soll nicht von dir weichen - gilt diese Zusage auch uns? Ja, sie gilt auch uns. Nicht, weil sie am Gang unseres Lebens einfach aufzuweisen wäre; die Ratlosigkeiten werden nicht weggewischt. Auch nicht, weil wir sie dem Volk Israel wegnehmen könnten, dem sie ursprünglich zugesprochen wurde. Wir halten uns an diese Zusage, weil Jesus uns in sie hinein nimmt. Der Jude Jesus öffnet uns den Zugang zu dieser Verheißung. Auch wir haben teil an der liebevollen Zusage Gottes, die alle Angst vertreibt. Deshalb, nur deshalb ist es richtig, wenn wir Gottes liebevolle Zusage auch für uns gelten lassen.

5.

Aber auch das andere ist wahr: Immer wieder muss unser Glaube mit dem Anfang anfangen. Nicht immer gelingt es uns, in Gottes Zorn nichts anderes zu sehen als das Brennende seiner Liebe, wie der Theologe Karl Barth einmal gesagt hat. Was nützt mir die „große Barmherzigkeit“, wenn jetzt gerade der „kleine Augenblick“ der Gottesferne ist? Woher soll ich wissen, wie lange er dauert? In diesen Wochen sind es immer wieder Krankheiten im Kreis von Freunden und Verwandten, die auch mich selbst ratlos machen: der Schlaganfall einer Freundin, die über Jahrzehnte so bewusst und verantwortungsvoll gelebt hat, der Brustkrebs bei einer anderen, die schon an der Krankheit der Großmutter und der Mutter hatte kommen sehen, was auch ihr selbst bevorstehen könne. „Ein kleiner Augenblick“?

Doch gerade an solchen Beispielen erlebe ich auch das Wunder der großen Barmherzigkeit. Sie zeigt sich in der Art und Weise, in der Menschen zusammenstehen, in der der Stärkere dem Schwächeren beisteht. „Ich bin krank gewesen und du hast mich besucht“. Dieser Satz aus Jesu Predigt vom Weltgericht findet ein vielfältiges Echo in der Art, in der Menschen einander beistehen. Ich finde die Aussage, unsere Welt sei hart und herzlos geworden, nicht bestätigt. Ich erlebe an vielen Beispielen, wie Menschen einander beistehen und füreinander sorgen. Diese Beispiele großer Barmherzigkeit machen Mut. Daraus erwächst eine Kraft, die dankbar staunen lässt. Diese Beispiele helfen mir, immer wieder mit dem Anfang anzufangen. Laetare: Freut euch mit Jerusalem!

Amen.